Transkript
Zahnprophylaxe bei herzkranken Kindern
Ein unterschätztes klinisches Problem
Schwerpunkt
Die Folgen von Karies, Gingivitis und Parodontitis sind bei Kindern mit Herzfehlern gravierender als bei gesunden Kindern. Kranke Kinder bekommen besondere Zuwendungen und Freiheiten, die sich auch in einem erhöhten Süssigkeitenkonsum und dem Ausfall der Zahnpflege ausdrücken können. Aus medizinischer Sicht sollte die Zahngesundheit mit geeigneten Mitteln in die Betreuung herzkranker Kinder integriert werden.
Von Cornelia Filippi-Weber1 und Tamara Diesch2
In der Schweiz werden jährlich 600 bis 800 Kinder mit einem Herzfehler geboren, es betrifft also jedes hundertste Kind, das zur Welt kommt. Kardiologisch schwer erkrankte Kinder werden meist schon über die Pränataldiagnostik identifiziert. Aber auch im späteren Lebensalter können Herzfehler noch festgestellt werden. So stellen sich in der Poliklinik des Universitätskinderspitals beider Basel (UKBB) 2000 bis 2500 Kinder pro Jahr mit Verdacht auf Herzfehler vor. Bei mindestens einem Viertel dieser Kinder wird ein Herzfehler diagnostiziert, unter ihnen wiederum etwa ein Fünftel (ca. 100 Kinder pro Jahr) mit einem Vitium, das mit einem erhöhten Endokarditisrisiko einhergeht. Retrospektive Daten des UKBB zeigen, dass im Jahr 2017 drei Kinder eine Endokarditis entwickelten, bei zwei Kindern waren orale Keime dafür verantwortlich.
Herzerkrankung und Zahngesundheit
Kinder mit angeborenen Herzfehlern haben eine erhöhte Kariesinzidenz. Bei Kindern mit azyanotischen und zyanotischen Herzerkrankungen (congenital heart disease [CHD]) hat das Milchgebiss im Vergleich mit gesunden Kindern eine andere Schmelz- und Dentinmorphologie. Der Schmelz weist eine irreguläre Orientierung der Schmelzprismen und deutliche Demineralisationen auf, die Dentintubuli sind erweitert und unregelmässig konturiert. Kalzium- und Phosphatkonzentrationen sind bei Kindern mit CHD signifikant niedriger als bei gesunden Kindern (1). Diese strukturellen Abweichungen gegenüber regulär gebildeten Milchzähnen senken die Widerstandskraft des Zahnschmelzes und des Dentins gegenüber säurebedingten Angriffen und erhöhen das Kariesrisiko. Bei Kindern mit CHD, die an einer infektiösen Endokarditis erkrankten, wurden zu über 60 Prozent Streptokokken (Str. mutans; Str. mitis) als verursachende Keime nachgewiesen (2). Beide Keime gehören zur normalen Mundflora. Streptococcus mutans gilt als Leitkeim der
Kariesentstehung und verstärkt seine Pathogenität
durch «quorum sensing» (QS). Damit bezeichnet man
folgenden Mechanismus: Die Keime vermehren sich so
lange, bis eine hohe Populationsdichte (high cell density
[HCD]) erreicht ist; dieser Vorgang wird durch bakterielle
Signalmoleküle gesteuert. Nach Erreichen der hohen Po-
pulationsdichte beginnt eine Umstellung
der Signalmolekülkette: Das Signal löst nun bei pathogenen Keimen die Sekretion virulenter Substanzen aus (3). Für den klinischen Verlauf gilt daher, dass durch
Kinder mit angeborenen Herzfehlern haben eine erhöhte Kariesinzidenz.
Zahn- und Zungenreinigung eine Reduk-
tion der Keime und eine Hemmung des genannten Pa-
thomechanismus stattfindet. Die Einflussnahme auf die
Anzahl der Mundkeime kann als Endokarditisprophylaxe
interpretiert werden. Dies gilt bereits, bevor es zur Ka-
riesaktivität gekommen ist.
Die Karies ist im Kleinkindalter eine weltweit verbreitete
Erkrankung. Wie aus einem Bericht der Weltgesund-
heitsorganisation (WHO) hervorgeht, gilt Karies im
Kleinkindalter (early childhood caries [ECC]) weltweit als
Pandemie (4). Die meisten Kinder mit ECC haben
Schmerzen, bedingt durch eine bakterielle Infektion der
Pulpa.
