Transkript
Schwerpunkt
Transition in der Diabetologie
Stolperstein oder Chance?
Die Transition von Patienten mit Typ-1-Diabetes sollte zu einem individuellen Zeitpunkt erfolgen, der den persönlichen Bedürfnissen und Lebensumständen gerecht wird. Daneben spielen physiologische Aspekte eine Rolle, wie etwa der Abschluss von Wachstum und Pubertät. Der Wechsel von der Päd- iatrie zur Erwachsenenmedizin ist nicht nur für den Patienten, sondern auch für das Diabetesteam eine Herausforderung.
Von Melanie Hess, Yannick Louoba und Urs Zumsteg
Z irka 3000 Kinder und Jugendliche sind in der Schweiz an einem Diabetes mellitus Typ 1 erkrankt. Besonders bei den jüngeren Kindern nehmen die Patientenzahlen seit einigen Jahren zu. Daher werden immer mehr Kinder und ihre Familien oft über viele Jahre vom pädiatrischen Diabetesteam begleitet und erleben mit ihm zusammen einen wichtigen Meilenstein ihres Lebens, nämlich die Pubertät und die frühe Adoleszenz. Üblicherweise werden Kinder und Jugendliche mit Diabetes mellitus Typ 1 in der Schweiz bis zu ihrem 18. Geburtstag pädiatrisch betreut, danach findet nach und nach die Transition zur Erwachsenenmedizin statt. Der 18. Geburtstag sollte aber nicht ein fixer Termin dafür sein, individuelle Faktoren wie Ausbildungsstand, persönliche Wünsche und geistige Reife müssen berücksichtigt werden. Die Kinder- und Jugendmedizin gilt als familienorientiert und ganzheitlich mit Einbezug des gesamten Umfeldes des Kindes und Jugendlichen, während sich die Erwachsenenmedizin auf den Patienten selbst konzentriert und daher stärker personen- und krankheitsorientiert agiert (2). Diese Umstellung ist für die jungen Erwachsenen neu und gewöhnungsbedürftig (s. Kasten), was die Schwierigkeit bei der Transition von der Pädiatrie zur Erwachsenenmedizin zumindest teilweise erklärt. Ein Zitat eines Betroffenen (3) illustriert diese Situation: «This move is like moving out of the house, because you grew up with these people.»
Herausforderungen für das pädiatrische Team …
Auch für das betreuende pädiatrische Team ist es ein Abschied, «seinen» Patienten (und die gesamte Familie) nach vielleicht mehr als 18 Jahren und einer Betreuung oft ab Geburt an ein anderes Team abzugeben. Vom Kindergarten bis zur Primarschule und eventuell zur Matur wurde der Patient bei vielen wichtigen Entwicklungsschritten begleitet. Man war Ansprechpartner für die
Lehrer im Ski- und Klassenlager, hat Eltern und Grossel-
tern geschult, dann den Übergang in die Selbstständig-
keit begleitet und erste «Erwachsenenfragen», zum Bei-
spiel zu Alkohol, Rauchen und Verhütung, zusammen mit
dem Jugendlichen beantwortet.
Zudem tauchen auch Fragen und Zweifel auf, wie: Kümmert sich das neue Team gut um meinen Patienten? Habe ich vielleicht in den vielen Jahren auch aus der Routine
In der Pubertät ist die Blutzuckereinstellung oft schwieriger.
heraus etwas verpasst? Wie geht es weiter?
Nach vielen Jahren der kontinuierlichen Betreuung kommt
es zu einem mehr oder weniger abrupten Ende der oft
vertrauensvollen Beziehung, was für viele pädiatrische
Teams schwierig ist.
