Transkript
Schwerpunkt
Frühe Interventionen bei Autismus
Schwierige Diagnose und zahlreiche Komorbiditäten
Erste Hinweise auf eine Autismus-Spektrum-Störung können bereits im frühen Kleinkindalter auftreten. Wenn es gelingt, diese Kinder zu identifizieren und eine korrekte Diagnose zu stellen, können Fördermassnahmen die Prognose verbessern. An einem Workshop am SGP-Kongress in Bellinzona wurden die Chancen und Probleme dieser Strategie erläutert.
Intensive heilpädagogische Fördermassnahmen im frühen Kleinkindalter sollen bei einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) die Prognose verbessern (1), und sie sind seit letztem Jahr auch ein vom Bundesrat erklärtes gesundheitspolitisches Ziel (2). Offene Fragen bestehen jedoch noch hinsichtlich der konkreten Umsetzung und Finanzierung (2), und die Diagnosestellung ist nicht einfach. Bis anhin gebe es sieben von der IV mitfinanzierte Intensivtherapieprogramme, je eines in Aesch, Lausanne, Muttenz, Sorengo und Zürich sowie zwei Zentren in Genf, sagte Dr. med. Christina Schaefer, Oberärztin Entwicklungspädiatrie am Universitätskinderspital Zürich.
Unspezifische Symptome
Alle Auffälligkeiten, die bei Kindern im frühen Kleinkindalter auf das Vorliegen einer ASS hinweisen könnten, sind unspezifisch, treten aber bei diesen Kindern gehäuft auf. Dazu gehören auffälliges Blickverhalten, eine verzögerte oder spezielle Sprachentwicklung, fehlendes Symbolspiel (So tun als ob), eine gewisse Fixierung auf Objekte, ungewöhnliche Reaktionen auf sensorische Reize, repetitive Bewegungsmuster, ein reduzierter Einsatz von Gesten, Deuten oder Imitieren, eine reduzierte oder verzögerte Reaktion auf den eigenen Namen, eine auffällige motorische Entwicklung oder sogar ein Verlust bereits erreichter Meilensteine der Entwicklung. Eine frühe ASS-Diagnose, bereits ab einem Alter von etwa 2 Jahren, sei aber möglich und wichtig, sagte Schaefer. Man müsse jedoch sehr genau hinschauen.
Soll man screenen, und womit?
Als Diagnoseinstrument bei Kleinkindern ist der M-CHATFragebogen für das Screening auf ASS geeignet. Er ist in verschiedenen Sprachen im Internet verfügbar (3). Es besteht kein internationaler Konsens darüber, wann man das ASS-Screening durchführen soll. Während die American Academy of Pediatrics empfiehlt, alle Kinder im Alter von 9 Monaten bezüglich Blickkontakt, Reaktion auf den eigenen Namen, Gesten und Mimik und mit 18 Monaten mit dem standardisierten Fragebogen zu
screenen (4), ist man in Deutschland der Ansicht, dass es für Kleinkinder noch kein nützliches ASS-Screeninginstrument gebe und nur bei Risikokonstellationen und ASS-Verdacht ein Fragebogen eingesetzt werden sollte (5). In einem Pilotprojekt im Tessin habe sich gezeigt, dass durch den routinemässigen Einsatz des M-CHAT bei der 2-Jahres-Untersuchung das Diagnosealter für frühkindliches ASS von durchschnittlich gut 3 auf etwa 2½ Jahre habe gesenkt werden können, berichtete Schaefer. Ebenfalls nützlich sind die Checklisten der Schweizer Gesellschaft für Pädiatrie, wie eine Umfrage unter Zürcher Pädiatern kürzlich zeigte. Etwa jeder zweite angeschriebene Pädiater beteiligte sich an der Umfrage. Die Hälfte von ihnen gab an, die SGP-Checklisten bei den Vorsorgeuntersuchungen einzusetzen. Autismus-typische Symptome wurden von den Ärzten, die die Checklisten einsetzten, häufiger evaluiert. Nur etwa ein Viertel der Ärzte verwendete zusätzlich den M-CHAT. Das Screening auf ASS in der Kinderarztpraxis sei demnach verbesserungsbedürftig, und die SGP-Checklisten könnten hierfür nützlich sein, so die Autoren eines Posters am SGPKongress in Bellinzona (6).
