Transkript
Schwerpunkt
Medizinische Hypnose
Sedation und Analgesie in der kinderärztlichen Praxis
In diesem Artikel werden die Grundlagen der medizinischen Hypnose zusammengefasst. Sie bewirkt eine rasche Reduktion der Angst und mobilisiert Bewältigungsstrategien. Ihre Anwendung in der kinderärztlichen Praxis als nicht pharmakologischer Baustein einer multimodalen, evidenzbasierten Schmerztherapie wird anhand konkreter Beispiele erläutert.
Von Camilla Ceppi Cozzio
Kinder sind neugierig und wissbegierig. Sie sind Tranceexperten, weil sie hervorragende Imaginationsfähigkeiten besitzen. Trance ist für Kinder wie Atmen: Sie erleben Trance, ohne darüber
nachzudenken. Spielend entdecken und erschliessen sie
sich die Welt. Dabei ziehen sie sich häufig kleine Weh-
wehchen, schmerzhafte Kratzer und Wunden zu (1). Sie
erfahren, dass Schmerzen zwar unerwünscht, jedoch
normal sind, und erleben diese als subjektive, multimo-
dale Erfahrung. Schmerzen sind exakt das, was das Kind
fühlt.
Kinder wissen oft nicht, dass Schmerzen eine Schutz-
funktion haben, weil sie warnende Signale des schnell
funktionierenden Sicherheitsalarmsystems des Körpers
sind (2). Die Schmerzempfindung wird, wie auch das
Gefühl von Wohlbefinden, im Gehirn durch das Verarbei-
ten und Bewerten
Traumatisch durchgeführte medizinische Interventionen haben weitreichende medizinische Konsequenzen.
dieser Signale generiert (3). Deshalb gelingt es, Schmerzen durch zielgerichtete Bot-
schaften an die
kortikale Schmerzwahrnehmung zu reduzieren. Das Wis-
sen um die Biologie von Schmerzen wirkt sich mehrfach
positiv aus, weil die Schmerzschwelle erhöht, die
Schmerzhäufigkeit gesenkt und katastrophisierendes
Denken reduziert werden kann.
Schmerz und Angst
Schmerzreduktion führt dazu, dass das Gefühl, in Sicherheit zu sein, zunimmt (4). Reale Schmerzen oder nur schon die Vorstellung von Schmerzen können Angst auslösen. Beides ist bedrohlich. Schmerz und Angst sind gekoppelt, sodass sie sich wechselseitig verstärken. Wenn Kinder sich verletzen, suchen sie Hilfe bei den Eltern oder anderen Bezugspersonen. Sie nehmen intuitiv
frühzeitig wahr, dass die richtigen Worte, die bekannte Stimme, sicheres Handeln, Berührung, Ablenkung und ruhiges, vertieftes Atmen effektive Methoden zur Veränderung der Schmerzintensität und der Schmerzwahrnehmung sind. Kinder erleben damit, dass die Verschiebung der Aufmerksamkeit – weg vom Kratzer, hin zu Unterstützungsangeboten – die Schmerzintensität verringern hilft.
Iatrogene Schmerzreize vermindern
Akute Schmerzen wegen Verletzungen oder Krankheiten sind ein häufiger Konsultationsgrund in der Kinderarztpraxis. Nicht selten sind präventive oder diagnostisch-therapeutische medizinische Interventionen mit iatrogenen Schmerzreizen verknüpft. Gerade im Kontext von Impfungen, deren präventive Schutzwirkung unbestritten ist, sind Kinder mit nadelassoziierten Schmerzen konfrontiert. Medizinische Massnahmen wie Blutentnahmen, Impfungen, Wundversorgungen oder das Legen eines Blasenkatheters werden von Kind zu Kind und von Situation zu Situation unterschiedlich erlebt. Wie Kinder Schmerzepisoden und unangenehme medizinische Interventionen bewältigen, ist von verschiedenen physiologischen, psychologischen und sozialen Faktoren sowie früheren Lernerfahrungen abhängig (5). Schmerzen zu reduzieren und schmerzassoziiertes Leiden durch effektive pharmakologische und nicht pharmakologische Behandlungen zu vermeiden, ist Chefsache in der Kinderarztpraxis. Eine inadäquate Therapie akuter Schmerzen oder traumatisch durchgeführte medizinische Interventionen haben weitreichende medizinische Konsequenzen. Mögliche Folgen sind die fehlende Auffrischung von Impfungen, eine verzögerte Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe oder das Auftreten einer Spritzenphobie, an welcher schätzungsweise 10 bis 25 Prozent der Erwachsenen leiden (6,7).
