Transkript
Schwerpunkt
Wie wichtig sind Guidelines in der Praxis?
Interview mit Dr. med. Marc Sidler
PÄDIATRIE: Herr Dr. Sidler, für welche Erkrankungen sind Guidelines für Praxispädiater besonders wichtig? Dr. med. Marc Sidler: Grundsätzlich sind Guidelines für häufige Erkrankungen, so wie wir sie tagtäglich in unserer Praxis antreffen, wichtig und hilfreich. Als konkretes Beispiel möchte ich an dieser Stelle die Behandlung bei Streptokokken-A-Tonsillopharyngitis nennen. Das ist eine wichtige Leitlinie, die im September 2019 publiziert wurde.
ein paar Jahren vielleicht noch mit einem Antibiotikum behandelt hätte. Ein weiteres Beispiel ist die Leitlinie zur Stufentherapie bei Asthma. Auch das ist eine wichtige Guideline, die ich in der Praxis anwende. Und auch hier hilft es mir, beispielsweise eine Ausweitung der Therapie gegenüber den Eltern zu begründen, indem ich auf die offizielle Leitlinie verweisen kann. Natürlich beruht ein Therapieentscheid immer auch auf Erfahrung, aber es ist doch hilfreich, wenn man sich auf eine Guideline abstützen kann.
Dr. med. Marc Sidler Präsident Kinderärzte Schweiz, Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte in der Praxis
Was macht die Umsetzung von Guidelines in der Praxis schwierig, was einfacher? Sidler: Zum einen erschweren allzu komplizierte Algorithmen die Umsetzung. Zum anderen wird es schwierig, wenn in den Guidelines keine eindeutigen, messbaren Kriterien definiert sind. Das können zum Beispiel ganz
bestimmte Symptome und Befunde sein oder auch Scores
auf der Basis eindeutiger Kriterien, die durch Laborbe-
funde noch erhärtet werden können. Man sollte ganz
klar sagen können, ob ein Befund negativ oder positiv ist.
Das ist aber nicht immer möglich, denn in der Medizin
gibt es viele Graubereiche.
Was ist zum Bei-
Leitlinien sind für uns in der
spiel «ein geröte-
Praxis ein wichtiges Instrument, tes Trommelfell»
wenn sie klar formuliert sind
bei Otitis media?
und Antworten auf häufige
Wenn man den Be-
Fragen geben.
fund zehn Kolle-
ginnen und Kolle-
gen zeigt, wird man unterschiedliche Meinungen hören:
Für den einen erscheint das Trommelfell nur ein bisschen
gereizt, für den anderen hingegen tiefrot und entzündet
mit Erguss im Mittelohr. Letztlich hängt die Interpretation
des Befunds dann sehr stark von der Erfahrung des Un-
tersuchers ab – und genau dann wird es schwierig. Eine
Guideline kann die Erfahrung nicht vollständig ersetzen.
Auch wenn Guidelines wichtig sind, soll der Kinderarzt
nach wie vor noch einen gewissen Interpretationsspiel-
raum haben. Sonst verkommt die Medizin zu einer Pseu-
dowissenschaft, von der am Ende manche glauben könn-
ten, alles würde einfach nur nach Kochbuch laufen.
Wie sehr beeinflussen Guidelines Ihre Entscheidungen in der Praxis? Sidler: Das kommt darauf an. Ich versuche zum Beispiel, die neue Guideline zur Streptokokken-A-Tonsillopharyngitis in der Praxis umzusetzen. Als offizielle Leitlinie einer medizinischen Fachgesellschaft hilft mir diese Guideline auch, einen Verzicht auf Antibiotika gegenüber den Eltern zu begründen, obwohl man den Patienten noch vor
Welche Rolle spielt das Befolgen oder Nichtbefolgen von Guidelines bei der Abrechnung von Leistungen mit den Krankenkassen und der IV? Sidler: Im Rahmen der obligatorischen Krankenversicherung ist es mir noch nie passiert, dass eine Leistung von den Krankenkassen verweigert worden wäre, weil ich zum Beispiel einen Asthmapatienten nicht leitlinienkonform behandelt hätte. So etwas ist mir auch von Kolleginnen und Kollegen nicht bekannt. Anders sieht es bei der IV aus. Ein gutes Beispiel dafür ist die Zöliakie, die in der Schweiz als Geburtsgebrechen gilt, sodass die IV die Kosten für medizinische Massnahmen übernimmt, wenn die entsprechenden Kriterien erfüllt sind. Hier ist es in der Tat so, dass die Kostengutsprache durch die IV verweigert wird, wenn man sich nicht an die aktuellen Leitlinien hält, die von der europäischen Gesellschaft für pädiatrische Gastroenterologie publiziert wurden, übrigens gerade wieder neu Anfang 2020.
Was ist Ihnen in Bezug auf Guidelines besonders wichtig? Sidler: Leitlinien sind für uns in der Praxis ein wichtiges Instrument, wenn sie klar formuliert sind und Antworten auf häufige Fragen geben. Man muss es dem Pädiater aber trotzdem noch überlassen, wie eng er sich – im Rahmen seiner Erfahrung – an die Leitlinien hält. Die tägliche Arbeit einer Kinderärztin darf nicht nur auf Leitlinien heruntergebrochen werden, und die Medizin darf nicht zu einer Schwarz-Weiss-Wissenschaft verkommen. Natürlich müssen Leitlinien logischerweise auf die evidenzbasierte Medizin setzen. Aber vieles, was heute als evidenzbasiert gilt, ist es in ein paar Jahren vielleicht nicht mehr. Ich glaube, dass in der Medizin nicht nur das zählt, was evidenzbasiert ist, und das macht letztlich die Vielseitigkeit unseres Berufs aus.
Herr Dr. Sidler, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Dr. Renate Bonifer.
2 Pädiatrie 4/20