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Psychosoziale Aspekte atopischer Erkrankungen
Schwerpunkt
Am Beispiel der allergischen Rhinokonjunktivitis, der atopischen Dermatitis und der Nahrungsmittellallergien werden in diesem Beitrag die psychosozialen Kontextfaktoren und die Auswirkungen der Allergien auf Psyche und Lebensqualität erläutert. Sie sind für die verschiedenen atopischen Erkrankungen differenziert zu betrachten. So hat auch die vermeintlich «harmlose» Rhinokonjunktivitis erheblichen Einfluss auf die Lebensqualität der Betroffenen und deren Familien.
Von Thomas Spindler
Der Zusammenhang zwischen allergischen Erkrankungen und der Psyche eines Menschen ist schon seit Jahrhunderten Gegenstand teilweise konträrer Diskussionen. Dies drückt sich in Redewendungen aus, wie zum Beispiel «darauf reagiere ich allergisch», wenn man emotional negativ auf etwas anspricht (1). Allergische Erkrankungen, insbesondere die atopische Dermatitis und das Asthma, wurden bis weit in das letzte Jahrhundert hinein als vorwiegend psychosomatische Erkrankungen angesehen. Dies suggeriert der seit Ende des 19. Jahrhunderts benutzte Begriff der «Neurodermitis» oder die Aussage (2): «Asthma ist im Wesentlichen ... eine Nervenkrankheit, das Nervensystem ist der Sitz der wichtigsten pathologischen Bedingungen.» Dementsprechend waren die primären Therapieansätze im Bereich der Psychotherapie verankert. Medikamentöse Therapien stützten sich auf Sedativa, teilweise sogar auf Opiate (3). Im psychoanalytischen Ansatz des späten 19. Jahrhunderts und im Bereich der Tiefenpsychologie werden frühe Traumata oder Bindungsprobleme für allergische Erkrankungen, insbesondere das Asthma, verantwortlich gemacht. So ist in der orthodoxen Psychoanalyse für einen Asthmaanfall der «Schrei nach der Mutter» als Symbol für die nicht gelöste Mutterbindung verantwortlich (4). Wenngleich in vielen Begrifflichkeiten und Formulierungen seit Jahrhunderten ein Zusammenhang zwischen Allergie und Psyche anklingt, so ist doch erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine systematischere Auseinandersetzung mit den Ursachen und Pathomechanismen erfolgt. Das bio-psycho-soziale Krankheitsmodell und die Begrifflichkeit der «funktionalen Gesundheit» gemäss der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) mit ihrer ganzheitlichen Wahrnehmung des Patienten stellt eine wichtige Hilfe nicht nur für das Verständnis der Zusammenhänge, sondern auch für das diagnostische und therapeutische Vorgehen dar (5).
Diese Modelle haben zwar nicht die Psyche als Ursache der Erkrankungen im Fokus, erkennen und beschreiben aber die intensiven Zusammenhänge zwischen Somatik, Psyche und sozialen Kontextfaktoren als gleichwertig und entscheidend über Erfolg oder Misserfolg einer Therapie. Es zeigt sich, dass der primäre Faktor in Bezug auf die Entwicklung psychosozialer Folgeprobleme der Schweregrad der Erkrankung ist. Psychosoziale Faktoren sind dann mitentscheidend für den Verlauf und die Prognose der Erkrankung (6). In einer Studie mit Erwachsenen zeigte sich, dass insbesondere psychosozialer Stress als Auslöser eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung von Asthma, allergischer Rhinokonjunktivitis und atopischer Dermatitis zu haben scheint (7).
Die atopische Dermatitis hat trotz ihrer nicht lebensbedrohlichen Eigenschaft einen massiven Einfluss auf Lebensqualität, psychosoziale Entwicklung und Verhaltensauffälligkeiten der betroffenen Kinder und Familien.
Im Hinblick auf die psychosozialen Kontextfaktoren und die Auswirkungen auf Psyche und Lebensqualität müssen die einzelnen atopischen Krankheitsbilder differenziert betrachtet werden. Weil es bereits zahlreiche Übersichtsartikel zum Thema Asthma gibt und ein gut kontrolliertes Asthma kaum noch Auswirkungen auf die Lebensqualität hat, soll hier der Schwerpunkt auf die allergische Rhinokonjunktivitis, die atopische Dermatitis und auf die Nahrungsmittellallergien gelegt werden.