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Kinderärzte und medizinische Fachpersonen müssen deshalb genuin daran interessiert sein, Kinder dabei zu unterstützen, medizinische Interventionen möglichst angstfrei und positiv zu erleben. Es ist ihnen bewusst, dass die Gestaltung einer tragfähigen, vertrauensvollen Arzt-Patienten-Beziehung und die schnelle, effektive Schmerzbehandlung von zentraler Wichtigkeit sind.
Definition der medizinischen Hypnose
Wer sich schon einmal neugierig und selbstbestimmt auf eine medizinische Hypnose eingelassen hat, weiss, dass diese nichts mit Schlafen zu tun hat, sondern ein multisensorisches Tranceerlebnis ist. Trance tritt selbstverständlich auch unabhängig von medizinischer Hypnose auf, denn sie ist eine universelle Erfahrung. Das Im-FlowSein während des Sports oder das Eintauchen in die Klangwelt der Musik sind solche Momente der Alltagstrance. Durch das Bündeln und Fokussieren der Konzentration verschiebt sich die Wahrnehmung graduell, sodass der Brennpunkt des Erlebens nicht mehr im Hier und Jetzt, sondern in einem veränderten, inneren und intensivierten Bewusstseinszustand zu liegen kommt. In der Literatur existiert keine einheitliche Definition der medizinischen Hypnose. Olness und Kohen, zwei international renommierte Pioniere der pädiatrischen medizinischen Hypnose, definieren Hypnose als aktiven, alternativen Bewusstseinszustand – der oft, jedoch nicht immer, Entspannung beinhaltet –, in welchem die Konzentration so gesteigert ist, dass Suggestionen akzeptiert werden, um natürliche und mentale Fähigkeiten optimal nutzen zu können (8). Während die Aufmerksamkeit auf das innere Erleben gerichtet wird, ist die Aufnahmefähigkeit für Suggestionen erhöht. Es ist wichtig zu wissen, dass der englische Begriff «suggestion» in diesem Zusammenhang mit Vorschlag oder Anregung zu übersetzen ist. Anders als die in der deutschen Sprache nicht seltenen negativen Assoziationen zu den Begriffen Suggestion und Hypnose haben weder Suggestion noch medizinische Hypnose einen manipulativen Charakter. Die medizinische Hypnose orientiert sich ausschliesslich an den definierten Behandlungszielen des Patienten, und sie distanziert sich unmissverständlich von der manipulativen Showhypnose. Gemäss einer anderen Definition ist ein Set ärztlicher Kommunikationsfähigkeiten die Grundvoraussetzung für die medizinische Hypnose. Dieses Set erlaubt es, die Erfahrungsressourcen der Patienten zu erschliessen und sodann zum Zweck therapeutischer Veränderungen nutzen zu können. Passende Kommunikationsstrategien können als Katalysatoren neue, wohltuende Erfahrungen anstossen (9).
Grundvoraussetzung für die medizinsche Hypnose ist. Je
präziser die Einschätzung des Kindes erfolgt, um so ein-
facher ist es später, ihm massgeschneiderte, individuelle
Suggestionen
anzubieten. Die medizinische Hypnose rückt das Kind und dessen Imaginationsfähigkeiten ins Zen trum. Die gezielte
Die medizinische Hypnose hat keinen manipulativen Charakter und orientiert sich ausschliesslich an den definierten Behandlungszielen des Patienten.