Dr. med. Christina Schaefer
Wesentliches für die Praxis
● Hinweise auf ASS sollten frühzeitig erfasst und entsprechende Sorgen der Eltern ernst genommen werden.
● Im frühen Kindesalter eignet sich der M-CHAT-Screeningfragebogen, um die Symptome besser einordnen zu können.
● Kinder, bei denen ein Verdacht auf ASS besteht, sollten frühzeitig an eine für die Diagnostik von ASS spezialisierte Stelle überwiesen werden.
● Wird die Diagnose einer ASS gestellt, sollten frühzeitig entsprechende Therapiemassnahmen sowie eventuell Autismus-spezifische Intensivtherapieprogramme in die Wege geleitet werden.
● Melatonin kann für das Management von Schlafstörungen hilfreich sein.
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Die spezifische frühkindliche ASS-Diagnose wird dann in der Regel mithilfe des ADOS-2-Moduls gestellt, eine strukturierte Verhaltensbeobachung, die bereits bei Kleinkindern angewendet werden kann.
Erfahrungen aus Zürich
Von den Kindern, die im Alter von 0 bis 5 Jahren von Januar 2014 bis Dezember 2017 bei der Fachstelle Sonderpädagogik im Kanton Zürich für eine heilpädagogische Frühintervention angemeldet wurden, hatten 147 Kinder eine ASSDiagnose. Der Intelligenzquotient dieser Kinder betrug im Durchschnitt 59, zusätzliche Störungen beim Spracherwerb waren bei 72 Prozent dieser Kinder vorhanden. Im Durchschnitt traten die ersten Symptome im Alter von etwa 1¾ Jahren auf. Die Altersspanne für das Auftreten erster Symptome war gross: Sie reichte von ½ Jahr bis zu 4½ Jahren. Die Diagnose ASS wurde im Durchschnitt im Alter von gut 3½ Jahren gestellt. Das Intervall zwischen den ersten Symptomen und der Diagnosestellung schwankte im Einzelfall beträchtlich. Es reichte von wenigen Monaten bis zu 4½ Jahren. Ein grosser Teil der Kinder erhielt bereits vor der ASS-Diagnose eine heilpädagogische Früherziehung, die Stundenzahl wurde nach der Diagnosestellung häufig erhöht. 68 Prozent von ihnen erhielten zusätzlich eine Sprachtherapie. Im Durchschnitt bewilligten die Kostenträger pro Woche 2,1 Stunden Früherziehung und 1,44 Stunden Sprachtherapie. Eine intensive, speziell auf ASS zugeschnittene Frühintervention erhielten nur 20 Prozent der Kinder, berichtete Schaefer. Man sei noch weit von den angestrebten Zielen entfernt, zumal die meisten der im heilpädagogischen Bereich Tätigen derzeit noch nicht auf ASS spezialisiert seien, sagte die Referentin. Ein weiteres Problem sind die Finanzierung und nicht zuletzt sprachliche Hürden. 87 Prozent der Kinder haben eine andere Muttersprache als Deutsch. In der Fachstelle im Kanton Zürich ist der Anteil der Migrantenkinder unter den Kindern mit ASS überdurchschnittlich hoch. Die Gründe hierfür sind unbekannt. Dieses Phänomen werde aber häufiger beobachtet und es gebe entsprechende Forschung dazu, sagte Schaefer.
