Transkript
Schwerpunkt
Chronische Krankheiten und Sexualität
Jugendgynäkologische Aspekte der Transition
Chronisch kranke Mädchen sind häufig beim Arzt, bei ihrem Pädiater und beim Spezialisten. Je komplexer die Fehlbildung oder Erkrankung, desto mehr Ärzte sind involviert. Doch wer spricht über intime Fragen, über Menstruation, Pubertät, Verhütung, Sexualität? Wann, wie und von wem sollten intime Fragen angesprochen werden?
Von Ruth Draths
Die 17-jährige Alysha hat eine bekannte Spina bifida mit Lähmungsniveau L3, L4 und mehrfachen Blasenoperationen. Sie leidet an rezidivierenden Zystitiden und hat eine bekannte Nierenfehlbildung. Regelmässig finden Kontrollen der Nieren- und Blasenfunktion sowie neurologische und neurochirurgische Kontrollen statt. Zurzeit ist die Transition von der pädiatrischen in die Erwachsenenabteilung der jeweiligen Spezialisten geplant. In den letzten Wochen war sie wegen wiederkehrender Abdominalschmerzen beim Hausarzt. Nach mehreren antibiotischen Therapien wegen Zystitis wird sie zum Urologen weitergewiesen, der die Indikation zum i.v.-Pyelogramm stellt. Im Röntgenbild zeigt sich eine Schwangerschaft, zirka in der 23. Schwangerschaftswoche.
Der Rollstuhl ist kein Verhütungsmittel!
Bei Alysha wurde von den betreuenden Ärzten nicht
wahrgenommen, dass sie inzwischen zu einer jungen
Frau herangewachsen ist und wie jede andere Jugendli-
che sexuelle Bedürfnisse hat. Es wurde aber noch viel
mehr verpasst. Es gab keine Vorstellung bei
Jugendliche mit chronischen Krankheiten sind oft weniger gut aufgeklärt als ihre Altersgenossen.
der Jugendgynäkologie, keine Gespräche über Verhütung, über Sexualität, über die speziellen Bedürfnisse von Mädchen im Rollstuhl. All das hat bei Alysha nicht stattgefunden, obwohl die Pubertätsentwicklung bei Mädchen mit Spina bifida oft nicht unprob-
lematisch ist, zeigen sie doch vermehrt eine
Pubertas praecox, Dysmenorrhö wegen Fehlbildungen im
urogenitalen Bereich oder auch motorisch bedingte Pro-
bleme im Umgang mit der Menstruation.
Besonders tragisch ist die fehlende jugendgynäkologische
Beratung, da bei Alysha keine präkonzeptionelle Vorbe-
reitung auf die Schwangerschaft, keine Folsäureprophy-
laxe (bei Spina bifida!), keine pränatale Beratung und
somit auch kein Fehlbildungsultraschall stattfand. Auch
konnte die so wichtige psychosoziale Begleitung für schwangere Teenager nicht rechtzeitig ermöglicht werden. Als zusätzliche Belastung kommen die Röntgenstrahlung sowie die Medikamenteneinnahme während der unerkannten Schwangerschaft dazu. So konnte Alysha von all dem Fortschritt der modernen Medizin, der Pränataldiagnostik, der zeitgemässen Schwangerenbegleitung und den psychosozialen Hilfestellungen nicht profitieren: Gerade sie, die dies mit ihrer Einschränkung und Gefährdung in besonderem Masse gebraucht hätte! Wie konnte es dazu kommen?