Nutzung der natür-
lichen Trancefähigkeit wird zum festen Bestandteil im
Schmerzbehandlungskonzept. Sie ermöglicht die Seda-
tion von Kindern im Sinne einer Beruhigung (lat. sedare:
beruhigen, besänftigen). Mithilfe der medizinischen Hyp-
nose gelingt es, erfolgreich die Schmerzwahrnehmung
zu verändern oder im besten Fall eine Analgesie zu errei-
chen.
Medizinische Hypnose beginnt mit dem zugewandten
«Imaginationscoach», der hinhört und neugierig auf die
einzigartige Welt jedes einzelnen Kindes ist. Er versteht
es, das Kind abzuholen, zu leiten (pacing) und zu führen
(leading). Er setzt seine kommunikativen Fähigkeiten wir-
kungsvoll ein. Seine Ziele sind es, durch medizinische
Hypnose einerseits Schmerzen und Angst zu minimieren
und andererseits Sicherheit, Kontrolle und Wohlbefinden
zu maximieren.
Während des Erstkontaktes legen Kinder viele nonverba-
le und verbale Spuren zu ihrer individuellen Welt und
ihrer Imaginationsfähigkeit. Körperhaltung, Zeichnungen
und Aussprüche sind wichtige Hinweise. Der Imagina
tionscoach beob-
achtet aufmerksam die Spuren, welche die Kinder legen, um diese therapeutisch zu nutzen. Medizinische Hypnose nimmt diese Spu-
Das Ziel ist, die individuellen Imaginationen des Kindes zu modifizieren und damit die Schmerzwahrnehmung so zu verändern, dass sich Sedation und Analgesie entfalten können.
ren einfühlsam
auf. Das Ziel ist, die individuellen Imaginationen des Kin-
des zu modifizieren und damit die Schmerzwahrneh-
mung so zu verändern, dass sich Sedation und Analgesie
entfalten können.
Um zu beschreiben, welche Aspekte für die Modifikation
der gelegten Spur bei der medizinischen Hypnose zu
berücksichtigen sind, führe ich hier neu das Akronym
TRACE ein. Es steht für Team, Rahmenbedingungen, Aus-
wahl, Kommunikation (Communication) und Entwicklung.
Kommunikation und Imagination
Nonverbale und verbale Kommunikationsfähigkeiten sind unabdingbare Voraussetzungen der medizinischen Hypnose. Die nonverbale Kommunikation beinhaltet Fähigkeiten wie einfühlsame Annäherung, zugewandtes Lächeln, genaues Beobachten und Zuhören. Während des Erstkontaktes werden die emotionalen, kognitiven und imaginativen Ressourcen sowie die Bewältigungsstrategien, die das Kind mitbringt, aufgenommen. Diese Informationen dienen der Etablierung einer tragfähigen und vertrauensvollen Beziehung (Rapport), welche die
T wie Teamplayer
Kinder sind gern Teil eines Teams. Es zahlt sich aus, ihre Neugier zu wecken und sie darauf aufmerksam zu machen, wie sie wertvolle Teamplayer in der Schmerzbekämpfung werden. Kinder schätzen es, wenn sie eine wichtige Aufgabe übernehmen können. Es ist für sie wichtig, im Zentrum zu stehen. Durch das Fokussieren auf eine Aufgabe im Behandlungsteam verliert die medizinische Intervention an Bedeutung. Eine mögliche Suggestion für eine Impfung könnte lauten: «Ich werde Dir zeigen, wie Du mithelfen kannst, Dir
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selbst zu helfen, damit die Impfung schnell und einfach
vorbei ist. Und das bedeutet, dass Du dabei ganz wichti-
ge Aufgaben übernehmen kannst. Du bist dafür verant-
wortlich, alle Rädchen des Windrades zum Drehen zu
bringen, während Du als Chef Deines Körpers dem Arm
sagst, dass er locker und ruhig bleibt.»
