Transkript
Schwerpunkt
«Eine feste Bezugsperson ist Gold wert»
Erwachsene mit neurologischen Mehrfachbehinderungen sind für viele Ärzte und Spitäler eine Herausforderung. Wir sprachen mit Dr. med. Christian Kätterer, FMH Neurologie und Leitender Arzt am REHAB Basel, Klinik für Neurorehabilitation und Paraplegiologie, darüber, wie sich die Transition bei diesen Patienten von der Erwachsenenseite her betrachtet darstellt. Unser Interviewpartner gehört zu den Initianten des Vereins transition1525, der im Dezember 2017 gegründet wurde und sich für einen standardisierten Transitionsprozess in der Schweiz einsetzt
Dr. med. Christian Kätterer Leitender Arzt REHAB Basel
Herr Dr. Kätterer, gibt es in der Schweiz genügend Zentren für Menschen mit neurologischen Mehrfachbehinderungen, die der Pädiatrie entwachsen sind? Dr. med. Christian Kätterer: Es gibt für solche Patienten viel zu wenige Zentren in der Schweiz. Diese Patienten brauchen eine schwerpunktmässige und sehr individuelle Betreuung. Hier am REHAB Basel haben wir eine spezielle Situation durch die jahrelange enge Kooperation mit dem Universitäts-Kinderspital UKBB. Diese Zusammenarbeit begann kurz nach der Jahrtausendwende, und heute ist es so, dass wir die Patienten ambulant mit dem Schwerpunkt der Übertrittssituation ins Erwachsenenalter stufenweise übernehmen. Parallel entwickelte sich das REHAB bezüglich ambulanter Betreuung zum einzigen grossen Zentrum für erwachsene Zerebralparetiker in der Nordwestschweiz, mit derzeit ungefähr 650 angeschlossenen Patienten. Wir haben die Sprechstunde auch für Betroffene aus anderen Regionen ausgeweitet, weil es in anderen Bezirken des Landes fast nichts gibt. Darum kommen auch Patienten aus dem Wallis, Tessin oder Bündnerland sowie aus der Romandie, weil ich recht gut Französisch spreche. Überdies arbeiten wir seit vielen Jahren mit den HJU im Jura mit besonderem Schwerpunkt in Porrentruy zusammen.
Welche Rolle spielt der Hausarzt für diese Patienten? Kätterer: Der Hausarzt bleibt nach wie vor wichtig in der Grundversorgung. Es ist aber zunehmend tatsächlich ein Problem für Menschen mit Mehrfachbehinderung einen Hausarzt zu finden. So kenne ich einen Pa-
Es ist ein Problem für Menschen mit Mehrfachbehinderung, einen Hausarzt zu finden.
tienten, der noch von seinem 75-jährigen Hausarzt betreut wird, was natürlich ein unhaltbarer Zustand ist. Es gibt auch einige Neuropädiater in der Praxis, die ihre
ehemals pädiatrischen Patienten weiterhin hausärztlich betreuen, weil sie zumindest regional keinen Kollegen finden, der die Hausarztfunktion weiter übernimmt. Ich kenne das Problem auch aus meiner Konsiliar- und Reha-Nachsorgepraxis im Jura. Ungefähr ein Viertel meiner Konsultationszeit ist nicht nur den allgemeinneurologischen und zerebralparesespezifischen Themen gewidmet, sondern es geht um Blutzucker, Blutdruck, Diabetes- und Asthmatherapie, die ich dann verordne, weil es keinen Hausarzt gibt.