Sexualität und Behinderung: ein doppeltes Tabu
Sexualität und Behinderung sind (immer noch) ein doppeltes Tabu. Personen im Rollstuhl wird oft gar keine sexuelle Aktivität zugetraut, insbesondere Menschen mit Mehrfachbehinderungen. Oft bestehen aber auch Hemmungen beim Arzt, intime Themen von sich aus anzusprechen. Über Sexualität zu reden, muss gelernt und geübt werden, denn Jugendliche spüren Unsicherheiten, Befangenheit und Zeitmangel sehr feinfühlig, sodass sie von sich aus oft keine intimen Fragen stellen (1). Deshalb ist es wichtig, dass die Jugendgynäkologin frühzeitig in die Transition einbezogen wird und dass die Pubertät mit all ihren Fragen und Problemen von ihr begleitet werden kann. So verschieden die vielen chronischen Erkrankungen auch sind, alle Jugendlichen durchlaufen die Pubertät und sind mit ähnlichen Phänomenen der Veränderung konfrontiert. Die hormonelle Reifung wirkt sich auf verschiedene Organsysteme, auf den Stoffwechsel und auf das Immunsystem aus, aber es verändert auch die psychosoziale, emotionale und sexuelle Reifung, die gesamte Persönlichkeit des jungen Menschen. Chronisch kranke Jugendliche befinden sich in einer speziellen Situation, einerseits durch die Grunderkrankung,
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Abbildung 1: Pubertätsentwicklung, klinische Beurteilung gemäss Tanner-Stadien
andererseits durch die psychosoziale Situation und die oft krankheitsbedingte Abhängigkeit von Hilfe und Pflege. Daher spielen sich unabhängig von der Erkrankung immer wieder ähnliche Muster ab, und sie führen zu den Problemen, die in Tabelle 1 zusammengestellt sind.
Potenziell gefährliche Unwissenheit
In verschiedenen Untersuchungen bei Jugendlichen mit chronischen Erkrankungen oder Einschränkungen zeigt sich immer wieder ein ähnliches Bild: Die Jugendlichen sind weniger gut aufgeklärt als ihre Altersgenossen, sie wissen weniger über Verhütungsmittel, wenden seltener Kondome oder andere Kontrazeptiva an und erkranken häufiger an sexuell übertragbare Infektionen wie Chlamydien oder Gonorrhö (2). Gerade bei Jugendlichen mit schwerwiegenden chronischen Erkrankungen wie zystischer Fibrose oder kongenitalen Herzkrankheiten ist dies von grosser Bedeutung, wie das folgende Fallbeispiel verdeutlicht: Bei Melanie ist seit früher Kindheit eine Kardiomyopathie bekannt. Sie hatte regelmässige kardiologische und pädiatrische Kontrolluntersuchungen. Im Verlauf der Pubertät entzog sie sich zunehmend den ärztlichen Kontrollen und war als junge Erwachsene nur noch gelegentlich beim Hausarzt, da sie keine Beschwerden verspürte. Der Wunsch, gesund und unabhängig zu sein, zu leben wie die Gleichaltrigen, war so stark, dass sie die Kontrolltermine verdrängte. Mit 21 Jahren plante sie mit ihrem Freund eine Schwangerschaft, ohne um die damit verbundene Gefahr zu wissen. Nach Eintritt der Schwangerschaft kam es rasch zur Verschlechterung des kardialen Zustandes und zur kardialen Dekompensation. Präterminal wurde sie in die Universitätsklinik eingeliefert, und es wurde eine Interruptio vorgenommen, die keine Verbesserung brachte. Eine Herzoperation konnte die junge Frau auch nicht mehr stabilisieren. Sie verstarb während des Wartens auf eine Herz-Lungen-Transplantation.
Wann soll beraten werden?
