Transkript
Schwerpunkt
Zwei Fälle aus der Praxis
Was pädiatrische Palliative Care im Einzelfall konkret bedeutet
Kinder und Familien in der pädiatrischen Palliative Care (PPC): Wer sind sie? Was benötigen sie, und wie werden sie betreut? Anhand von zwei Beispielen wird deutlich, wie die konkrete Umsetzung von Empfehlungen in der PPC im Alltag aussieht.
Von Jürg C. Streuli, Gudrun Jäger, Katrin Marfurt-Russenberger, Miriam Wanzenried und Isabel Witschi
Im folgenden Artikel möchten wir anhand von zwei Beispielen veranschaulichen, was Statistiken und Empfehlungen zur pädiatrischen Palliative Care (PPC) für die konkrete Arbeit bedeuten. Gleichzeitig geben wir einen Einblick in die Anwendung einiger Tools am Beispiel des Palliative-Care-Teams am Ostschweizer Kinderspital, St. Gallen. Wir möchten aufzeigen, was es bedeutet, ein aktives, «ganzheitliches» Angebot für das Kind, seine Familie und das bestehende Netzwerk anzubieten, um – frei nach Cicerly Saunders – Leben nicht nur mit Zeit, sondern Zeit mit Leben zu füllen.
Fall 1: Pränatale Diagnose
Für die Familie M. stand die schwerwiegende Diagnose bereits vor der Geburt fest: Ihre Tochter Claudia wird mit einer Trisomie 18 zur Welt kommen. Das wurde bereits pränatal festgestellt.
Die Eltern und Fachpersonen des betreuenden Spitals konnten sich dadurch bereits im Vorfeld Gedanken darüber machen, wie mit der schwierigen Spannung von Vorfreude auf ein neues Leben und der Verunsicherung und Trauer über eine voraussichtlich deutlich verkürzte Lebenszeit mit zahlreichen möglichen Komplikationen umgegangen werden kann. Pränatale Diagnosen ermöglichen nicht nur das Stellen wichtiger Weichen, sondern auch den Aufbau eines optimalen Netzwerks, das sowohl die Familien als auch die involvierten Fachpersonen bestmöglich unterstützt. Getragen durch die Ressourcen der Familie und nach Beratungen durch verschiedene Fachpersonen entschieden sich die werdenden Eltern für eine Hausgeburt. Ein Entscheid, der – wie viele Entscheidungen im Kontext der PPC – unsere Vorstellungskraft als Fachpersonen zu Machbarem und Sinnvollem immer wieder auf den Prüfstand stellt.
Tabelle 1:
Symptomspektrum, das im Rahmen der pädiatrischen Palliative Care kontrolliert werden muss
Dermatologisch Fatigue Gastrointestinal Gewicht Hämatologisch Muskuloskeletal Neurologisch Psychiatrisch Respiratorisch Schmerz
Hautintegrität (Dekubitus), Hautinfektionen, Pruritus Müdigkeit, Schwäche, Verhaltensänderung Übelkeit und Erbrechen, Reflux, gastrointestinale Obstruktion, Obstipation, Diarrhö, Schluckauf Gewichtsverlust wegen Anorexie/Kachexie, kein Appetit, Muskelschwund, medikamentenbedingte Gewichtszunahme Tumorblutung, Hämorrhagie, Hämoptyse, Anämie, Hämatome Skoliose, Osteoporose (pathologische Frakturen), Gelenkschmerzen Dysphagie, Probleme beim Schlucken, neurokognitive Störungen, Spastik, Dystonie, sensorischer Verlust, epileptische Anfälle, Verlust motorischer Fähigkeiten Angst, Agitiertheit, Depression, Delir, Insomnie Dyspnoe, Aspiration, Schleimbildung, Hypoxie, Husten neuropathische Schmerzen, Muskelschmerz (glatte Muskulatur), tiefe somatische Schmerzen, viszerale Schmerzen
nach www.togetherforshortlives.org.uk
Der Betreuungsplan