Warum ist es so schwierig für Menschen mit neurologischen Mehrfachbehinderungen, einen Hausarzt zu finden? Kätterer: Es ist ein vielschichtiges Problem. Ein Grund ist, dass wir die Talsohle in der Hausarztmedizin in der Schweiz noch lange nicht erreicht haben. Es gibt immer weniger Hausärzte, weil viele von ihnen ins Pensionsalter kommen, und dieser Trend wird sich noch etwa drei bis vier Jahre lang fortsetzen. Frühestens dann kann es wieder besser werden. Vorübergehend werden aber um die 4000 bis 5000 Hausärzte in der Schweiz fehlen. Ein weiteres Problem für die Zerebralparetiker ist eine Strömung in der Schweiz, die verständlicherweise stärker wird: Es gibt weniger Einzelpraxen mit dem typischen Hausarzt, der die regionale Grundversorgung übernimmt sowie Haus- und Heimbesuche macht. Stattdessen gibt es immer mehr Gruppenpraxen. Das macht die Betreuung von Zerebralparesepatienten, gelinde gesagt, schwierig. Wenn ich in Gruppenpraxen verlange, dass es für meinen Patienten nur einen einzigen festen Ansprechpartner geben muss und nicht jeden Tag wechselnde, habe ich schon rechte Konflikte erlebt. Die Zersplitterung der Zuständigkeiten in Gruppenpraxen entspricht nicht der medizinischen Betreuung, die Menschen mit Behinderungen brauchen. Eine feste Bezugsperson ist Gold wert. Für diese Menschen ist immer noch ein Arztmodell gefragt, das zwar veraltet ist, aber an einigen Orten durchaus noch gelebt
24
Pädiatrie 5 + 6/19
Schwerpunkt
wird. Auch hier in der Region gibt es Hausärzte, die es sich nicht nehmen lassen, von Muttenz oder Pratteln nach Binningen zu fahren, um ein ganzes Wohnheim zu betreuen und dafür verantwortlich zu sein, während eine Gruppenpraxis keine 200 Meter entfernt vom Wohnheim sich nicht imstande sieht, dort einmal einen Domizilbesuch zu machen. Ein weiterer Grund für den Mangel an Betreuung ist der Zeitaufwand für den stetig steigenden Administrationsdruck. Wir müssen uns vor allem bezüglich ambulanter Langzeittherapien ständig vor den Krankenkassen rechtfertigen. Es gibt sogar Fragebogen von Krankenkassen mit dem Hinweis «Bitte legen Sie die dazu gehörende Literatur bei, die belegt, dass die Therapie wirksam ist». Dieser Druck ist besonders in der Zerebralparetikerszene spürbar, wo jetzt der Sparhebel angesetzt wird und die Kassen am ehesten Morgenluft wittern, um Leistungen, wie zum Beispiel eine Langzeitphysiotherapie, einzusparen. Diesem Druck wollen sich viele Kolleginnen und Kollegen nicht mehr aussetzen.
Fehlt es auch an Zentren, weil Fachärzte fehlen? Kätterer: Ja, und es gibt noch einen weiteren Grund. Institutionen müssen sich rechnen, selbst wenn sie nicht profitorientiert sind. Solche Spezialsprechstunden sind aber von der Tarifierung her viel uninteressanter als beispielsweise aufwendige diagnostische Verfahren. Hinzu kommt, dass uns die Gesundheitspolitik vorschreibt, dass wir für Menschen mit komplexen Problemen pro Konsultation nicht mehr als 30 Minuten aufwenden dürfen. Machen sie einmal bei einem Patienten mit Mehrfachbehinderung eine Erstkonsultation in 30 Minuten! Sie brauchen bei einer Transition für die erste Sprechstunde von vorneherein zwei Stunden, und auch die Folgekonsultationen brauchen alle in der Regel mehr als eine halbe Stunde. Und es fehlt, wie gesagt, an Fachleuten für solche Patienten. Unter den Erwachsenenneurologen habe ich viele Kollegen, die ausgezeichnete Diagnostiker sind, aber die sozialmedizinische Seite der Betreuung nicht übernehmen können. Es gilt, die richtigen Berufskollegen zu finden, die dafür eine Ader haben. Ich würde sogar so weit gehen und sagen: Für die Führung von Spezialsprechstunden, wie ich sie jetzt hier am REHAB durchführe, muss man nicht unbedingt Neurologe sein. Das kann auch ein Neuropädiater mit Kenntnissen in der Erwachsenenneurologie übernehmen. Es kann auch ein Internist mit einem neurorehabilitativen Grundverständnis sein oder ein Neuroorthopäde. Die Frage ist eher: Gelingt es mit der Erfahrung der Jahre, dass man sich in diese Prozesskontinuität genügend hineinlebt?
