Transkript
Editorial
I n dieser Schwerpunktausgabe bringen wir Ihnen ein Thema nahe, welches einerseits ein integraler Bestandteil unserer Tätigkeit in der Pädiatrie ist, andererseits aber auch ein Tabu darstellt, mit dem man lieber nicht in Berührung kommen möchte: lebenslimitierende Krankheiten im Kindes- und Jugendalter. Nicht nur die Familien und ihr vertrautes Umfeld, sondern auch die verschiedenen Fachpersonen sind im Kontakt mit sterbenden Kindern und ihren Familien und in der Behandlung leidvoller Symptome aufs Äusserste gefordert. Derzeit leben schätzungsweise 5000 Kinder mit einer lebenslimitierenden Erkrankung in der Schweiz – wobei die Betonung auf Leben liegt: Wie die Autoren in diesem Schwerpunktheft zeigen, ist Palliative Care im Kindes- und Jugendalter nicht in erster Linie Sterbebegleitung am Lebens-
Pflegediensten, Freiwilligenarbeit und der spezialisierten Palliative Care. Diese kommen im Folgenden zu Wort, beispielhaft vertreten durch die Kinderspitex, pro pallium und das Kompetenzzentrum für pädiatrische Palliative Care des Universitätskinderspitals Zürich, ergänzt durch zwei Erfahrungsberichte des Teams am Ostschweizer Kinderspital. Eine besondere Bedeutung in diesem Angebot für Familien mit schwerkranken Kindern hat das Gespräch mit Kindern und ihren Familien. Die Psychologin Rosanna Abbruzzese beschreibt anhand ihrer grossen Erfahrung, wie wir gemeinsam mit Kindern und Familien über den Tod sprechen können und welche Hindernisse es dabei zu berücksichtigen gilt. Deborah Gubler, Jehudith Fontijn und Claudia Dobbert schliesslich bauen eine Brücke in die Neonatalperiode, in der 40 Prozent aller Todesfälle
Dr. med. Jürg Streuli, PhD Leitung IMPACT/Pädiatrisches Palliative Care Team Stiftung Ostschweizer Kinderspital, St. Gallen juerg.streuli@kispisg.ch
Leben mit einer lebenslimitierenden Erkrankung
ende, sondern eine ganzheitliche Haltung, mit der das Kind und seine Familie oftmals über eine längere Zeit aktiv begleitet und unterstützt werden. Es geht dabei nicht um ein Aufgeben, sondern vielmehr um ein aktives Mehr, ein zusätzliches Netz an Unterstützung, um neue Ideen und gleichzeitig um eine Fokussierung auf das Wesentliche, das für ein Kind und seine Familie nun wichtig ist. Ein in dieser Hinsicht wegbereitender Augenöffner für die Schweiz ist die PELICAN-Studie, in unserem Heft präsentiert von Eva Bergsträsser und Karin Zimmermann. Beispielsweise wird sichtbar, dass – anders als im umliegenden Ausland – in der Schweiz noch immer mehr als 4 von 5 Kindern im Spital und dort meistens auf der Intensivstation versterben, obwohl das Versterben zu Hause von den Familien fast durchwegs als positiver Aspekt in der schwierigen Situation erlebt wird. Welche zentrale Rolle der Praxispädiatrie dabei zukommt beziehungsweise zukommen könnte, zeigt Mercedes Ogal. Zentral für eine wirksame und nachhaltige Betreuung in der Geborgenheit der Familie ist das Zusammenspiel zwischen Praxis,
stattfinden und auch für eine langfristige Betreuung die Weichen gestellt werden können. Erika Süess wagt den Blick in die andere Richtung, zur Palliative Care von Erwachsenen, und schärft dadurch gleichzeitig das Verständnis für die besonderen Bedürfnisse von Kindern und deren Umfeld. In fast jedem Artikel dieser Ausgabe wird überdies deutlich, dass in den kommenden Jahren weitere Anstrengungen nötig sind, um diesen Bedürfnissen flächendeckend gerecht zu werden. Dieses Schwerpunktheft setzt auch ein Zeichen für eine Bewegung, welche in den letzten Jahren endlich auch in der Schweiz an Fahrt gewonnen hat; eine Bewegung weg vom Tabu sterbender Kinder ohne spezialisierte Anlaufstellen, hin zu einer schweizweiten Unterstützung für die Familien und Fachpersonen in enger Zusammenarbeit unterschiedlicher Berufsgruppen. Sie, liebe Leserin und lieber Leser, sind höchstwahrscheinlich auch ein Teil dieser Bewegung, und wir wünschen Ihnen eine bereichernde Lektüre.
Jürg Streuli
2/20 Pädiatrie
1