Es spielt keine Rolle, über welchen Kanal das PPC-Team involviert wird, Hauptsache, jemand denkt rechtzeitig an den möglichen Nutzen. So auch im Fall der Familie M., bei der wir über die Kinderspitex frühzeitig informiert wurden. Nach Rücksprache mit dem gesamten Team und auf Wunsch der Eltern wurde mit dem Hausarzt noch vor der Geburt ein erster Betreuungsplan von uns erstellt (eine Vorlage für einen Betreuungsplan finden Sie hier: https://ppcnch.jimdofree.com/). Analog zum SENS-Modell (strukturierte Vorgehensweise anhand der Punkte Symptommanagement, Entscheidungsfindung, Netzwerk und Support) enthält dieser Plan die nötigen Informationen zur Symptomkontrolle (in Tabelle 1 wird das breite Symptomspektrum im Rahmen der PPC zusammengefasst), zur Entscheidungsfindung (mit möglichst detaillierten Überlegungen zur Anwendung notfall- und intensivmedizinischer Massnahmen), zum Netzwerk mit Koordination von ambulanten und stationären Ressourcen sowie zur Unterstützung mit der
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Frage nach Unterstützungsmöglichkeiten für die Familie und die Fachpersonen auch über den Tod hinaus. Der Betreuungsplan ist keine «Patientenverfügung» und muss sich neben den Präferenzen und den Wünschen der Eltern auch an objektiven Aspekten des Kindeswohls orientieren. Trotzdem spielen die Eltern gerade im Palliative-Care-Setting mit kleiner oder fehlender Evidenz beim Ausformulieren und Interpretieren des Kindeswohls eine grosse Rolle. So behielten sich die werdenden Eltern von Claudia vor, bei einem stabilen Verlauf weitere therapeutische Schritte zu besprechen und den Reanimationsstatus dann entsprechend anzupassen.
Der weitere Verlauf Bei einer akuten Verschlechterung nach der Geburt wurde mit Blick auf die schwierige Situation von Claudia aber primär keine Reanimation mit «comfort care» im Umfeld der Familie und der Verzicht auf intensivmedizinische Massnahmen gewünscht. Das Vorgehen wurde interdiszplinär besprochen und der Plan bei den Eltern, bei der Kinderspitex und im Klinikinformationssystem des Kinderspitals abgelegt. Nach gut zwei Wochen wurde Claudia, ein aufgewecktes Mädchen mit den typischen Merkmalen einer Trisomie 18, im geborgenen Kreis der Familie im Beisein von Hebamme und des gut vorbereiteten Hausarztes geboren. Unser Team blieb nach Ausarbeitung des Betreuungsplans und der Bereitstellung der Notfallmedikamente für eine mögliche Symptomkontrolle im Hintergrund. Ein paar Tage nach der Geburt besuchten wir die Familie zu Hause im Sinne eines Rundtischgesprächs zur Beurteilung der Situation und zur Überprüfung des Betreuungsplans. Obwohl der Verlauf bis zu diesem Zeitpunkt komplikationsfrei war, wurde das vorgesehene Vorgehen von allen Seiten bekräftigt. Drei Wochen nach einer erfreulich stabilen Phase informierte uns die Hebamme, dass sich die Atmung ohne weitere Infektzeichen veränderte und vermehrt die für Trisomie 18 typischen Apnoepausen auftraten. Wir besprachen die mögliche Diagnostik und gleichzeitig die Anwendung der im Betreuungsplan vorab verordneten Morphintropfen bei Atemnot. Als sich die Situation nach ein paar Tagen nachts verschlechterte, erstmals mit Atemnotzeichen, konnte unter enger nächtlicher palliativmedizinischer Begleitung via Telefon mit einer geringen Gabe von Morphin das Atemmuster nochmals normalisiert werden, bis Claudia nach längeren Apnoephasen ruhig und ohne sichtbare Atemnot in den Armen der Eltern verstarb. Die Familie wurde am nächsten Morgen vom Hausarzt besucht, der den Tod feststellte, die natürliche Todesursache bestätigte und die Familie über die nächsten Schritte aufklärte. Zur Nachbetreuung fanden in den ersten Wochen nach dem Versterben ein bis zwei telefonische Kontaktaufnahmen statt. Zur Evaluation unserer Arbeit und mit der Frage nach Unterstützungsbedarf wurde gut drei Monate später ein Nachgespräch mit der Familie und dem ambulanten Team vereinbart.
