Transkript
Orale Toleranzinduktion bei Nahrungsmittelallergien
Allergologie
Die orale Immuntherapie (OIT) zur Induktion einer oralen Toleranz ist eine aufwendige, aber wirksame Option bei Nahrungsmittelallergien. An einem Workshop an der PaedArt in Basel ging es um die Indikation und die praktische Durchführung der OIT. Bei der Prävention von Nahrungsmittelallergien ist sowohl die frühe Einführung von Lebensmitteln als auch die Vermeidung und Linderung einer atopischen Dermatitis wichtig.
Die atopische Dermatitis sei «ein Türöffner» für Allergien, sagte die Pädiaterin und Allergologin Dr. med. Felicitas Bellutti Enders an ihrem Workshop an der PaedArt in Basel. Man nimmt an, dass das Risiko IgE-vermittelter Lebensmittelallergien bei atopischer Dermatitis erhöht ist, weil potenzielle Nahrungsmittelallergene über die geschädigte Haut mit dem Immunsystem in Kontakt kommen können und damit eine in Richtung Allergie führende Immunantwort auslösen, eine sogenannte Th2-Antwort. Findet der Kontakt mit dem potenziellen Nahrungsmittelantigen hingegen über den Darm statt, führt das eher zur Entwicklung einer Toleranz (Th1-Antwort). «Alles, was zu Hause gegessen wird, soll man auch dem Kind im ersten Lebensjahr geben, denn diese Proteine sind im Haushalt vorhanden und können das Kind sensibilisieren», sagte Bellutti Enders. Die potenziellen Allergene sollten in einer dem Alter des Kindes entsprechenden Form verabreicht werden, wie zum Beispiel gemahlene Nüsse, Mus oder Butter. Beginnen sollte man damit, sobald die Kinder Brei essen. Ziel dieser Strategie ist es, den Organismus über den Darm möglichst früh in Kontakt mit vielen potenziellen Nahrungsmittelallergenen zu bringen, um die Entwicklung einer Toleranz zu fördern. Doch wie sieht das bei Kindern mit einem hohen Allergierisiko aus, die zum Beispiel bereits eine atopische Dermatitis haben oder deren Eltern Allergiker sind? Sollte man auch ihnen so früh wie möglich neue Nahrungsmittel geben? Eine definitive Antwort auf diese Frage gebe es nicht, sagte Bellutti Enders. Ideal wäre es, bei solchen Kindern abzuklären, ob sie bereits gegen bestimmte Nahrungsmittelbestandteile sensibilisiert sind.
men eine Auslassdiät nur aufgrund des IgE-Befunds verordnet werden», betonte Bellutti Enders. In der Praxis komme das leider häufig vor, wenn IgE-Messungen nicht durch einen erfahrenen Kinderallergologen interpretiert werden und ihre Relevanz nicht in einem Provokationstest überprüft wird. Auch die Höhe des IgE-Spiegels oder der spezifische IgE-Antikörpertiter sagt nichts darüber aus, ob bei einer Exposition mit einer leichten oder einer schweren allergischen Reaktion zu rechnen ist – oder ob diese ausbleiben wird.
Atopische Dermatitis als Risikofaktor für Nahrungsmittelallergien
Etwa 6 bis 8 Prozent aller Kinder haben eine Lebensmittelallergie, bei Kindern mit atopischer Dermatitis (AD) sind es bis zu 30 Prozent. Das Risiko steigt mit der Dauer und dem Schweregrad der AD.