Entzündungsparameter im Speichel
Eine Zytokinkaskade induziert die körpereigene Antwort auf eine bakterielle Infektion, einschliesslich der Sezernierung einer Reihe von Interleukinen (IL-1, IL-6, IL-8, IL-10, IL-12) und Tumor-Nekrose-Faktor-a (TNF-a). Viele Studien legen nahe, dass es einen engen Zusammenhang zwischen IL-6 und Karies gibt. In einer Studie konnte gezeigt werden, dass ein IL-6-Spiegel im Speichel von 100,46 ± 112,47 pg/ml vor der Behandlung auf 21,46 ± 35,80 pg/ml nach drei Monaten oraler Rehabilitation gesenkt werden konnte (5). Der Schweregrad der ECC beeinflusst die Quantität der Zytokine. Bei körperlich gesunden Kindern in einem frü-
1 Abteilung Prophylaxe, Allgemeine Kinderund Jugendzahnmedizin (AKJZM), Universitäres Zentrum für Zahnmedizin Basel (UZB) 2 Onkologie/Hämatologie, Universitätskinderspital beider Basel (UKBB)
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Abbildung 1: Gebiss eines 4-jährigen Kindes mit schwerer Kleinkinderkaries (ECC). Von den Frontzähnen des Oberkiefers wurden die Zahnkronen durch Karies vollständig aufgelöst. Nur vier Zähne haben in diesem Gebiss keinen Behandlungsbedarf.
Abbildung 2: Nach vollständiger Entfernung der Karies liegt an Zahn 85 die Pulpa (Gefäss- und Nervengeflecht) frei. Bei starker Entzündung lässt sich die Blutung nicht stillen, und der Zahn muss entfernt werden. Eine Erhaltung ist in einem frühen Stadium der Entzündung häufig möglich.
hen ECC-Stadium waren die Speichelkonzentrationen von TNF-a, IL-6 und IL-8 signifikant erhöht. Bei zunehmender Zahnerkrankung (Abbildung 1) stiegen die Spiegel von TNF-a, IL-6 und IL-8 noch weiter an. Im Vergleich zu zahngesunden Kindern sanken die Werte nach oraler Rehabilitation annähernd auf die Werte der zahngesunden Kontrollgruppe, sofern die ECC zur mittleren Kategorie zählte. Waren die Kinder an der schweren Form der ECC erkrankt (Abbildung 2), so wurden auch drei Monate nach der Sanierung die bei zahngesunden Kindern ermittelten Konzentrationen von TNF-a, IL-6 und IL-8 nicht mehr erreicht, sondern sie blieben erhöht (6). Diese Zytokinspiegel sind bei Patienten, die sich grossen chirurgischen Eingriffen unterziehen, von klinischer Bedeutung. Hohe Konzentrationen proinflammatorischer
Ratgeber «Zahngesund glücklich»
Alle wichtigen Punkte rund um die Zahngesundheit von Anfang an bietet die Ratgeberbroschüre «Zahngesund glücklich», herausgegeben vom Universitären Zentrum für Zahnmedizin Basel, mit Unterstützung der Stiftung Walter Fuchs. Die Broschüre ist in 10 Sprachen verfügbar: Deutsch, Französisch, Italienisch, Albanisch, Englisch, Kroatisch, Portugiesisch, Serbisch, Spanisch und Türkisch. Das Projekt wird mitgetragen von SSO Basel-Stadt und SSO Baselland, Elternberatung Basel-Stadt, HEKS/Vitalina, UKBBFrühförderung, Erziehungsdepartement Basel-Stadt, Zentrum für Frühförderung und KID Frühförderung Basel.
Weitere Informationen und PDF zum Download: https://www.uzb.ch/de/Schulzahnklinik/Patienteninformation/Ratgeber.php
Zytokine werden unter anderem mit der postoperativen Akutphasereaktion, Sepsis, Schock mit Multiorganversagen, postoperativer myokardialer Ischämie und verminderter Ventrikelkontraktilität in Zusammenhang gebracht (7). Die Vermeidung einer ECC oder zumindest die Rehabilitation einer ECC in einem frühen Stadium ist gerade für herzkranke Kinder von Bedeutung.
