Transkript
Schwerpunkt
Keine Panik!
Wie man Kindern die Angst vor medizinischen Eingriffen nehmen kann
Am Workshop der Kinderärzte Schweiz anlässlich der SGP-Jahrestagung in Bellinzona ging es um erfolgreiche Strategien, um Kindern Mut zu machen und ihnen zu helfen, ihre Angst vor dem Besuch beim Arzt und medizinischen Massnahmen, wie zum Beispiel Impfungen oder Blutentnahmen, zu besiegen.
V iele Praktiker nutzen die üblichen Strategien, mit denen man ängstliche Kinder bei Impfungen oder anderen medizinischen Eingriffen ablenken kann. Dazu gehört beispielsweise attraktives Spielzeug oder das wohlbekannte Windrad, das von dem Kind während der Massnahme durch heftiges Pusten in Gang gehalten werden muss. Ebenfalls weit verbreitet sind «Schatztruhen», aus denen sich das Kind am Ende der Behandlung eine Belohnung aussuchen darf. Auf einen wichtigen Punkt, um das Vertrauen des Kindes zu gewinnen, machte einer der Workshopteilnehmer gleich zu Beginn aufmerksam: «Ich rede mit dem Kind. Ich zeige ihm zum Beispiel ein Bilderbuch und komme darüber mit dem Kind ins Gespräch.» Ebenso wichtig ist es, die Eltern mit ins Boot zu nehmen. Wenn sie unsicher sind und dem bevorstehenden Eingriff ambivalent gegenüberstehen, wird sich auch das Kind davor fürchten: «Wenn der Riese fällt, fällt auch der Zwerg», sagte Dr. med. Camilla Ceppi, Dübendorf, die den Workshop gemeinsam mit Dr. med. Andreas Geiser, Schlieren, leitete.
Wovor haben Kinder Angst?
Ängste sind in der Regel altersabhängig, wobei die Ängste bei jüngeren Kindern in der Regel recht konkreter Natur sind und mit steigendem Alter abstrakter werden. Bei Babys und Kleinkindern werden Ängste vor allem durch Geräusche, fremde Personen und die Furcht, verlassen zu werden, getriggert. Kinder im Kindergartenalter fürchten sich vor der Dunkelheit, dem Alleinsein vor Geistern oder Einbrechern. Im Schulalter wächst die Angst, sich zu blamieren oder etwas nicht zu schaffen; manche haben auch Angst, nicht genügend Luft zu bekommen, oder sie fürchten sich vor Feuer und dem Tod. Im Teenageralter geht es hauptsächlich um soziale Ängste, Kontrollverlust und die Sorge, dass das eigene Aussehen und Handeln von anderen missbilligt werden könnte. Nur eine Angst zieht sich gleichermassen durch alle Altersstufen: die Angst vor Schmerzen.
Wann wird die Angst zur Angststörung?
Generell sind akute Angsstörungen bei Kindern und Jugendlichen häufig zu finden (10%). Rund die Hälfte der
diagnostizierten Angststörungen betreffen Kindern unter 11 Jahren und drei Viertel aller Angststörungen werden bei Personen unter 21 Jahren diagnostiziert. Etwa 10 Prozent aller Kinder haben eine Angststörung, die ohne Behandlung chronifizieren wird. Darum sei es sehr wichtig, Kinder mit einer Angststörung zu erkennen, sagte Ceppi. Es gebe aber keine klare Abgrenzung zwischen normaler Angst und manifester Angststörung: «Das ist ein Kontinuum.» Wenn Ängste nicht altersgerecht und unkontrollierbar sind, den Alltag und soziale Beziehungen stören sowie länger als 4 Wochen anhalten, gilt dies als Anzeichen dafür, dass sich eine chronische Angsstörung entwickelt.
Arzttermin gut vorbereiten
Die Eltern können viel zu einem erfolgreichen, nicht durch Ängste belasteten Verlauf der Behandlung in der Praxis beitragen. Dies beginnt bereits vor dem Arzttermin, indem sie dem Kind altersgerecht erklären, wann und warum sie mit ihm zum Arzt gehen werden. «Das muss nicht Wochen vorher sein, aber kurz zuvor, am Vorabend oder am Morgen des Arzttermins», empfahl Ceppi. Zur Vorbereitung gut geeignet sind auch Bilderbücher zum Thema Arztbesuch und, insbesondere für Kleinkinder, das spielerische Durchleben der Situation, zum Beispiel mit einem Puppenarztkoffer: «So tun als ob erhöht das Sicherheitsempfinden des Kindes», sagte die Referentin. Wichtig sei, dem Kind überzeugend die Zuversicht zu vermitteln, dass es die Behandlung schaffen und ihm dabei geholfen werden wird.