Welche Aufgabe dem Kind zugeteilt wird, ist variabel und
abhängig von der klinischen Situation. Selbstverständlich
wird das Kind für das
Mittun wertgeschätzt:
Das Akronym TRACE fasst wichtige Erfolgsfaktoren für die medizinische Hypnose konzis zusammen.
«Ausgezeichnet, wie Du das machst. Weil Du diese wichtige Arbeit so gut machst, hilfst Du Dir,
Dich besser zu fühlen,
und mir, die Schutzimp-
fung schnell und sicher zu machen.»
Erfolgserlebnisse werden kommentiert: «Ist es nicht cool,
wie gut Du das heute geschafft hast?» Diese Suggestio-
nen führen zu positiven Erwartungen und erhöhen die
Wahrscheinlichkeit, dass auch die nächste Herausforde-
rung gemeistert werden wird (10). Eine posthypnotische
Suggestion wie «Und weil Du jetzt erlebt hast, wie Du Dir
helfen kannst, kannst Du Dir als cooler Teamplayer dei-
nen Erfolg wieder hier oder anderswo holen» verdeut-
licht, dass diese Kompetenzerfahrung später in einem
anderen Kontext gebraucht werden kann.
R wie Rahmenbedingungen
Kinder wollen über die Rahmenbedingungen einer medi-
zinischen Intervention und der medizinischen Hypnose
informiert werden. Wenn der Ablauf des diagnos-
tisch-therapeutischen Vorgehens schrittweise in entwick-
lungsgerechter und hypnotischer Sprache erklärt und
gezeigt wird, werden Angst- und Schmerzfantasien ein-
gedämmt. Das Sicherheitsgefühl wird gestärkt (11).
Wenn eine planbare medizinische Intervention für ein
Kind besonders herausfordernd ist, lohnt es sich, das
Kind vorgängig für eine Konsultation einzubestellen. Die
Zusicherung, dass während der Konsultation keine medi-
zinische Intervention stattfinden wird, ist essenziell,
damit das Kind sich überhaupt vertrauensvoll öffnen
kann. In ruhiger Atmosphäre werden die Rahmenbedin-
gungen der medizinischen Intervention besprochen und
mit hypnotischen Suggestionen unterlegt. Aussagen wie
«Kompliment, dass Du Dich entschieden hast, hierherzu-
kommen, obwohl Du noch etwas aufgeregt bist. Gut,
dass Du jetzt hier
Während die Aufmerksamkeit auf das innere Erleben gerichtet wird, ist die Aufnahmefähigkeit für Suggestionen erhöht.
bist und alles genau wissen willst. Je mehr Kinder wissen, um so sicherer
und entspannter
sind sie» anerkennen die Befindlichkeit des Kindes,
begleiten es und leiten über zur Option des Wohlbefin-
dens.
In einem zweiten Schritt wird die Ich-Stärkung gefördert,
indem das Kind als erfinderischer Experte bezeichnet
wird: «Kinder sind Experten im Erfinden von klugen
Lösungen. Sie wissen, was ihnen guttut. Wetten, dass Du
am besten weisst, wie Du Dir helfen kannst, damit Du die
Schutzimpfung schaffst und es Dir dabei gutgeht?»
Das Kind wird als Experte eingeladen, einen Plan zu erstellen, auf dem seine Wünsche und Anweisungen betreffend der medizinischen Intervention nach Wichtigkeit geordnet stehen. Auf dem Plan können Dinge wie Geschwindigkeit, hilfreiche Strategien, Mutsprüche, Helfer usw. notiert werden. Es ist wichtig, zu besprechen, welche Punkte des Plans im Rahmen der Praxis tatsächlich umsetzbar sind. Die Informationen des Plans helfen, eine massgeschneiderte medizinische Intervention anzubieten. Das Recht auf Mitsprache signalisiert dem Kind, dass seine Meinung zählt und dass es für sein Mitdenken belohnt wird. Wenn eine längere Sequenz medizinischer Hypnose angeboten wird, gilt es, den Ablauf der Trance zu erklären. Die Informationen sind Orientierungshilfen und klären auf, was zu erwarten ist. Die Frage «Wie findest du diesen Vorschlag?» holt beim Kind eine Einschätzung ab. Sie bietet eine Wahlmöglichkeit an. Gelegentlich lehnt ein Kind den Vorschlag ab, weil sein Vertrauen ungenügend oder das Kontrollbedürfnis zu ausgeprägt ist. Diese Entscheidung ist zu respektieren.