Jugendliche wünschen sich mit 12 bis 13 Jahren eine kontrazeptive Beratung. Die Mütter von betroffenen Jugendlichen möchten gerne noch früher vom Arzt über Fertilität und Kontrazeption informiert werden (3). Obwohl das ärztliche Gespräch als Hauptinformationsquelle gewünscht wird, geben 87 Prozent der Jugendlichen an, nie mit dem Arzt über sexuelle Fragen gesprochen zu haben (4). Diese Untersuchungsdaten beziehen sich auf das Gespräch mit dem Pädiater sowie auch auf die jeweiligen Spezialisten. Heutzutage werden Jugendliche mit chronischen Erkrankungen vermehrt der Jugendgynäkologin zugewiesen, was zur verbesserten Information und Aufklärung beiträgt, wie das folgende Fallbeispiel zeigt: Lucia kam mit hypoplastischem Linksherz zur Welt und erlebte in frühester Kindheit mehrfache Herzoperationen. Mit 15 Jahren wird sie erstmals zur jugendgynäkologischen Kontrolle geschickt. Bei diesem schweren Herzfehler besteht eine Indikation zur absolut sicheren Kon- trazeption. Nach ausführlicher Besprechung der Situation mit Lucia und ihrer Mutter und dem Gespräch über die Wünsche der Jugendlichen wird der Entscheid für die Einlage eines Gestagenimplantats gestellt. Der weitere Verlauf gestaltet sich problemlos. In den jährlichen Kontrollen werden jeweils die gesamte gesundheitliche Situation besprochen sowie die sexuelle Entwicklung, Fragen von Zyklusstörungen, Partnerschaft und späterem Kinderwunsch. Lucia ist seit ihrer Jugend über das extrem hohe Schwangerschaftsrisiko aufgrund ihres Herzfehlers informiert und hat dies offen mit ihrem Freund besprochen. Sowohl der pädiatrische Kardiologe als auch später die Erwachsenenkardiologie sind über die sichere Kontrazeption und die regelmässigen gynäkologischen Kontrollen informiert. Diese Transition ist problemlos gelungen.
Kongenitale Herzkrankheiten und Jugendsexualität
Studien zeigen, dass sich Jugendliche mit chronischen Herzkrankheiten ähnlich verhalten wie herzgesunde Jugendliche. Sie sind früh sexuell aktiv, im Durchschnitt mit 15 Jahren, haben das gleiche Risikoverhalten wie Herzgesunde und gemäss einiger Studien sogar häufiger ungeschützten Verkehr (4–6). Chronische Erkrankungen werden von den Betroffenen oft so gut wie möglich ignoriert oder verdrängt, besonders in der Jugendzeit. Daher erstaunt es nicht, dass die
Tabelle 1:
Häufige Probleme chronisch kranker Teenager
● weniger Selbstständigkeit, häufige Überprotektion durch die Eltern ● weniger Zugang zu sexueller Aufklärung und Informationen ● weniger Wissen über Kontrazeption und Fertilität ● seltenere Anwendung des Kondoms ● mehr sexuell übertragbare Infektionen ● mehr heimliche sexuelle Beziehungen ● mehr ungewollte, ungeplante Schwangerschaften ● wenig Wissen um die eigene Erkrankung und um den Zusammenhang mit Sexualität, Kontrazeption
und Fertilität
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Abbildung 2: HWW-Syndrom: einseitige Nierenagenesie, Uterus didelphys, obstruierendes Vaginalseptum (auch als OHVIRA-Syndrom beschrieben) (Grafik: R. Draths)
meisten Jugendlichen mit chronischen Erkrankungen zu wenig über ihre Erkrankung wissen, über die spezifischen Risiken und über für sie geeignete Kontrazeptiva (6). Die übliche Aufklärung im Schulunterricht reicht nicht aus, da der Lehrer nicht auf die individuelle Situation eingehen kann. Meist wissen die Betroffenen, dass etwas bei ihnen anders ist, und dass sie nicht schwanger werden sollen. Oft verstehen das Jugendliche aber falsch und meinen, sie könnten nicht schwanger werden, seien also unfruchtbar und benötigten gar keine Kontrazeption. Dies ist dann doppelt gefährlich. Selbst bei Erwachsenen mit kongenitaler Herzkrankheit sind 45 Prozent der Schwangerschaften ungeplant (4–6).