... und in der Erwachsenenmedizin
Auch die Kollegen der Erwachsenenmedizin haben zunächst eine neue Hürde zu meistern: Sie müssen den jungen Erwachsenen aus einem eingespielten Team übernehmen, das zudem viele Jugendliche nicht gerne verlassen. Und auch wenn ein Übergabebericht vorliegt und zuvor eine gemeinsame Transitionssprechstunde stattgefunden hat, können den übernehmenden Kollegen doch nie alle Informationen aus den letzten Jahren vorliegen. Zudem müssen sie einen Weg finden, ab jetzt den Patienten selbst in die Verantwortung zu nehmen und in den Mittelpunkt zu stellen. Trotzdem spielen die Eltern in der Adoleszentenzeit oft noch eine grosse Rolle, was für einen internistischen Diabetologen meist ungewohnt ist. Grundsätzliche Unterschiede in der Betrachtungs- und
«Bei keinem anderen Arzt (gemeint ist der Kinderdiabetologe, Anm. der Verfasser) musste ich so regelmässig vorstellig werden, ihm viel berichten und vor allem vertrauen. Er begleitete mich nicht nur als Arzt, sondern auch als Psychologe und guter Freund (…) Interessiert sich der neue Arzt dafür, wie es mir geht?»
Erfahrungsbericht einer jugendlichen Diabetespatientin (1)
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Schwerpunkt
Abbildung 1: HbA1c-Verläufe im Kindes- und Jugendalter nach Abschluss der Remissionsphase. 10 462 männliche Patienten, 9832 weibliche Patientinnen; p < 0,0001 (nach [5]) Abbildung 2: Rate stationärer Aufnahmen aufgrund einer diabetischen Ketoazidose (DKA) pro 100 Patientenjahre mit 95%-Konfidenzintervall nach Alter (nach [6]) Herangehensweise von Pädiatern und Erwachsenenmedizinern sind in der Tabelle zusammengefasst (nach [4]). Herausforderungen für den jugendlichen Diabetiker In der Pubertät ist die Blutzuckereinstellung oft schwieri- ger, wofür es viele Gründe gibt. Dazu gehört vor allem die vermehrte Ausschüttung kontrainsulinärer Hormone, wie Wachstumshormon oder Sexualhormone, die eine physiologische Insulinresistenz bedingen und die Blutzu- ckereinstellung unberechenbarer machen. Zudem benö- tigt man in dieser Zeit so viel Insulin pro Typ-1-Diabetiker brauchen im Adoleszentenalter viel Insulin. kg Körpergewicht wie nie zuvor und auch später nie wieder. Allerdings ist das genau die Zeit, in der auch die eigenen Prioritäten neu sor- tiert werden. Die Behandlung des Diabetes gehört meist nicht in die «Top Ten» der wichtigsten Angelegenheiten eines Jugendlichen. Dies führt dazu, dass Termine nicht mehr regelmässig eingehalten und Insuline vergessen wer- den. Die Hyporeserve wird nicht mehr mitgenommen, der Tabelle: Unterschiede zwischen pädiatrischer und internistischer Betreuung Pädiater Internist Vermeidung akuter Komplikationen, normales Wachstum und Entwicklung FOKUS Spätkomplikationen weniger im Fokus Langzeitperspektive mit Vermeidung von Spätkomplikationen Interaktion mit Familie und Schule, oft persönliches Verhältnis, STRATEGIE Empowerment Unabhängigkeit und Selbstständigkeit des Patienten voraussetzend, oft unpersönlicher, oft stärkere medikamentöse Orientierung eher multidisziplinär TEAM eher individualisiert Kinder, Jugendliche KLIENTEL Erwachsene, ältere und krankere Patienten Mangel an Erfahrung betreffend Folgeerkrankungen, die sich im Erwachsenenalter manifestieren. DEFIZITE Mangelnde Kooperation mit internistischem Team Mangel an Erfahrung im Umgang mit Jugendlichen bzw. Problemen der Pubertät und Adoleszenz. Mangelnde Kooperation mit pädiatrischem Team nach (4) Blutzucker seltener gemessen und so weiter. Eine Transition in genau dieser Phase ist schwierig, da sie nie als eine Art Bestrafung angesehen werden darf: «Weil es jetzt nicht mehr so gut läuft wie vorher noch mit den Eltern, musst du jetzt gehen.» Eine solche Phase sollte idealerweise