Was können die Pädiater in der Praxis konkret tun, um den Transitionsprozess dieser Jugendlichen zu ebnen? Kätterer: Es wäre hilfreich, wenn der Pädiater so viele Informationen wie möglich schon vor der Transition gesammelt und aufbereitet hat. Das betrifft neben den medizinischen Daten auch Informationen zu neuropsychologischen Tests, sozialmedizinisch relevante Informationen über die Familienverhältnisse und das Wohnkonzept, zum Beispiel zur Frage, ob der Patient zu Hause oder zum Teil in einer geschützten Tagesstätte lebt.
Wir von transition1525 (Anm. d. Red.: Mehr zu transition1525 finden Sie im Beitrag «Transition – ein Standard für die Schweiz» auf Seite 4) erarbeiten zurzeit eine Transitionsdokumentation, die dann nicht nur den Spitälern zugänglich sein wird. Patienten, die ins Transitionsalter rücken, sollen damit schon im Alter von 14, 15 Jahren erfasst werden. Was tut sich perspektivisch? Kommt beispielsweise eine geschütze Anlehre infrage? Gab es eine neuropsychologische Abklärungsrunde im Kindes- und Jugendalter? Damit sollen im Vorfeld Daten im Hinblick auf die eigentliche Transition dokumentiert werden. Die Transition beginnt ja nicht plötzlich mit dem 18. Geburtstag, sondern sie fängt früher an. Die Idee ist, dass wir letztlich ein elektronisch abgestütztes Transitionsnetzwerk aufbauen mit einer Transitionskrankenakte, auf welche die zuständigen Netzwerkteilnehmer Zugriff haben.
Wie läuft die Transition zurzeit? Kätterer: Im Moment läuft sie noch ganz klassisch. Das Kinderspital in Basel meldet mir den Patienten und schickt die medizinischen Akten beziehungsweise, in einfachen Fällen, ein Überweisungsschreiben. Die einfacheren Fälle sehe ich dann zum ersten Mal direkt bei mir. Falls der Fall komplexer ist, hat es sich sehr bewährt, dass ich zunächst einmal ans UKBB gehe und bei der vorletzten oder letzten Sprechstunde dabei bin. Dann haben auch die Eltern Gelegenheit, mich kennenzulernen. Ich übernehme hier bereits die Rolle des Case
Der Zeitpunkt der Transition ist ein heikler Moment, um in der Masse der Zerebralparetiker diejenigen nicht zu übersehen, die mehr können, als ihnen zugetraut wird.
Managers. Künftig soll diese Rolle in einem geordneten Transitionsprozess aber von speziellen entsprechend geschulten Case Managern übernommen werden.
Woher sollen diese Case Manager kommen und wer bezahlt sie? Kätterer: Wir denken dabei an Personen, die mit dem Verein transition1525 zusammenarbeiten. Die Bezahlung ist noch nicht gelöst. Am einfachsten wäre es, wenn wir ein Kollaborationsmodell mit der IV hinbekommen würden, mit einer Pauschale. Wir haben in unserer Vereinigung auch gehört, dass der Bund neuerdings besonders erfolgversprechende Projekte im Gesundheitswesen unterstützt und diese direkt vom Bund finanziert werden. Auch das könnte eine Möglichkeit sein.
Wie selbstständig beziehungsweise erwachsen kann ein Mensch mit Zerebralparese werden? Kätterer: Das ist ein enorm breites Spektrum. Zum einen sind das Menschen, die schwerstbehindert sind und sehr intensive Eins-zu-eins-Hilfeleistungen und Betreuung brauchen. Dann gibt es Patienten, die in geschützten Institutionen wohnen, ohne Leistungs- und Zeitdruck kreativ arbeiten und, medizinisch unterstützt, ein gutes Leben führen. Und dann gibt es tatsächlich
5 + 6/19 Pädiatrie
25
Schwerpunkt
einen kleinen Teil Betroffener, die, von motorischen Befunden einmal abgesehen, als Erwachsene voll selbstständig agieren können. Es gibt Zerebralparetiker, die sind Staatsanwälte, und es gibt auch solche, die volle Leistung in der freien Marktwirtschaft bringen. Viele dieser Menschen werden auch anders erwachsen. Der Zeitpunkt der Transition ist ein heikler Moment, um in der Masse der Zerebralparetiker diejenigen nicht zu übersehen, die mehr können, als ihnen zugetraut wird. Die Möglichkeiten dieser Menschen muss man ganz genau anschauen, denn sie könnten sich durchaus mit selektiven Förderungsmassnahmen entfalten. Es ist schlecht, wenn die IV einfach nur aufgrund der Aktenlage entscheidet, dass ein Jugendlicher sicher berentet werden soll, statt ihm eine geschützte Anlehre zu genehmigen.