Störung der Pubertätsentwicklung
Bei chronischen Erkrankungen geht es in der Jugendgynäkologie um mehr als nur um die Kontrazeptionsberatung, es geht um die Auswirkungen der Erkrankung und der Medikamente auf die Pubertät und den Zusammenhang mit der weiblichen Entwicklung, wie das nächste Fallbeispiel zeigt (7, 8): Die 17-jährige Melanie wird wegen fehlender Menstruation in der jugendgynäkologischen Sprechstunde angemeldet. Sie hat zystische Fibrose und ist in regelmässiger pädiatrischer und vierteljährlicher pulmonaler Kontrolle. Gesundheitlich ist sie stabil. Die klinische Untersuchung zeigt eine fehlende Brustentwicklung, fehlende periphere Östrogenisierung und sonografisch inaktive Ovarien bei infantilem Uterus. Der Verdacht auf eine fehlende Pubertätsinduktion durch die chronische Erkrankung bestätigt sich im Labor mit einem hypogonadotropen Hypogonadismus. In der DEXA-Messung zeigt sich eine im Altersvergleich erniedrigte Knochendichte. Was wurde bei Melanie verpasst? Trotz regelmässiger Arztkontrollen ist die fehlende Pubertätsentwicklung nicht aufgefallen. Spätestens mit dem 13. Geburtstag hätte sich die Thelarche zeigen müssen (9). Die Diagnose der Pubertas tarda wurde bei Melanie um 4 Jahre verpasst, obwohl sie alle 3 bis 6 Monate in ärztlicher Kontrolle war. Die primäre Amenorrhö ist nur das letzte klinische Zeichen der fehlenden Östrogenisierung. Für chronisch kranke Mädchen ist die Pubertätsverzögerung aber häufig ein Grund zur zusätzlichen Sorge. Die Mädchen nehmen den Unter-
Tabelle 2:
Beispiele für Krankheiten mit möglichem Einfluss auf die Pubertätsentwicklung
● chronisch entzündliche Darmerkrankungen, rheumatische Erkrankungen ● zystische Fibrose ● Herzvitien ● hämatologische Krankheiten (chronische Anämie, Fanconi-Anämie) ● Erkrankungen des ZNS, Spina bifida, Myelomeningozele (MMC) ● onkologische Erkrankungen in Kindheit oder Jugend ● Knochenstoffwechselstörungen, Skeletterkrankungen ● Endokrinopathien ● Erkrankungen von Niere, Leber, Magen-Darm ● Transplantation ● syndromale Erkrankungen ● chromosomale Aberrationen
schied in der Entwicklung sehr genau wahr und fühlen sich oft zusätzlich gehemmt. Fragen der Weiblichkeit, der Attraktivität, der fehlenden Rundungen bei Untergewicht und der fehlenden Brustentwicklung können und sollen in der Transition besprochen und, je nach Indikation und Situation, behandelt werden. Die Pubertätsentwicklung kann bei unterschiedlichen chronischen Erkrankungen verzögert verlaufen oder unterbrochen werden (Tabelle 2). Neben den üblichen jährlichen Kontrollen von Grössenwachstum und Gewicht ist die Beobachtung der Perzentilenkurven und der Wachstumsgeschwindigkeit bei allen Jugendlichen mit chronischen Erkrankungen wichtig. Parallel dazu soll die pubertäre Entwicklung bei allen chronisch kranken Jugendlichen in der jährlichen pädiatrischen Kontrolle anhand der Tanner-Stadien erfasst und dokumentiert werden (Abbildung 1). Bei Mädchen empfiehlt sich ein Gespräch über die bevorstehende Menstruation bei dem Tanner-Stadium B3, die Fragen nach Weissfluss und körperlichen Beschwerden. Aber auch die psychische Verfassung, der Umgang mit dem Anderssein, die Akzeptanz der Erkrankung, allfälliges Mobbing, Scham oder Verdrängung sind wichtige Themen (10, 11).