Zähne und Bakteriämierisiko
Erreger für eine Endokarditis sind häufig orale Keime. Bei der Benutzung neuerer Kulturmethoden und der Sequenzanalyse bakterieller 16S-rRNA-Gene fand man 119 unterschiedliche Bakterienspezies nach Entfernung einzelner Zähne oder nach Zahnreinigung im Blut, jeweils direkt oder spätestens 10 Minuten nach der Behandlung. Wie auch bei anderen Untersuchungen spiegelt sich dabei die Bakterienpopulation im Mund- und Zahnbereich wider. Bei Kleinkinderkaries müssen häufig Zähne entfernt werden. 10 Minuten nach Extraktionen wurde in 100 Prozent der Fälle eine Bakteriämie im Blut nachgewiesen. Bei Füllungstherapie und Benutzung von Interdentalkeilen und Matrizenband tritt bei Einzelzahnbehandlungen eine Bakteriämie bei 32,1 Prozent der behandelten Kinder auf, bei einer professionelle Zahnreinigung sind es 24,5 Prozent (8). Sind Zahnsanierungen wegen frühkindlicher Karies in Intubationsnarkose durchzuführen, kommt es zu einer Summation von Eingriffen, die jeweils für sich allein bereits ein mehr oder weniger hohes Bakteriämierisiko mit sich bringen. Zusätzlich macht es bei Alltagshandlungen, wie dem Kauen oder Zähneputzen, einen Unterschied, ob eine durch Plaque verursachte Zahnfleischentzündung vorhanden (Abbildung 3) oder die Gingiva entzündungsfrei ist. Eine Bakteriämie nach dem Zähneputzen ist bei einer zahngesunden Population sehr selten. Hingegen wird ein erhöhtes Risiko bei bestehender Gingivitis und Parodontitis beschrieben (8).
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Behandlungsbedürftige Herzerkrankungen und Endokarditisrisiko
Bakteriämien nach häuslichen oder zahnärztlichen Zahnbehandlungen können nur in den ersten 15 Minuten nachgewiesen werden (8). Je nach eingeschleuster Menge und Pathogenität der Keime kann dies für Herzkranke mit Endokarditisrisiko zu einem lebensbedrohlichen Ereignis führen. Insgesamt besteht bei herzkranken Kindern lebenslang ein erhöhtes Infektionsrisiko mit gesundheitsrelevanten Folgen. Die Parodontitiserkrankungsrate steigt mit zunehmendem Lebensalter und beginnt oftmals ab dem Alter von 12 Jahren. Diese plaqueassoziierte Erkrankung wird unter anderem durch A. actinomycetemcomitans ausgelöst. Dieser Keim besitzt ein potentes Leukotoxin, das Neutrophile und Monozyten auflösen kann und somit die körpereigene Abwehr schwächt (8).
Betreuungskonzept
Bei einem interdisziplinären Betreuungskonzept von Pädiatrie und Zahnmedizin sollte der Schwerpunkt zunächst in der täglichen Reduktion der Keime durch dreimal tägliches Zähneputzen und Zungenreinigung liegen, bevor das oben erläuterte «quorum sensing» die Virulenz durch Erreichen einer hohen Bakteriendichte steigert. Auch die Ernährungslenkung, besonders bis zum Ende des zweiten Lebensjahres, schafft Voraussetzungen für die Entwicklung einer gesundheitsfördernden Keimzusammensetzung. Allgemeingültige Empfehlungen zur Einführung der Zahnpflege bei Babys und Kleinkindern können auf der Website der Schulzahnklinik des Universitären Zentrums für Zahnmedizin Basel in 10 Sprachen abgerufen werden (s. Infotipp). Die Vermeidung einer frühkindlichen Karies oder zumindest die Rehabilitation in einem frühen Stadium verbessert zusätzlich die Voraussetzungen eines ungestörten Heilungsverlaufs bei Herzoperationen.