Allergische Rhinokonjunktivitis (RCA)
Aufgrund ihrer nicht lebensbedrohlichen Natur wurde die RCA in der Vergangenheit häufig als triviale Erkrankung abgetan. Zunehmend zeigt sich aber, dass die RCA einen erheblichen Einfluss auf die Lebensqualität der Be-
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Die Angst vor schweren Reaktionen ist ständiger Begleiter, ob in Schule, Freizeit oder Sport.
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troffenen und auch auf deren Familien hat. Insbesondere bei nicht ausreichender Behandlung führt sie zu emotionaler Belastung, Einschränkung der Alltagsaktivitäten und der sozialen Teilhabe und über den gestörten Nachtschlaf zur Verminderung der kognitiven Leistungsfähigkeit in Schule, Ausbildung und Beruf (8). In einer Metaanalyse aus dem Jahr 2018, in die insgesamt 27 Artikel zum Thema Belastungen durch RCA bei Kindern und Jugendlichen zwischen 10 und 19 Jahren eingingen, konnten die folgenden Aussagen verifiziert werden (9). Symptome: Die von den Jugendlichen als am lästigsten beschriebenen Symptome waren die seröse Rhinitis, die verstopfte Nase, Niesen und Augenjucken. Allerdings variierten die Symptome zwischen den Jugendlichen erheblich. Als besonders unangenehm wurden Sinusitis und Kopfschmerzen beschrieben. Lebensqualität (QoL): Unabhängig von der Art des eingesetzten Untersuchungsinstruments zeigte sich in allen Studien eine signifikante Einschränkung der QoL. Neben den als einschränkend für die QoL empfundenen Symptomen, insbesondere der behinderten Nasenatmung, zeigten sich auch negative Einflüsse auf das Familienleben und die soziale Teilhabe mit Gleichaltrigen (10). Auch die Notwendigkeit der Einnahme von Medikamenten wurde als Einschränkung der QoL empfunden. Alltagsaktivitäten: Alle untersuchten Studien dokumentierten einen negativen Einfluss der RCA auf die Aktivitäten des Alltags. Dieser negative Effekt gewann mit zunehmenden Symptomen an Bedeutung. Dies berichteten nicht nur die Jugendlichen selbst, sondern auch die Eltern der jüngeren Kinder. Emotionale Stabilität: In den vorliegenden Studien zeigte sich, dass insbesondere Jugendliche mit einer ausgeprägten RCA emotional instabiler sind als gesunde Gleichaltrige. Auch Angst, Somatisierungstendenzen und Depressionen traten bei den Patienten mit ausgeprägter RCA häufiger auf (11). Zusätzlich zeigte sich eine geringere Widerstandsfähigkeit gegen Stress und eine vermehrte Reizbarkeit. Schlaf: Eine symptomatische RCA ist signifikant assoziiert mit gestörtem Nachtschlaf. So berichteten Jugendliche über Probleme beim Einschlafen, nächtliches Erwachen und schlechte Schlafqualität (12). Auch die Häufigkeit des Schnarchens scheint bei Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren mit RCA im Vergleich zu Gesunden signifikant erhöht zu sein (13). Bildung und Schule: Untersucht wurden hier Schulfehlzeiten, Lerneffizienz, schulische Produktivität und Prüfungsnoten. Bei Jugendlichen mit RCA waren in der Pollenflugzeit sowohl vermehrte Fehlzeiten als auch verminderte Produktivität und Konzentrationsprobleme im Unterricht zu beobachten (14). Studien aus Grossbritannien, Norwegen und Schweden zeigten, dass Jugendliche mit RCA in den Pollenflugmonaten signifikant schlechtere Examensnoten aufwiesen (9). Zusammenfassung: Es zeigt sich also, dass eine nicht gut behandelte RCA nicht nur Einfluss auf das subjektive Empfinden der Betroffenen hat, sondern auch Auswirkungen auf QoL, Schlafqualität und Psyche – letztlich auch auf die schulische Leistungsfähigkeit und daraus resultierend auf die Examensnoten und die Ausbildungsperspektiven.