Urogenitale und spinale Fehlbildungen
Fehlbildungen der Nieren und ableitenden Harnwege sind häufig mit Fehlbildungen der inneren Geschlechtsorgane assoziiert, die nicht übersehen werden sollten. Leider sind Jugendliche mit genitalen Fehlbildungen besonders gefährdet, in der Transition verloren zu gehen (12, 13) und sich ärztlichen Kontrollen zu entziehen, da diese Besonderheiten ganz besonders mit Scham, Abwehr und negativem Selbstbild einhergehen (14). Dies betrifft insbesondere auch Jugendliche mit DSD (disorders of sex development), das heisst Störungen beziehungsweise Varianten der sexuellen Entwicklung (15, 16) (s. unten). Um assoziierte Fehlbildungen rechtzeitig zu erkennen, sollen weibliche Jugendliche mit einer Fehlbildung der Niere oder der ableitenden Harnwege spätestens ab Tanner-Stadium B3 von einer kinder- und jugendgynäkologisch ausgebildeten Fachperson untersucht und eine entsprechende Abflussbehinderung sollte ausgeschlossen werden, da diese Assoziationen häufig sind (17). Maria ist ein 15-jähriges sportliches Mädchen. Bei ihr wurde in der Kindheit eine einseitige Nierenagenesie festgestellt. Vor einem Jahr kam die Menarche, seither hat sie monatliche Blutungen. Seit einigen Monaten bestehen wiederkehrende Abdominalschmerzen, es kam bereits zu mehrfachen Notfallkonsultationen im Kinderspital. Bisher wurden die Schmerzen als Obstipation oder Dysmenorrhö interpretiert. Zurzeit erfolgt die Zuweisung zum Ausschluss einer gynäkologischen Ursache der Beschwerden. In der Transabdominalsonografie zeigt sich ein Uterus didelphys mit einseitiger Hämatometra und gleichseitigem Hämatokolpos bei obstruierendem Vaginalseptum. Dies entspricht einer typischen Konstellation bei einseitiger Nierenagenesie und ist als HWW-Syndrom (Herlyn-Werner-Wunderlich) oder auch als OHVIRA-Syndrom (obstructed hemivagina ipsilateral renal agenesis/dysgenesis) bekannt (Abbildung 2). Gemäss Literatur werden zurzeit immer noch etwa die Hälfte aller assoziierten Fehlbildungen verpasst und erst
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Abbildung 3: Transabdominalsonografie: A: Blase längs, Teilhämatokolpos, Hämatometra rechtes Uterushorn; B: Blase quer, Hämatokolpos, freie Flüssigkeit in Abdomen
bei Symptomatik, oft im Notfall, diagnostiziert. Abgesehen von den schmerzhaften Erlebnissen erhöhen sich für die Betroffenen durch die verpasste Diagnose auch die Risiken für Operationskomplikationen und für wiederholte Eingriffe. Der Rückstau des Menstruationsblutes begünstigt die Entwicklung einer Endometriose und ihrer Komplikationen mit Sactosalpinx und intraabdominalen Adhäsionen (Abbildung 3).
Genitale Fehlbildungen
Eine speziell feinfühlige Betreuung, umfassende Fachkenntnisse und Erfahrung in der Begleitung von Personen mit DSD sind erforderlich, um Jugendliche mit genitalen Fehlbildungen in der Transition zu begleiten (Tabelle 3). Wie aus einer grossen deutschsprachigen Studie über DSD-Patienten hervorgeht (18), gehen viele junge Menschen mit genitalen Fehlbildungen in der Transition «verloren». Das bedeutet, dass es nicht gelungen ist, eine vertrauensvolle und tragfähige Arzt-Patient-Beziehung aufzubauen, und sich der junge Mensch den ärztlichen Kontrollen entzieht. Der Intimbereich ist schambesetzt, den Jugendlichen ist oft schon das Gespräch über die genitale Fehlbildung sehr unangenehm, erst recht die genitale Untersuchung, sodass sie sich der Kontrolle lieber entziehen (19). Oft ist ein Wechsel der betreuenden Person von der pädiatriatrischen Abteilung in die Erwachsenenmedizin, zum Beispiel zu einer Jugendgynäkologin, hilfreich, um für die Jugendliche eine neue, neutrale Ansprechperson anzubieten. Gespräche über den Intimbereich, über den Umgang mit Menstruation, Tampons oder vaginale Dehnungen sollten durch eine Ärztin geführt werden, die darin geübt ist und die sich mit genitalen Fehlbildungen und deren möglichen Konsequenzen für Sexualität und Intimität auskennt.