Bereits nach einem Monat mit Die atopische Dermatitis AD sei das Risiko im Durchschnitt ist «ein Türöffner» für 1½-fach höher als ohne AD, be- Nahrungsmittelallergien.
richtete die Referentin. Durch frühes, sorgfältiges Eincremen der Haut könne man hingegen das Risiko für Nahrungsmittelallergien bei Hochrisikopatienten um zirka die Hälfte vermindern. Standardisierte Empfehlungen gibt es hierzu jedoch nicht. Die sorgfältige Basispflege mit Emollenzien geht auch bei manifester AD weiter, zusätzlich werden dann intermit-
Tabelle
Vergleich von OIT, SLIT und EPIT zur Behandlung bei Nahrungsmittelallergie
Sensibilisierung ≠ Allergie
Kinder mit atopischer Dermatitis haben häufig spezifische IgE-Antikörper gegen verschiedene Lebensmittel, reagieren aber nicht unbedingt mit allergischen Symptomen, falls sie diese Lebensmittel essen. Man spricht in diesem Fall von einer latenten Sensibilisierung, und die erste Exposition sollte bei ihnen unter kontrollierten Bedingungen erfolgen, das heisst in einem oralen Provokationstest. «Auf keinen Fall darf bei fehlenden Sympto-
OIT: orale Immuntherapie
SLIT: sublinguale Immuntherapie
EPIT: epikutane Immuntherapie
Wirksamkeit +++ ++ +
Sicherheit + +++ ++
Praktikabilität + ++ +++
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tierend angewandte topische Kortikosteroide oder Calcineurininhibitoren empfohlen; Letztere gelten als Firstline-Empfehlung zur Anwendung im Gesicht, am Genital und in den Intertrigines.
So läuft die OIT ab
Die OIT verläuft in zwei Phasen, einer Aufbau- und einer
Erhaltungsphase. Die Dauer der Phasen ist individuell
sehr unterschiedlich. Man ermittelt zu Beginn die noch
tolerierte Dosis, die dann täglich konsumiert wird, um
eine Toleranz zu induzieren. Alle zwei bis vier Wochen
wird die Dosis unter Überwachung eines Kinderallergo-
logen erhöht. Sobald die Höchstdosis erreicht ist, folgt
die Erhaltungsphase, in der das Allergen noch mindes-
tens dreimal pro Woche konsumiert werden muss.
Man weiss nicht, wie lange die Erhal-
Eine OIT sollte nur
tungsphase dauern muss, um eine an-
sorgfältig ausgewählten haltende Toleranz gegenüber der er-
Patienten angeboten
reichten Allergendosis (sustained
werden.
responsiveness) zu bewirken, die auch
nach einer längeren Expositionspause
anhält. Zurzeit würden die meisten Allergologen empfeh-
len, das Allergen auch nach der Erhaltungsphase weiter-
hin regelmässig zu verzehren, so Bellutti Enders.
Ziele, Erfolgsaussichten und Sicherheit
Mit einer OIT wird zunächst eine Desensibilisierung, das heisst eine temporäre Absenkung der Überreaktion auf das Nahrungsmittelallergen während der Therapie induziert. Letztlich will man eine anhaltende Toleranz erreichen, die auch nach einer längeren Expositionspause mit dem Nahrungsmittelallergen weiterhin besteht. Ziel einer OIT ist es, das Risiko eines allergischen Schocks im Alltag zu senken, wenn das Allergen versehentlich konsumiert wird. Eine Erhöhung der Schwelle für Erdnussprotein von 100 auf 300 mg führe bereits zu einer Reduktion des Unfallrisikos um 95 Prozent, sagte Bellutti Enders. OIT-Studien liegen vor allem für die Allergene Erdnuss, Milch und Ei vor, einige wenige auch mit Weizen. Demnach ist die OIT bei zirka 20 Prozent der Patienten nicht erfolgreich. Rund 80 Prozent der Patienten erreichen das Stadium der Desensibilisierung und 30 bis 50 Prozent die gewünschte anhaltende Toleranz gegenüber ihrer individuellen Allergendosis. Die Dauer der Erhaltungsphasen lag in den Studien zwischen 4 und 70 Monaten. Je länger die Therapie dauert, umso besser ist die Chance auf anhaltende Toleranz. Patienten mit geringen IgE-Werten, einer eher kleinen Reaktion bei Hauttests sowie einer hohen Reaktionsschwelle zu Beginn und leichten Formen der allergischen Reaktion haben generell bessere Erfolgsaussichten. Bis zu 80 Prozent der Studienteilnehmer hatten während der OIT mindestens eine Nebenwirkung. Am häufigsten waren meist milde Bauchschmerzen und enoraler Pruritus, vor allem während der Aufbauphase. Bauchschmerzen waren der häufigste Grund für einen Abbruch der Studienteilnahme. Patienten, die zusätzlich unter Asthma und saisonaler Rhinokonjunktivitis litten, hatten mehr Nebenwirkungen während der Pollensaison, sodass bei ihnen in dieser Zeit keine Dosissteigerungen in der Aufbauphase erfolgte. Adrenalininjektionen waren bei 10 bis 20 Prozent der Studienprobanden notwendig, bei weniger als 1 Prozent
der eingenommenen, meist höheren Allergendosen. In der Studie für die kürzlich erfolgte Zulassung des ersten OIT-Präparats in den USA (Erdnuss: Palforzia®) brauchten 10 Prozent der Patienten Adrenalin in der Aufbauphase und 8 Prozent während der Erhaltungsphase. Unter einer OIT besteht ein erhöhtes Risiko für eosinophile Ösophagitis (2,7%).