Angst erklären und Strategien vermitteln
Für die Kinder sei es auch sehr hilfreich zu wissen, was Angst eigentlich ist, nämlich etwas ganz Normales, das als Warnsignal wichtig ist und auch seine guten Seiten hat. Wenn der Arzt in der Praxis dies gut erklären kann und Strategien zu vermitteln weiss, wie man mit der Angst zurechtkommen kann, sei die Sache für das Kind oft nur noch halb so schlimm. «Sprechen Sie mit dem Kind und nicht über das Kind hinweg!» sagte Ceppi. Auch hier gilt, sich auf das Positive zu konzentrieren und dem Kind beispielsweise zu sagen: «Du kannst das
Dr. med. Camilla Ceppi Dr. med. Andreas Geiser
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Den magischen Handschuh probierten die Workshopteilnehmer auch gleich selbst ein-
mal an.
(Foto: RBO)
schaffen und dir wird geholfen. Ich werde dir zeigen, wie du dir helfen kannst. Weisst du, wie du dir helfen kannst? Du kannst dreimal ruhig atmen und dann wirst du sehen, dass du noch ruhiger wirst. ... Super, wie du das machst!» Eine wirksame Strategie ist es auch, wenn sich das Kind vorstellt, an einem anderen, angenehmen Ort zu sein: «Wo möchtest du jetzt viel lieber sein als hier? Und jetzt darfst du dir vorstellen …» Ceppi berichtete von einem Fall, in dem sie eine durch den Finger gestochene Nähnadel entfernen musste. Unverzüglich erhielt der Knabe eine adäquate Schmerzmedikation. Später stellte er sich so intensiv vor, mit seinem Waveboard zu fahren, dass die Behandlung gelang, ohne bei dem jungen Patienten Panik oder übermässige Schmerzen auszulösen.
Der magische Handschuh
Ein gutes Hilfsmittel, um die Angst bei Injektionen zu dämpfen, ist der «magische Handschuh», den Andreas Geiser vorstellte. Diese hypnotische Schmerzmanagement-Technik ist für Kinder von 3 bis 12 Jahre gut ge-
Ein Bilderbuch für Kinder und Eltern
eignet. Wie sich im Workshop zeigte, klappt es mitunter aber auch bei Erwachsenen, mithilfe eines unsichtbaren, magischen Handschuhs das Schmerzempfinden zu vermindern. Die Hypnosetechnik «magic glove» wurde von der kanadischen Psychologin Prof. Leora Kuttner entwickelt. Dem Kind wird dabei ein imaginärer, unsichtbarer magischer Handschuh «angezogen», der das Empfinden verändern wird: Du wirst sehen, was geschieht, aber es wird dich nicht stören. Wichtig: Man darf nicht sagen, dass das Kind keinen Schmerz spüren wird, denn es wird sicher irgend etwas spüren, aber deutlich weniger. Dem beruhigten, entspannten Kind wird der unsichtbare Handschuh mit sanft streichenden Bewegungen «angezogen». Dann testet man das Empfinden vergleichend an den Armen mit oder ohne Handschuh durch leichtes Berühren mit einem spitzen Gegenstand und wird feststellen, dass das Kind am Arm mit dem Handschuh viel weniger spürt. Nach der Impfung oder Blutentnahme wird der Handschuh wieder «ausgezogen». Wie das in der Praxis funktioniert, kann man in einem Video anschauen (siehe Link mit QR-Code, unten).
Das Kind entscheiden lassen
Grundsätzlich sei es wichtig, bei allen Strategien dem Kind Entscheidungen zu überlassen, betonte Geiser. So entspannt es die Situation mitunter bereits, wenn man ihm die Wahl lässt, was zuerst gemacht wird. Auch die Wahl, an welchem Arm der magische Handschuh angezogen wird, gibt dem Kind das Gefühl, die Situation selbst zu kontrollieren. Es gibt auch Kinder und Jugendliche, die sich gegen den magischen Handschuh entscheiden. So berichtete Geiser von einem Jugendlichen, der sich lieber «sieben Mal in den Finger stechen lassen wollte als den magischen Handschuh anzuziehen». Doch für welche Strategie sich die jungen Patienten auch immer entscheiden, um ihre Angst beim Arztbesuch in den Griff zu bekommen: «Ganz wichtig ist, dass die Entscheidung beim Kind bleibt – dann klappt es auch in der Praxis», sagte Geiser.
Renate Bonifer
Quelle: Symposium KIS Kinderärzte Schweiz: «Willkommen in der Mutzone Kinderarztpraxis!» Workshop an der Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie in Bellizona, 6. bis 7. Juni 2019.
Dieses Buch kann man von vorne und von hinten lesen. Von vorne richtet es sich an Eltern und ältere Kinder mit Erklärungen zum Ablauf, Sinn und Zweck der Vorsorgeuntersuchungen. In der anderen Leserichtung spricht es kleinere Kinder an und zeigt ihnen mit Plüschaffen nachgestellte Untersuchungssituationen sowie Tipps, was sie selbst tun können, um diese möglichst cool zu meistern.
The Magic Glove Video mit Dr. Laura Kuttner (in Englisch): www.rosenfluh.ch/qr/magic-glove_video
«Alles Okay?! Was ich bei der Kinderärztin erleben kann …» Von Lea Abenhaim und Sabine Zehnder; Fotos von Thilo Larsson. Ab 2½ Jahre. 40 Seiten, Verlag Creathera Bern, ISBN 978-3-033-07108-7, 24 Franken.
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