von dem bekannten Team begleitet werden können, damit der junge Diabetiker im Anschluss die Transition als wichtigen und sinnvollen Schritt zum Erwachsensein verstehen und annehmen kann. Transition speziell in der Diabetologie Die Transition in der Diabetologie steht ganz besonders im Fokus, da das Diabetesmanagement von Beginn an alle Bereiche des täglichen Lebens betrifft, wie Schule, Sport/ Freizeit, Essen, Berufs- und Familienplanung. Dazu kommen in der Adoleszenz weitere Herausforderungen, wie die Ablösung von den Eltern, die Identitätsfindung und das Entwickeln von Zukunftsperspektiven – Herausforderungen, die schon viele nicht diabetische Jugendliche überfordern können. Das kontinuierliche Diabetesmanagement ist daher in diesem Alter besonders schwierig. Dementsprechend ist in keiner anderen Lebensphase der HbA1c-Wert höher als zwischen 14 und 19 Jahren (Abbildung 1) (5). Auch die Rate akuter Komplikationen, wie Hypoglykämien und Ketoazidosen, ist in diesem Alter am höchsten (Abbildung 2) (6). Die Transition darf nicht als ein punktuelles Ereignis verstanden werden. Statt wie in den Jahren zuvor in einer «Triade» zu agieren (Pädiater, Eltern, Kind), muss schon vor der Transition ein Wechsel zu einem «dualen» System stattfinden, in dem der Jugendliche im Mittelpunkt der Konsultation in der Diabetessprechstunde steht (3). Bewährt hat es sich, den Transitionsprozess mit dem Jugendlichen bereits zirka 1 bis 2 Jahre vor der eigentlichen Transition zu starten. Das UKBB hat hierfür einen Flyer entwickelt, auf dem die wesentlichen Punkte für den Jugendlichen zusammengefasst sind (siehe www.rosenfluh.ch/flyer-diabetestransition). Der richtige Zeitpunkt Neben persönlichen Wünschen des Diabetespatienten spielen weitere Aspekte eine Rolle für den richtigen Zeitpunkt der Transition. 20 Pädiatrie 5 + 6/19 Schwerpunkt Ein wichtiger somatischer Aspekt ist der Abschluss der Pubertätsentwicklung beziehungsweise der Abschluss des Wachstums vor der Transition, denn beides sind Parameter, mit denen der Erwachsenenmediziner weniger vertraut ist. Allerdings ist dabei zu beachten, dass die Pubertätsentwicklung in den letzten Jahrzehnten eher früher einsetzt, die Eigenständigkeit vieler Jugendlicher mit Berufsleben, Auszug aus dem Elternhaus, Gründung einer eigenen Familie hingegen eher später stattfindet. Mit dem 18. Geburtstag ändern sich auch versicherungstechnische und administrative Aspekte. Es treten neue Fragen in den Vordergrund, wie zum Beispiel: Welchen Beruf darf ich als Diabetiker eigentlich ausüben beziehungsweise nicht ausüben? Wie ist es mit dem Erwerb des Führerscheins? Was muss ich beachten bezüglich einer möglichen Schwangerschaft? Ab 18 Jahren sind zudem oft andere Medikamente und Insuline zugelassen sowie auch andere Glukosemesssysteme (aktuell zum Beispiel Eversense®) zur kontinuierlichen Blutzuckermessung, mit denen der Pädiater wenig Erfahrung hat, sodass er den jungen Erwachsenen auch nicht mehr so umfassend beraten kann. Ein weiterer wichtiger Aspekt für den richtigen Zeitpunkt der Transition ist der Schulabschluss beziehungsweise der Zeitpunkt vor Beginn der Ausbildung mit Beginn eines neuen und selbstständigeren Lebensabschnitts mit mehr Eigenverantwortung, zum Teil verbunden mit dem Wegzug des Jugendlichen aus dem Elternhaus und der Umgebung. Betreuungslücken vermeiden Ohne entsprechende Vorbereitung zeigt sich, dass nach Ende der pädiatrisch-diabetologischen Betreuung oft grosse Lücken in der weiteren internistischen Betreuung entstehen, wie auch eine Stellungnahme der österreichischen Gesellschaft für Diabetologie zeigt (7). Demnach werden in Österreich über 80 Prozent aller Kinder mit Typ-1-Diabetes in spezialisierten pädiatrischen