Atopische Dermatitis (AD)
In Deutschland nehmen rund 23 Prozent der Säuglinge und Kleinkinder, 8 Prozent der Schulkinder und 2 bis 4 Prozent der Erwachsenen Gesundheitsleistungen aufgrund von AD in Anspruch (15). Nach Angaben von aha! Allergiezentrum Schweiz sind in der Schweiz zirka 20 Prozent der Kinder von einem atopischen Ekzem betroffen. In 85 Prozent der Fälle treten die Symptome in den ersten fünf Lebensjahren auf. Die AD ist mit einer Lebenszeitprävalenz von über 13 Prozent bis zum Alter von 17 Jahren somit die häufigste chronische Erkrankung in dieser Altersgruppe. Die AD tritt häufig mit anderen atopischen Erkrankungen, wie Asthma und Nahrungsmittelallergien, auf. Auswirkungen auf die psychosoziale Entwicklung und Teilhabe: AD hat Auswirkungen auf zahlreiche Faktoren der psychischen und sozialen Entwicklung der betroffenen Kinder und auf deren Familien. So ist sie ein häufiger Grund für Schlafstörungen (16), und sie führt häufig zu erheblichen Einschränkungen und Belastungen im Alltag betroffener Patienten und ihrer Familien. Kinder mit Neurodermitis haben häufiger psychische Auffälligkeiten, Interaktionsprobleme, Probleme mit der Akzeptanz durch ihre Peergroup und emotionale Störungen als die gesunde Vergleichsgruppe (17, 18). Ausserdem erkranken sie häufiger an einem ADHS als Kinder ohne Neurodermitis (18, 19). Auswirkungen auf das Familiensystem: Die AD geht mit einer ausgeprägten psychosozialen Beeinträchtigung des gesamten Familiensystems einher. Obwohl die Erkrankung per se nicht lebensbedrohlich oder lebensverkürzend ist, wird die QoL dieser Familien oft stärker eingeschränkt als bei potenziell bedrohlichen Erkrankungen (15, 20). Hierfür sind mehrere Faktoren verantwortlich. Zum einen das mit dem quälenden (nächtlichen) Juckreiz einhergehende Schlafdefizit der Kinder und in der Folge auch der Eltern, das zu einem chronischen Erschöpfungszustand mit daraus folgender Leistungsminderung der gesamten Familie führt. Zum anderen durch die Tatsache der Sichtbarkeit der Hautprobleme und die daraus resultierende Stigmatisierung durch die Umgebung. Hinzu kommen Angst vor Ekzemschüben, Unsicherheit bezüglich Auslösern und weitere Einschränkungen, die das Sport- und Freizeitverhalten und auch die Sexualität betreffen (21). Zusammenfassung: Insgesamt ist die AD eine Erkrankung, die trotz ihrer nicht lebensbedrohlichen Eigenschaft einen massiven Einfluss auf Lebensqualität, psychosoziale Entwicklung und Verhaltensauffälligkeiten der betroffenen Kinder und auch auf deren Familien hat – mit allen daraus resultierenden Konsequenzen für Schulbildung, Ausbildung, Berufstätigkeit und Ökonomie. Die Familien müssen nicht nur die AD selbst behandeln, sondern Bewältigungsstrategien bezüglich der komplexen psychosozialen Auswirkungen und Einschränkungen der sozialen Teilhabe entwickeln. Unterstützend wirken hier spezifische und multiprofessionelle Schulungs- und Rehabilitationsprogramme, die den Familien so früh wie möglich angeboten werden sollten (22).