Fall 2: Unerwarteter Schock
Bei Familie D. kam der Schock völlig unerwartet, als ihre Tochter Lea bereits 7 Monate alt war. Die aufgeweckte
Abbildung: Der Anteil des kurativen und palliativen Ansatzes der Behandlung zwischen Diagnose und Lebensende kann sehr unterschiedlich sein. Die beiden Phasen können einander abwechseln (A), allmählich übergehen (B), eine Zeitlang gleichermassen überlappen (C), und der kurative Ansatz kann auch vollständig entfallen (D).
und flinke Lea verlor innert weniger Tager ihre motorischen Fähigkeiten und wurde mit Verdacht auf eine akute Stoffwechselentgleisung notfallmässig hospitalisiert. Mit klinischen Zeichen einer Mitochondriopathie und daraus folgendem metabolischem Schlaganfall wurden wir als PPC-Team bereits vor der Diagnosestellung miteinbezogen. Ein Screening- und Triagefragebogen (START: St. Galler Triage-, Assessment- und Reevaluations-Tool) hilft uns intern als Schnelltest, der die Schwelle für einen Einbezug der PPC-Perspektive senkt und gleichzeitig die limitierten Ressourcen unseres Teams optimal verteilt. Dadurch sollen zeitintensive Hausbesuche und das Case-Management für diejenigen Fälle angeboten werden, bei denen sie voraussichtlich am wirkungsvollsten sind. Ergänzt wird das Tool START auf den Stationen mit dem Symptom- und Belastungsassessment. Beide zusammen ergeben bei uns das Basisassessment für die DRG-Abrechnung. Lea erfüllte ab Beginn ihrer Erkrankung die Kriterien für das interprofessionelle mobile PPC-Angebot des Ostschweizer Kinderspitals St. Gallen (kurz IMPACT). Auf Wunsch der Eltern konnte so noch vor der definitiven Diagnosestellung eine Betreuung zu Hause parallel zu anfänglichen Therapieversuchen ermöglicht werden.
Lebensqualität trotz lebenslimitierender Diagnose
Die Abbildung zeigt, dass die unheilvolle Maxime «Es ist immer zu früh, bis es zu spät ist», welche der allgemeinen Palliativmedizin häufig angelastet wird, im Kindes- und Jugendalter doppelt falsch ist. Anders als bei der Palliative Care bei Erwachsenen folgt nach dem Stellen einer lebens-
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Tabelle 2:
Voraussetzungen für die wirksame Umsetzung der pädiatrischen Palliative Care
1. Man muss wissen, dass es das Angebot gibt, d. h. das Angebot sollte im Alltag für alle Fachpersonen sichtbar sein.
2. Man muss es zur richtigen Zeit in Anspruch nehmen, unterstützt z. B. durch PPC-Verantwortliche auf allen Stationen und unterstützt durch Werkzeuge wie START* und das Symptom-/Belastungsassessment.
3. Man muss es mit den nötigen Ressourcen ausstatten, wobei für den ersten Schritt im Aufbau eines nachhaltigen Angebots auch eine niederprozentige Stelle ausreichen kann.
4. Die wertschätzende Zusammenarbeit zwischen fallführenden Spezialisten, ambulanten Kinderspitexorganisationen, niedergelassenen Kinderärzten und den spezialisierten PPC-Teams ist von grosser Bedeutung.
*START ist ein Screening- und Triagefragebogen, der am Ostschweizer Kinderspital, St. Gallen, eingesetzt wird; weitere Informationen siehe Abschnitt «Fall 2» und Literaturhinweis am Ende des Artikels.