A wie Auswahl
Kinder schätzen die Option, unter verschiedenen Möglichkeiten einer medizinischen Hypnose wählen zu können, weil sie damit erleben, dass sie ein Mitsprache- und Bestimmungsrecht haben. Das Einbeziehen in den Entscheidungsprozess erhöht die Kooperationsbereitschaft. Es ist wichtig, zuerst eine Vorauswahl zu treffen, bevor das Kind aus verschiedenen altersgerechten Angeboten auswählen darf. Einem Vorschulkind könnte zum Beispiel folgende Wahlmöglichkeit vorgeschlagen werden: «Möchtest Du während der Untersuchung auf Mamas Schoss sitzen oder aufs Bett kommen und dann cool und sicher zur Untersuchung hinauffahren?» Die meisten Kinder wählen zielgerichtet und schnell aus. Die Wahl kann mit dem Ziel der Ich-Stärkung, zum Beispiel der Aussage «Wunderbar, dass Du genau spürst, was für Dich am besten passt, damit Du Dich wohlfühlst und Du loslassen darfst» positiv konnotiert werden. Oft haben Kinder bereits zu Hause hilfreiche Helfer ausgewählt. Sie bringen Lieblingsobjekte, Krafttiere, Amulette oder Textilien mit, weil sie ihnen helfen, in eine positive Trance zu sinken. Gelegentlich werden Geschwister und Freunde als wohltuende Unterstützer und Mutmacher gewählt. Die Auswahl des Kindes gilt es wertzuschätzen und zu respektieren. Die hypnoanalgetische Schmerzbewältigungstechnik des Zauberhandschuhs (12) mag für ein Kind perfekt sein, ein anderes möchte lieber einen Lieblingsfilm auf dem Tablet ansehen. Ein Kind mag zur medizinischen Hypnose zusätzlich eine Comfort-Positionierung wählen, ein anderes schlägt beides aus.
C wie Communication
Kommunikation ist das Schlüsselelement der medizinischen Hypnose. Sie beginnt mit dem aufmerksamen Beobachten und Zuhören. Der Schmerz muss so, wie er vom Kind wahrgenommen wird, erfasst und unbedingt anerkannt werden. Wenn die Anerkennung fehlt, nehmen das Kinder, feinfühlig wie sie sind, glasklar wahr, und der Rapport ist beschädigt.
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Die Kommunikation in der medizinischen Hypnose ist zielgerichtet, sie vermittelt Hoffnung und generiert neue Ideen wie die folgende: «Meine Aufgabe ist es jetzt, schnell zu verstehen, wie ich Dich gut dabei unterstützen kann, dass der Schmerz schnell kleiner wird, damit Du Dich besser fühlst.» Solche Suggestionen bewirken, dass in der Wahrnehmung des Kindes die Sicherheit gegenüber der Gefahreneinschätzung überwiegt (4). Die Schmerz-Angst-Spirale wird unterbrochen. Der achtsamen Wortwahl in der verbalen Kommunika tion kommt eine entscheidende Bedeutung zu (13). Negative Suggestionen wie «Das ist doch alles gar nicht so schlimm» oder «Es tut gar nicht weh» sind zu unterlassen, weil sie kontraproduktiv sind. Sie ignorieren die Ängste der Kinder und legen paradoxerweise den Fokus auf die Worte «schlimm» oder «weh», also gerade auf die Zustände, die wir vermeiden wollen. Zudem sind solche Formulierungen unsensibel, und sie setzen verletzende Reize. Dagegen macht eine positiv formulierte Frage wie «Weisst Du, wie Du Dir während dieser Untersuchung helfen kannst?» zuerst einmal neugierig. Der anschliessende Vorschlag «Lass mich Dir zeigen, wie Du ruhiger wirst: Du darfst dreimal ruhig atmen und so ruhiger und ruhiger werden» weist klar darauf hin, dass eigene Fähigkeiten eingesetzt werden können, um das eigene Wohlbefinden zu steigern.