Nahrungsmittelallergien (NMA)
Die Häufigkeit von Nahrungsmittelallergien und -unverträglichkeiten hat in den letzten 20 Jahren deutlich zugenommen. So geht man derzeit davon aus, dass etwa
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5 bis 8 Prozent der Kinder und 3 bis 4 Prozent der Erwachsenen betroffen sind (23). Besonders stark war die Zunahme im Bereich der Erdnuss- und Nussallergien. Die Diagnose einer NMA führt zu einer signifikanten Einschränkung der QoL der betroffenen Kinder und Jugendlichen, ihrer Eltern und des gesamten sozialen Umfelds. So konnte 2003 gezeigt werden, dass die QoL von Kindern mit Erdnussallergie signifikant schlechter war als die von Patienten mit insulinabhängigem Diabetes mellitus (Abbildung) (24). Die wesentliche Beeinträchtigung resultierte aus der ständigen Angst vor einer schweren Reaktion. Die Einschränkung der QoL ist altersabhängig. Eine Arbeitsgruppe aus der Schweiz zeigte, dass ältere Kinder eine stärkere Reduktion der QoL erleben als jüngere (25). Dies ist ein Effekt der zunehmenden Selbstständigkeit und des Bewusstseins älterer Kinder. Verstärkt werden die Bedenken, wenn Eltern als «Korrektiv» entfallen. Die Jugendlichen erleben dann den Gebrauch von öffentlichen Verkehrsmitteln, den Besuch von Partys oder Urlaubsreisen als teilweise lebensbedrohlich (26). Die Einschränkungen der QoL werden umso grösser, je mehr Nahrungsmittel gemieden werden müssen und ganz besonders dann, wenn es sich um Grundnahrungsmittel handelt (27). Die Situation wird durch die Tatsache verstärkt, dass es seit Langem keine neueren therapeutischen Ansätze bei NMA gibt als die konsequente Meidung des Allergens, das Mitführen eines Adrenalin-Autoinjektors und eines schriftlichen Notfallplans. Neue Ansätze wie die orale Toleranzinduktion werden zwar erprobt, sind aber derzeit noch nicht allgemein einsetzbar. So bleibt den Familien oft nicht mehr als die Perspektive «wait and see» und die Hoffnung, dass sich die NMA im Laufe der Zeit «verwächst». In dieser Zeit kann es aber zu einer Vielzahl psychosozialer Probleme kommen: Angst, Panik, Ausgrenzung und Mobbing in der Schule, Depressionen bei den Kindern, Hyperprotektivität, Angststörungen und auch depressive Störungen bei den Eltern (28). Neben den oben genannten Therapieoptionen ist insbesondere die spezifische Schulung der Kinder/Jugendlichen und deren Sorgeberechtigten eine sinnvolle Form der Bewältigungsstrategie (29). Besondere Aufmerksamkeit sollte der Tatsache geschuldet werden, dass die Eltern nahrungsmittelallergischer Kinder deren QoL besser einschätzen als es die betroffenen Kinder und Jugendlichen selbst tun (30). Psychiatrische Diagnosen bei NMA: Betrachtet man die Datenlage bezüglich der Diagnose einer gesicherten Angst- oder Panikstörung gemäss DSM-5, so scheinen Kinder mit einer NMA keine signifikant höhere Rate dieser gesicherten Diagnosen aufzuweisen. Schaut man jedoch genauer in die Subgruppen, so zeigen sich durchaus vermehrte Ängstlichkeit und auch situationsabhängige Panikreaktionen bei den Betroffenen. Dies insbesondere, wenn bereits Erfahrungen mit schweren oder anaphylaktischen Reaktionen vorliegen. Bei diesen Kindern lassen sich auch gehäuft posttraumatische Stresssymptome (PTSS) diagnostizieren. In manchen Fällen kommt es hier zu einer zunehmenden sozialen Isolation (31). Eine Studie mit 1420 Jugendlichen zwischen 10 und 16 Jahren zeigte in insgesamt sechs Interviews, die jährlich durchgeführt wurden, eine von Interview zu Inter-
view zunehmende Rate an Symptomen wie
Ängstlichkeit oder Depression. Ausserdem
zeigten sich vermehrt Symptome eines
AD(H)S und einer Anorexie. Allerdings
wurden die Diagnosekriterien für eine mani-
feste psychiatrische Erkrankung nicht über-
durchschnittlich häufig erfüllt (32).