Zahlreiche Komorbiditäten
Auf die zahlreichen, mit einer ASS verbundenen Komorbiditäten ging Dr. med. Marine Jequier Gygax ein. Sie ist Neurologin am Kantonalen Zentrum für Autismus in Lausanne. Zu den organischen Problemen zählen vor allem Epilepsie, Schlafstörungen, gastrointestinale Störungen und eine selektive Nahrungsauswahl. 30 Prozent der Kinder mit ASS haben gleichzeitig eine Epilepise, und 46 Prozent der Kinder mit Epilepsie haben autistische Symptome. Es gebe jedoch keine speziellen Epilepsieformen, die typischerweise mit ASS assoziiert sind, sagte die Referentin. Sie betonte insbesondere die Therapiebedürftigkeit bei Schlafstörungen, unter denen, je nach Studie, 40 bis 80 Prozent der Kinder mit ASS leiden. Behandelt würde aber nur ein Bruchteil der Betroffenen. Die Kinder weisen einen veränderten Melatoninstoffwechsel auf, sodass neben den üblichen Massnahmen (Schlafhygiene, Rituale) die Off-Label-Gabe von Melatonin (Circadin®; 2 mg 30 bis 60 Minuten vor dem Schlafengehen) sehr
sinnvoll sei, empfahl Jequier Gygax. In einer prospektiven Studie verbesserte sich dadurch das Ein- und Durchschlafen; die langfristige Anwendung über mehr als 6 Monate war nicht mit gravierenden Nebenwirkungen verbunden (7). Zu den psychiatrischen Komorbiditäten bei ASS gehören Angststörungen, Depressionen, ADHS, Zwangsstörungen und Psychosen (8). Auch zahlreiche neuropädiatrische Entwicklungsstörungen sind mit ASS assoziiert. Sie betreffen die Motorik (z.B. Koordinationsstörungen, Dyspraxie, Zehenspitzengang, Finger- und Handstereotypien), spezifische Sprachstörungen, Schreib- und Rechenschwäche sowie Defizite bei exekutiven Funktionen (Planen, Organisieren, mentale Flexibiltität). Die bereits erwähnte Komorbidität ADHS ist bei Kindern mit ASS recht weit verbreitet. Nicht selten falle ein Kind erst in der Schule mit ADHS auf, und in der Folge werde dann auch eine ASS diagnostiziert, sagte Jequier Gygax. Ihrer Ansicht nach sollte bei diesen Kindern eine medikamentöse Therapie (Methylphenidat, Atomoxetin) häufiger eingesetzt werden, als dies heutzutage der Fall ist.
Renate Bonifer
Quellen: Dr. med. Christina Schaefer: «Frühe Fördermassnahmen für Kinder mit AutismusSpektrum-Störung» und Dr. med. Marine Jequier Gygax: «Comorbidités somatiques et neurocognitives du TSA». Workshop an der Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie in Bellinzona, 6. bis 7. Juni 2019.
Referenzen: 1. Liesen C, Krieger B, Becker H: Evaluation der Wirksamkeit der intensiven Frühinterventionsmethoden bei frühkindlichem Autismus. Forschungsbericht Nr. 9/18. Bundesamt für Sozialversicherungen BSV 2018, ISSN 1663-4659 (eBericht), ISSN 1664-4640 (Druckversion). 2. Bundesrat: Bericht Autismus-Spektrum-Störungen. Massnahmen für die Verbesserung der Diagnostik, Behandlung und Begleitung von Menschen mit Autismus-SpektrumStörungen in der Schweiz. Bern, 17.10.2018 3. https://mchatscreen.com/wp-content/uploads/2015/09/M-CHAT-R_F_German.pdf 4. Johnson CP, Myers SM, American Academy of Pediatrics Council on Children With Disabilities: Identification and evaluation of children with autism spectrum disorders. Pediatrics 2007; 120(5): 1183–1215. 5. Interdisziplinäre S3-Leitlinie der DGKJP und der DGPPN: Autismus-Spektrum-Störungen im Kindes-, Jugend-und Erwachsenenalter. Teil 1: Diagnostik. AWMF-Registernummer 028-018. https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/028-018l_S3_AutismusSpektrum-Stoerungen_ASS-Diagnostik_2016-05.pdf 6. P54: Mayr S et al.: Survey on the screening of early symptoms of autism-spectrumdisorder during well-child visits in Zurich pediatric practices. Swiss Med Weekly 2019; 149(Suppl 235): 29S. Annual Meeting Swiss Society of Paediatrics, June 6/7, 2019. 7. Rossignol DA, Frye RE: Melatonin in autism spectrum disorders. Curr Clin Pharmacol 2014; 9(4): 326–334. 8. Lai MC, Baron-Cohen S: Identifying the lost generation of adults with autism spectrum conditions. Lancet Psychiatry 2015; 2(11): 1013–1027.
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