Fragen wie «Wo möchtest Du jetzt gerade viel lieber sein» oder «Was möchtest Du jetzt viel lieber tun» sind Spuren, die vom Kind aufgenommen werden. Sie ermöglichen, die negativ fokussierte Aufmerksamkeit der Schmerztrance auf innere Erfahrungsressourcen umzulenken. Weil eine wohltuende Erinnerung oder eine frühere Kompetenzerfahrung erlebt wird, gelingt eine therapeutische Dissoziation, die die Selbstwirksamkeit des Kindes stärkt (14). Auf welche positive Erfahrung das Kind auch immer zurückgreift, diese wird aufgenommen und zu einem multisensoriellen Erlebnis intensiviert. Dazu werden alle fünf Sinne angesprochen (VAKOG: visuell, auditiv, kinästhetisch, olfaktorisch, gustatorisch) (13). Das Sicherheitsgefühl des Kindes wird zum Beispiel mit folgender Formulierung gestärkt: «Während Du gut zu Dir schaust, schauen wir gut zu Dir, damit Du einfach eine ganz schöne Erfahrung machen darfst.» Es zahlt sich aus, Jugendliche, die eine Nadelphobie haben oder den Kontrollverlust einer vagovasalen Synkope fürchten, so zu coachen, dass sie einfach und selbstbestimmt an einen Lieblingsort zu dissoziieren verstehen. Dort können sie imaginativ ihr inneres Selbst (15) mit Ich-Stärke und Selbstwirksamkeit aufladen, sodass sie sich zutrauen, ausstehende Impfungen oder andere medizinische Interventionen zu meistern. Jugendliche sprechen sehr gut auf Suggestionen an, die die digitale Welt abbilden, wie zum Beispiel: «Wie könnte es Dir
Schwerpunkt
1 bis 18 Monate 2 bis 6 Jahre
7 bis 10 Jahre
11 bis 19 Jahre
Fähigkeiten
Kommunikation
nonverbal
zunehmend expressiv
expressiv konkret
Selbstregulation Aufmerksamkeitsspanne
Abhängigkeit Denken
gering
beginnend
deutliche Reifung
kurz
zunehmend - -
- länger -
von Bezugsperson - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
-
-
magisch
konkret
expressiv abstrakt zunehmende Reifung - lang Autonomie, Peer-bezogen
abstrakt
Ziele
Sicherheit Wohlfühlen Selbstberuhigung Kooperation
Sicherheit Wohlfühlen Selbstberuhigung Kooperation
Sicherheit Wohlfühlen realistische Risikoeinschätzung Dissoziation, Assoziation Coping-Strategie Entspannung
Reduktion des übertriebenen Denkens realistische Risikoeinschätzung Dissoziation, Assoziation Kontrolle Entspannung
Hypnosestrategien
multisensorische Angebote Schnuller Spielzeug rhythmische Bewegungen
multisensorische Angebote, Musikdosen, Windrad, Seifenblasen (Atmung), Handpuppen, So tun als ob
Sprache Bauchatmung Lieblingsort Schutzanzug Krafttiere, Zaubermöve Geschichten Zauberhandschuh
Sprache Lieblingsort Metaphern, virtuelle Realität Musik
Alle Altersangaben sind nur approximativ zu verstehen.