Diese Menschen werden zum Teil verzögert erwachsen.
Es sind ungefähr vier bis sechs Fälle pro Jahr, die ich sozusagen «herausfische». Wir bilden uns eine neue Meinung, manchmal gegen den heftigen Widerstand gewisser IV-Stellen, testen den Erwachsenen gemäss der neuropsychologischen Standardkriterien für Erwachsene und stellen fest: Dieser Mensch kann mehr! Die IV verwaltet diese Menschen leider nur. Sie beschliesst aufgrund von Befunden, die Pädiater früher einmal erhoben haben. Dabei wird völlig vergessen, dass die Hirnreifung verzögert ablaufen kann. Diese Menschen werden zum Teil verzögert erwachsen. Sie wirken vielleicht mit 24 oder 30 Jahren wie gesunde 12- bis 14-Jährige, aber es ist ja nicht so, dass die Gehirnentwicklung mit Erreichen des Erwachsenenalters von 18 Jahren einfach stehen bleibt.
Man hört oft, dass die Spitäler in gewisser Weise Angst vor neurologisch mehrfach behinderten Menschen hätten. Ist da etwas dran? Kätterer: Die Schwierigkeiten fangen an, wenn ein Zerebralparetiker auf die Notfallstation ins Spital muss, wo ihn niemand kennt und die Pflege im Umgang mit
diesen Personen überfordert ist. Es ist aber nicht nur im Notfall ein Problem. Es gibt Spitäler, die diese Personen gar nicht gerne annehmen. Dabei spielt mit Sicherheit auch unser Tarifsystem eine Rolle. Das Akutspital ist darauf ausgerichtet, die Patienten möglichst rasch und kostengünstig wieder zu entlassen. Aber es ist schlicht Horror, wenn ein Mensch mit Behinderung schon nach drei oder vier Tagen wieder aus dem Akutspital entlassen wird. Wenn ein Eingriff im Spital ansteht, sind wir darum sehr bemüht, spezielle Kostengutsprachen für die Betreuung oder spezielle Tarifvergütungen vorab zu klären.
Auch Sozialberatungsdienste seien im Erwachsenenalter weniger verfügbar. Haben Sie in dieser Hinsicht einen Tipp? Kätterer: Dieser Mangel ist eine traurige Realität. Vor vielen Jahren gab es auch an unserer Klinik noch einen Sozialdienst, der weiter zuständig für ambulante Patienten blieb. Das gibt es schon lange nicht mehr. Nun wird regional und dezentral betreut, sei es von Stiftungen wie Pro Infirmis oder von kantonalen Diensten. Dort erlebe ich zum einen sehr engagierte Sozialberater, die sogar Termine zurückmelden, sich für Vermittlungen einsetzen und sicher weit über ihre Arbeitszeit hinaus aktiv sind. Andererseits erlebe ich leider aber auch andere kantonale Sozialdienste, die auf absoluter Sparflamme laufen, wo man ständig nachstossen muss und nach drei Monaten immer noch keine Antwort bekommt. Ich kenne kaum Akutinstitutionen mit einer eigenen nachhaltigen und die Kontinuität sicherstellenden Sozialberatung über den stationären Rahmen hinaus. Im Kinderspital ist das noch anders. Dort spielt der Sozialdienst in der Transitionsphase, so wie wir diese im Konzept von transition1525 beabsichtigen, eine zentrale und zu Recht grosse Rolle.
Herr Dr. Kätterer, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Dr. Renate Bonifer.
26
Pädiatrie 5 + 6/19