Zahnbehandlungen und Kostenübernahme bei Herzkranken
Die zahnärztlichen Behandlungen sollten als Begleittherapie bei Herzkranken definiert werden. Eine Kostenübernahme für eine zahnärztliche Begleittherapie kann für folgende Fälle beantragt werden: Herzklappenersatz, Gefässprothesenimplantation oder kranielle Shunt-Operation; diese fallen unter den Artikel 19a KLV. Für Patienten mit Endokarditisrisiko wird gemäss Artikel 19d KLV angemeldet. Die gesetzliche Krankenversicherung hat dann die Kosten, die zur Sicherstellung der ärztlichen Behandlung notwendig sind, zu übernehmen, und es gilt, dass die zahnärztliche Behandlung der ärztlichen Behandlung gleichgestellt ist. Bei Vorliegen einer «angeborenen Herz- und Gefässmissbildung» wird der IV unter dem Geburtsgebrechen Nr. 313 ein zahnärztlicher Behandlungsplan zur Kostengutsprache vorgelegt. Alle weiteren Herzpatienten fallen in die Gruppe der Privatpatienten, sofern die Eltern nicht schon mit der Geburt eine Zahnzusatzversicherung abgeschlossen haben. Kosten für zahnärztliche Leistungen entstehen durch die Betreuung für zahnärztliche Untersuchungen viermal pro Jahr mit Motivation zur Zahnpflege, gegebenenfalls Beratung, Zahnreinigung, Fluoridierung und Konsiliartätigkeit.
Abbildung 3: Die Zähne wurden speziell für den Besuch bei der Zahnärztin gereinigt. Das Zahnfleisch zeigt generalisiert Zeichen der Entzündung, die auf häuslich unzureichende Zahnpflege hindeuten. Es besteht ein erhöhtes Risiko für eine Bakteriämie bei Zahnfleischentzündung durch Kauen und Zähneputzen.
Schlussbetrachtung
Die Zahngesundheit ist bei herzkranken Kindern schwieriger aufrechtzuerhalten als bei gesunden Kindern. Eine Vernachlässigung der Zahngesundheit kann jedoch bei Herzkranken weitreichendere Folgen haben als bei Gesunden: Hierzu gehören die Endokarditis oder eine postoperative Akutphasereaktion, Sepsis, Schock mit Multiorganversagen, postoperative myokardiale Ischämie und verminderte Ventrikelkontraktilität sowie eine Schwächung der körpereigenen Abwehr. Aus diesem Grund sollte die Zusammenarbeit mit Spezialisten im Bereich der Prävention und Kinderzahnmedizin ab dem Zeitpunkt einer diagnostizierten Herzerkrankung gesucht werden.
Literatur: 1. El-Hawary YM et al.: Deciduous teeth structure changes in congenital heart disease: Ultrastructure and microanalysis. Interv Med Appl Sci 2014; 6(3): 111–117. 2. Suvarna RM et al.: Oral health of children with congenital heart disease following preventive treatment. J Clin Pediatr Dent 2011; 36(1): 93–98. 3. Rutherford ST, Bassler BL: Bacterial quorum sensing: Its role in virulence and possibilities for its control; Cold Spring Harb Perspect Med 2012; 2(11): a012427; doi:10.1101/cshperspect.a012427 4. WHO expert consultation on public health intervention against early childhood caries. Report of a meeting, Bangkok, Thailand. 2016 WHO/NMH/PND/17.1. 5. Menon MM et al.: Evaluation of salivary interleukin-6 in children with early childhood caries after treatment. Contemp Clinik Dent 2016; 7(2): 198–202. 6. Sharma V et al.: Diagnostic potential of inflammatory biomarkers in early childhood caries – A case control study. Clinica Chimica Acta 2017; 471: 158–163. 7. von Borstel TM: Cytokinsekretion im perioperativen Verlauf von aorto-coronaren VenenBypass-Operationen. Dissertation Universität Lübeck 2003. 8. Olsen I: Update on bacteriaemia related to dental procedures. Transfus Apher Sci 2008; 39(2): 173–178.
Korrespondenzadresse: Dr. med. dent. Cornelia Filippi-Weber Abt. Prophylaxe Allgemeine Kinder- und Jugendzahnmedizin (AKJZM) Universitäres Zentrum für Zahnmedizin Basel (UZB) St. Alban-Vorstadt 12 4010 Basel E-Mail: cornelia.filippi@uzb.ch
Interessenlage: Die Autorinnen erklären, dass keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag bestehen.
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