Zentren von einem Fachteam betreut. Nach der Übergabe sind es nur noch 40 Prozent, die in einem entsprechenden Zentrum für erwachsene Diabetiker betreut werden; ein hoher Prozentsatz der Patienten habe keine weiterführende Betreuung durch Diabetesexperten, und von bis zu 10 Prozent wisse man gar nicht, ob und wo sie weiter betreut werden (7). Ähnliche Verhältnisse bestehen auch in Deutschland (8) oder England (9). Darüber hinaus konnte gezeigt worden, dass sich im ersten Jahr der internistischen Betreuung sowohl der HbA1c als auch die Rate der Hypoglykämien und der diabetischen Ketoazidosen erhöhte, während sich dies im zweiten Jahr der internistischen Betreuung wieder bessert (10). Informative Websites für junge Diabetiker (Auswahl) www.diabetesgesellschaft.ch Homepage der Schweizer Diabetesgesellschaft www.mein-blutzucker.ch Hier finden sich viele Informationen rund um den Diabetes und die Möglichkeiten seiner Therapie. Ausserdem berichten Blogger regelmässig über ihr Leben mit dem ständigen Begleiter: Sie schreiben über ihren Alltag oder spezielle Erlebnisse und geben nützliche Tipps für jeden Tag. www.mein-diabetes-blog.com Diabetesblog von Ilka und Finn, die beide von Kindheit an Typ-I-Diabetiker sind und beide eine Insulinpumpe tragen. In ihrem Blog berichten sie von ihren Erfahrungen und vom Alltag mit der Krankheit sowie über alles Wichtige zum Thema Diabetes mellitus. Dieses Blog soll vor allem verdeutlichen, dass es heute durchaus möglich ist, mit Diabetes fast ohne Einschränkungen leben zu können. www.between-kompas.com Das Erwachsenwerden mit chronischer Krankheit ist nicht immer einfach. Auf dieser Homepage werden Betroffene, aber auch deren Eltern, beim Übergang in das Erwachsenenleben und die Erwachsenenmedizin unterstützt. Hier findet man wichtige Infos rund um Liebe, Beruf und Arztwechsel, weiterführende Links sowie Erfahrungsberichte und hat zudem die Möglichkeit, sich im Forum mit anderen auszutauschen oder im Expertenrat anonym Fragen zu stellen. In einem separaten Bereich können sich Eltern zusätzlich über das «Erwachsenwerden lassen» der Kinder informieren. www.diatribe.org Diatribe ist eine englischsprachige Diabetesplattform, welche sich mit sämtlichen Aspekten des Lebens mit Diabetes befasst. Themen wie neueste Technologien, Ernährung, Sport und Psychologie werden spannend und immer mit direktem Bezug zum alltäglichen Leben vorgestellt. www.idaa.de Die IDAA ist eine weltweite Vereinigung von Sportlern mit Diabetes, vom Freizeitkicker bis zum Olympiasieger. Ziel ist es, mit den Informationen und Veranstaltungen auch das Fachpersonal aus den verschiedenen Bereichen des Gesundheitswesens für das Thema Diabetes und Sport zu sensibilisieren und diesbezüglich zu unterstützen. Korrespondenzadresse: Dr. med. Melanie Hess Oberärztin Pädiatrische Endokrinologie/Diabetologie/Adipositas Pädiatrische Poliklinik Universitätskinderspital beider Basel (UKBB) Spitalstrasse 33 4031 Basel E-Mail: Melanie.Hess@ukbb.ch Co-Autoren: Yannick Louoba ist Diabetesfachberater HöFa1 am UKBB, Prof. Urs Zumsteg ist Chefarzt Ambulante Medizin, Endokrinologie/Diabetologie am UKBB. Interessenlage: Die Autoren erklären, dass keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel bestehen. Fazit Die Transition von jungen Erwachsenen mit Typ-1-Diabetes muss zu einem individuellen Zeitpunkt erfolgen und orientiert sich an den persönlichen Bedürfnissen und Lebensumständen jedes Einzelnen. Sinnvoll ist eine langfristige Planung mit schrittweiser Vorbereitung des Patienten auf die veränderte Herangehensweise der Erwachsenenmedizin. Das Ziel sollte eine Transition in die internistische Diabetologie ohne Abbruch oder Unterbruch in der Betreuung sein. 5 + 6/19 Pädiatrie 21