limitierenden Diagnose nicht unmittelbar die Lebensendphase, sondern oft stabile Phasen mit guter Lebensqualität. Dabei kann der Übergang vom kurativen zum palliativen Ansatz sehr unterschiedlich verlaufen (s. Abbildung). Umso wichtiger ist es, die Zeit vor Eintreten der Lebensendphase zu nutzen, um Vertrauen und das Netzwerk aufzubauen und das Symptommanagement bei möglichen Komplikationen empathisch, aber effektiv mit Blick auf die Lebensqualität vorzubereiten. Bei Lea standen die Kontrolle der schweren Bewegungsstörung mit kontinuierlicher Unruhe sowie die Ernährung mit häufigem Erbrechen im Vordergrund. Die fallführende Neurologin behielt ihre wichtige Rolle, gleichzeitig wurde der ärztliche Vertreter des PPC-Teams für die Familie zunehmend zu einem wichtigen Ansprechpartner für die Symptomkontrolle und für die Unterstützung der ganzen Familie. Bei Lea war, wie bei den meisten betroffenen Kindern, das PPC-Angebot für einen längeren Zeit-
Buchtipp
Palliative Care bei Kindern und ihren Familien Kinder-Palliativmedizin Essentials Das Wichtigste für die Palliative Care bei Kindern, Jugendlichen und ihren Familien. Ein Buch für Kinderkrankenpflegende, Pädiater, Palliativmediziner und Seelsorgende. Von Jürg Streuli, Eva Bergsträsser, Maria Flury und Aylin Satir. 168 Seiten. Hogrefe Verlag 2018. Print: ISBN: 9783456858838; Fr. 38,90 E-Book: ISBN: 9783456958835, Fr. 37,90
raum mit Hoffnung auf eine stabile Phase mit guter Lebensqualität verbunden. So wurde auch bei einer weiteren akuten Verschlechterung mit zunehmender Somnolenz und anämisierender, rektaler Blutung in enger Rücksprache mit Eltern und involvierten Fachpersonen nochmals eine Abklärung mit Symptomkontolle im Spital durchgeführt. Nach Feststellen eines schweren progredienten Perikardergusses mit zunehmendem Sauerstoffbedarf und nach mehreren Gesprächen wurde für alle Beteiligten deutlich, dass sich Lea und ihre Familie zu Hause am wohlsten fühlen würde und weitere Eingriffe mit hohem Komplikationsrisiko nicht mehr im Sinne von Leas Wohl wären. Wir organisierten deshalb kurzfristig und unkompliziert einen Rücktransport (im Auto der Eltern in Begleitung des Bezugsarztes) und unterstützten «comfort care» zu Hause. Nach einer ruhigen Nacht im Umfeld der ganzen Familie verstarb Lea am nächsten Tag ohne Anzeichen von Leiden in den Armen der Eltern. Das PPC-Team wurde direkt von den Eltern informiert und konnte die Familie inklusive der Geschwister und der Grossmutter vor Ort und im Anschluss telefonisch begleiten.
Fazit
Für die wirksame Umsetzung des PPC-Angebots gelten vier Voraussetzungen (s. Tabelle 2) PPC ist ein aktives, «ganzheitliches» Angebot mit medizinischen, pflegerischen, psychosozialen und seelsorgerlichen Aspekten für das kranke Kind, seine Familie und das verfügbare Helfernetzwerk. Ein PPC-Team ersetzt nicht die bisherigen Teammitglieder und fallführenden Spezialisten, sondern es ergänzt das Team. «Palliativ» steht nicht für ein «Weniger», sondern für ein bedürfnisorientiertes «Plus» an sinnvollen Massnahmen – während verschiedener Krankheitsphasen und über den Tod hinaus.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Jürg Streuli, PhD Stiftung Ostschweizer Kinderspital Claudiusstrasse 6 9006 St. Gallen E-Mail: juerg.streuli@kispisg.ch
Alle Autoren sind Mitglieder des Teams für pädiatrische Palliativ Care am Ostschweizer Kinderspital, St. Gallen. Die Namen der Familien und Kinder in den Fallberichten wurden geändert und entsprechen nicht den tatsächlichen Namen der Betroffenen.
Interessenlage: Alle Autoren erklären, dass keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag bestehen.
Mehr über die PPC am Ostschweizer Kinderspital, St. Gallen, finden Sie in der Hauszeitung der Stiftung Ostschweizer Kinderspital: Streuli JC, Marfurt-Russenberger K: Pädiatrische Palliative Care (PPC) – eine aktiv gelebte Haltung, um Zeit mit Leben zu füllen. Fokus 2019; 3: 26–27. https://www.rosenfluh.ch/qr/ppc-start
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