Hoher Aufwand für alle Beteiligten
Eine OIT sollte nur sorgfältig ausgewählten Patienten angeboten werden. Die European Academy of Allergy and Clinical Immunology (EAACI) empfiehlt eine OIT nur bei persistierenden IgE-vermittelten Allergien auf Milch, Ei oder Erdnuss bei Kindern über 4 Jahre. Diese Altersgrenze ist sinnvoll, weil viele Lebensmittelallergien im Säuglings- und Kleinkindalter mit der Zeit von selbst verschwinden. Eine OIT sollte nur in einem Zentrum mit entsprechender Erfahrung durchgeführt werden. Die Patienten und ihre Familien müssen hoch motiviert, compliant und mit dem Gebrauch des Notfallsets vertraut sein. Das Notfallset muss immer bereitliegen, und der behandelnde Allergologe muss stets erreichbar sein. Während der OIT muss man die Auslassdiät für das entsprechende Antigen beibehalten. Die Allergenportion muss wirklich jeden Tag eingenommen werden. Sobald die Einnahme für 4 Tage in Folge unterbrochen wurde, müssen die Kinder erneut zum Allergologen, um die erste Dosis nach der Unterbrechung wieder unter ärztlicher Aufsicht einzunehmen. Solche Unterbrechungen sind unvermeidlich, denn bei fieberhaften Infekten, bei Einnahme bestimmter Medikamente und bei Asthmaanfällen sollte die Therapie unterbrochen werden. Ebenfalls problematisch ist, dass die erforderliche Dauer der Erhaltungsphase bis heute unklar ist.
Toleranzinduktion via SLIT oder EPIT
Man versucht, eine Toleranz gegenüber Nahrungsmittelallergenen auch auf anderen Applikationswegen zu erzeugen. Im Vergleich (Tabelle) hat die OIT die beste Wirksamkeit, danach folgen die SLIT (sublinguale Immuntherapie) und die EPIT (epikutane Immuntherapie mittels Patch). Die SLIT mit Nahrungsmittelextrakten ist mit weniger systemischen und mehr lokalen, oropharyngealen Nebenwirkungen verbunden; Adrenalin war in den SLITStudien zur Nahrungsmittelallergie nicht notwendig. In den EPIT-Studien war der Juckreiz das grösste Problem, allergische Reaktionen aufgrund der EPIT waren selten und mild bis mittelschwer. Bezüglich der Praktikabilität ist die OIT die aufwendigste Methode, danach folgen SLIT und EPIT. SLIT und EPIT zur Behandlung bei Nahrungsmittelall ergien befinden sich noch in einem experimentellen Stadium. Es gibt Studien, aber derzeit noch keine für die Praxis verfügbaren Produkte.
Renate Bonifer
Quelle: Workshop an der PaedArt Basel, 21. November 2019
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