Turner-Syndrom (Ullrich-Turner-Syndrom, Monosomie X0) und Varianten
Da die Diagnose häufig schon früh gestellt wird, stehen Mädchen mit Turner-Syndrom heutzutage meist schon als Kinder wegen einer Behandlung mit Wachstumshormon unter regelmässiger pädiatrisch-endokrinologischer Kontrolle. Meist kommt es bei einer Monosomie X0 bereits sehr früh zur Abnahme der Keimzellanzahl durch Follikelatresie und Apoptose, die Ovarien verlieren ihre Funktionstüchtigkeit meist vor Erlangen des Pubertätsalters, oft vor dem 8. Lebensjahr. Bei Turner-Mosaikformen hängt die Ovarialaktivität von der chromosomalen Situation und Ausprägung der
XX-Komponente ab, oft kommt es noch zur spontanen Pubertätsentwicklung, manchmal auch zur Menarche. Mit Fertilitätseinschränkung und frühzeitiger Ovarialinsuffizienz muss aber gerechnet werden. Die Pubertätsinduktion wird mit sehr niedrig dosiertem Östradiol vom Kinderendokrinologen eingeleitet, später sollten der Pubertätsfortschritt und das Auslösen der Menarche mit nachfolgender sequenzieller Hormonsubstitution jugendgynäkologisch begleitet werden. Das Ullrich-Turner-Syndrom betrifft aber oft weitere Organsysteme, die vom jeweiligen Spezialisten in bestimmten Abständen kontrolliert werden. So braucht es meist kardiologische, nephrologische und gastroenterologische Kontrollen, der HNO-Bereich ist sehr wichtig, ebenso die Kontrolle der Schilddrüse, der Augen und des Knochenstoffwechsels. Während das in der Kindheit meist gut funktioniert, treten im Jugendalter oft Probleme mit der
Tabelle 3:
Konkrete Aufgaben der Transitionsbegleitung bei genitalen Fehlbildungen
Frühe Pubertät: ● Erklären des veränderten Aussehens des äusseren Genitales und Fördern der Akzeptanz ● sichere Diagnostik der Anatomie des inneren Genitales (ab Tanner-Stadium B3) mit Ausschluss von
Abflussstörungen
Mittlere Pubertät: ● klinische und sonografische Untersuchung nach der Menarche mit Bestätigung des korrekten Ab-
flusses ● Kontrolle des Hymens, Unterstützung im Umgang mit der Menstruation, ev. Anleitung zum Tampon-
gebrauch ● je nach Entwicklung und Interessen: Kontrazeption, sexuelle Annäherung, Probleme beim Verkehr,
Dyspareunie ● bei Indikation: Dilatation mit Vaginaldilatatoren, bei Vernarbung eventuell Re-Operation erwägen
(Netzwerk genitale Fehlbildungen). Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten (STI) und Fragen zur späteren Fertilität
Späte Pubertät, Adoleszenz: ● Sexualität, sexuelle Präferenz ● evtl. gemeinsames Gespräch mit Partner ● evtl. Einleiten der operativen Korrektur ● Hormontherapie, Compliance stärken ● präkonzeptionelle Beratung ● genetische Beratung ● interdisziplinäre Zusammenarbeit je nach Grunderkrankung
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Kasten:
Gesundheits-Checkliste für Mädchen und Frauen mit Turner-Syndrom
Was Wann
Allgemein
Gewicht/Grösse/BMI
an jedem Kontrolltermin
Blutdruck
an jedem Kontrolltermin
Labor
Leberfunktion
jährlich
HbA1c, Nüchtern-Blutzucker jährlich
Schilddrüsenkontrolle
jährlich
Zöliakiescreening
gemäss Symptomen
Lipidprofil
jährlich, v.a. bei CV-Risiken
Geschlechtsentwicklung Tannerstadien (Brust, Pubes) während Pubertät, Beginn Hormon-
Päd. Endokrinologie,
TA-Sonografie Uterus
substitution alle 3 bis 6 Monate
Jugendgynäkologie
(ev. alternierend)
chromosomale Diagnostik
bei Diagnose erfolgt?