Abbildung: Hypnotische, zielorientierte Strategien gemäss Alter und Fähigkeiten der Patienten
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gelingen, Ungünstiges durch Drücken von Delete loszuwerden und dann einen Upload der Feel-Good-Software zu machen?» Wenn kein akuter Zeitdruck besteht, eignen sich altersgerechte Metaphern und Analogien sehr gut (16): «Ich habe mich als Kind oft gefragt, wie das Fakire hinbekommen, dass sie kaum Schmerzen wahrnehmen. Ist das nicht cool, dass sie als Chef ihres Körpers gelernt haben, wie sie die Schmerzschalter im Hirn herunterfahren können?» Diese Frage wird meist mit Ja beantwortet. Neugierige Kinder hören genau hin, und die Empfänglichkeit für Suggestionen wie die folgende ist in der medizinischen Hypnose erhöht: «Ist es okay, wenn ich dir zeige, wie Du als Chef deines Hirns es schaffst, die Schmerzschalter herunterzufahren, damit ...» Worte sind Signale, die eine symbolische Bedeutung haben und kortikal sofort bewertet werden. Deshalb können gut gemeinte Hinweise wie «Achtung, jetzt gibt es einen Stich» unangenehme Erlebniskaskaden auslösen. Sie sind unnötig und kontraproduktiv (17).
E wie Entwicklung
Die medizinische Hypnose orientiert sich selbstverständlich an den kindlichen Entwicklungsfähigkeiten wie Aufmerksamkeitsspanne, Selbstregulation, Sprachkompetenz und Kognition, die sich im Verlauf der Entwicklung entfalten (11). Je jünger das Kind ist, desto kürzer ist die Spanne der fokussierten Aufmerksamkeit. Die Selbstregulationsfähigkeit ist noch gering, sodass die Abhängigkeit von Bezugspersonen gross ist. Im Lauf der Zeit nehmen die sprachlich expressiven Kompetenzen, die Aufmerksamkeitsspanne und die kognitiven Fähigkeiten zu. Persönliche Vorlieben und Interessen beginnen, sich klarer abzuzeichnen (11). Eine nonverbale, variable, kurze und multisensorische medizinische Hypnose eignet sich für junge Kinder. Sie fängt deren Aufmerksamkeit ein und lenkt von der medizinischen Intervention ab. Selbstverständlich werden die Eltern in die beruhigende, wohltuende Strategie einbezogen. Längere Sequenzen medizinischer Hypnose, Reime und Metaphern eignen sich für ältere Kinder. Eine Zusammenstellung möglicher Strategien der medizinischen Hypnose, passend zum Entwicklungsalter, ist in der Abbildung zu finden (11, 13, 14). Die angegebenen Entwicklungsalter sind approximativ zu verstehen.
Zusammenfassung
Kinder wollen wissen, was Schmerz ist und auf welche Strategien sie zurückgreifen können, damit sie ruhiger und selbstwirksam Schmerzen und Herausforderungen im Kontext medizinischer Interventionen bewältigen können (18). Der Imaginationscoach folgt den Spuren, die Kinder als Hinweise auf ihre Imaginationsfähigkeit legen. Seine tranceinduzierenden Suggestionen basieren auf dem zielgerichteten, absichtsvollen Einsatz der Sprache. Solche beruhigenden, Ich-stärkenden Kommunikationsangebote sind die Basis der medizinischen Hypnose. Sie führen zu einer schnellen Angstreduktion und mobilisieren Bewältigungsstrategien.
Das hier neu vorgeschlagene Vorgehen entlang des Akro-
nyms TRACE folgt den Spuren, die unsere Patientinnen
und Patienten vorgeben. TRACE soll eine Hilfestellung für
die Betreuung bieten, indem es wichtige Erfolgsfaktoren
für die medizinische Hypnose konzis zusammenfasst.
Korrespondenzadresse:
Dr. med. Camilla Ceppi Cozzio
Fachärztin FMH für Kinder- und Jugendmedizin
SAPPM
Leepüntstrasse 5
8600 Dübendorf
E-Mail: c.ceppi@hin.ch
Interessenlage: Die Autorin erklärt, dass keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag bestehen.
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