Gonadektomie bei XY-Mosaik bei Diagnose erfolgt?
Menstruation, Zykluskalender jährliche jugendgynäkologische
Kontrolle
Kardiovaskulär
kardiologische Kontrolle
3-5 Jahre
Echokardiografie
bei Aorta > 3 cm jährlich
MRI nach Befund
Niere
Ultraschall
bei Diagnose, gemäss Pathologie
Knochenstoffwechsel
Vitamin D, Kalzium
alle 3 bis 5 Jahre
DEXA
alle 5 Jahre
HNO
Audiometrie
alle 3 Jahre
Sexualität
Beratung, ev. Untersuchung: ab sexueller Reife besprechen,
Kontrazeption, STI-Schutz, bei Bedarf
evtl. Dyspareunie
Fertilität
Besprechen von Adoption oder Erstinformation in Jugend,
evtl. Eizellspende (gemäss besprechen bei Wunsch
Gesamtgesundheit)
Liste der betreuenden Ärzte oder Zentren
● Kinderarzt
● Jugend-Gynäkologe
● Hausarzt
● Kardiologe
● Pädiatrischer Endokrinologe ● Nierenspezialist
● Erwachsenen-Endokrinologe ● HNO-Arzt
Checkliste erstellt von R. Draths, erweitert nach den Empfehlungen der European Society of Human Reproduction and Embryology (EHSRE) 2017 (21): www.eshre.eu
Transition auf (20). So sind viele Patientinnen mit Turner-Syndrom im Erwachsenenalter medizinisch unterversorgt. Oft sind sie gar nicht mehr in ärztlicher Kontrolle und brechen nicht selten die Hormoneinnahme ab, wie zwei kürzlich publizierte Studien aus Frankreich und Deutschland gezeigt haben. Hier sollte der Pädiater die Transition mit der Patientin vorbereiten und begleiten, sodass später der Hausarzt als Koordinator der verschiedenen Spezialisten die individuelle Checkliste übernehmen und kontrollieren kann (s. Kasten). Eine Besprechung, wer im Einzelfall welche Aufgabe in der Transition übernimmt, wäre wohl der beste Beitrag zur Prävention für diese gefährdete Patientengruppe. Dies bezieht sich auch auf andere komplexe Syndrome, die verschiedene Organsysteme betreffen; insbesondere bei zusätzlicher geistiger Beeinträchtigung. Eine wichtige Unterstützung kann der Kontakt zur Selbsthilfegruppe Turner-Syndrom sein, der allen betroffenen Mädchen beziehungsweise deren Eltern angeboten werden soll (www.turner-syndrom.ch).
Korrespondenzadresse:
Dr. med. Ruth Draths
Frauenpraxis Buchenhof
Praxis für Mädchen und Frauen
Buchenstrasse 8
6210 Sursee
E-Mail: praxis@frauenpraxis-buchenhof.ch
Interessenlage: Die Autorin erklärt, dass keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel bestehen.
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