Pubertät: Als besondere Herausforderung
stellt sich die Pubertät dar. Nach den vorlie-
genden Daten halten nur etwa 40 Prozent der
Jugendlichen konsequent ihre Diät ein, und
gar nur 6 Prozent nehmen konsequent ihren
Adrenalin-Autoinjektor mit. Somit ist es nicht
verwunderlich, dass in der Pubertät das Risiko
schwerer allergischer Allgemeinreaktionen
steigt (33).
Mobbing: Mobbing und Tyrannisierung durch
die Umgebung gehören zu den grössten Her-
ausforderungen für Kinder und Jugendliche
mit NMA. Dies berichten bis zu einem Viertel
der Betroffenen. Sie kann sich in unterschied-
lichsten Situationen zeigen: Spott, Verängsti-
gung, Werfen von Nahrungsmitteln in die
Richtung der Betroffenen oder sogar bewusste
Kontamination des Essens mit den Allergenen.
Dies findet hauptsächlich im Schulalltag statt. Während ein Grossteil dieser Aktionen durch Klassenkameraden erfolgt, ist es erschreckend, dass immerhin 21 Prozent davon durch Lehrer oder Schulmitarbeiter geschehen. So ist es nicht erstaunlich, dass die meisten Lehrer diese Problematik unterschätzen (34). Die Kinder
Abbildung: Vergleich der Lebensqualität von Patienten mit Erdnussallergie und Typ-1-Diabetes; befragt wurden je 20 Kinder und Jugendliche mit Typ-1Diabetes oder Erdnussallergie; nach (24).
selbst berichten ihren Eltern häufig nichts über
diese Erlebnisse.
Auswirkungen auf das Familiensystem: Emotionaler
Stress tritt bei der Familie zeitnah nach dem ersten Er-
eignis einer NMA auf, sogar noch vor der definitiven Dia-
gnosestellung durch den Arzt. In einer 2015 veröffent-
lichten Studie zur QoL der Familien mit NMA (35) zeigte
sich, dass Familien, bei denen die Diagnose noch nicht
gesichert war, eine schlechtere QoL hatten als die Fami-
lien, in denen das auslösende Agens bekannt war. Bei
beiden war die QoL jedoch signifikant erniedrigt. Insbe-
sondere wiesen die Eltern eine erhöhte Rate an Angst-
störungen und Depressionen auf. Auffallend war hier,
dass insbesondere die Mütter betroffen waren, während
die Väter weniger betroffen schienen und teilweise in
den Studien die Fragebögen gar nicht erst ausfüllten.
Auch innerfamiliär treten aus diesen Gründen gehäuft
Spannungen zwischen den Elternteilen auf (28).
Zusammenfassung: Insgesamt beeinflusst eine NMA das
gesamte System Kind-Eltern-Familie, und sie hat Auswir-
kungen auf alle Lebensbereiche. Die Kinder werden in
Schule und Freizeit gemobbt, haben vermehrt depressive
und ängstliche Verhaltensweisen, die Eltern zeigen Auf-
fälligkeiten im Bereich Depression und Angststörung,
und die Interaktion innerhalb der Familien ist durch ei-
nen deutlichen emotionalen Stress belastet. Kenntnis
über das Agens und Sicherheit im Umgang mit Nah-
rungsmitteln und Notfällen bessert die QoL sowohl der
Kinder als auch der Familien. Deshalb ist eine konse-
quente Abklärung, gegebenenfalls einschliesslich statio-
närer Provokationen, und eine suffiziente Schulung der
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Korrespondenzadresse: Dr. med. Thomas Spindler Chefarzt Klinik für Kinder und Jugendliche der Hochgebirgsklinik Davos Allergiecampus Davos Herman-Burchard-Str. 1 7265 Davos-Wolfgang E-Mail: thomas.spindler@hgk.ch
Interessenlage: Der Autor erklärt, dass er im Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenkonflikte hat.
Patienten, Familien und auch der Schulen und Gemeinschaftseinrichtungen zu fordern.
Anaphylaxie
Die Anaphylaxie ist die schwerste Form der allergischen Sofortreaktion. Aufgrund der potenziell lebensbedrohlichen Symptomatik und der Tatsache, dass eine anaphylaktische Reaktion weder in ihrer Ausprägung noch in ihrem Zeitpunkt vorhersehbar ist, ergeben sich erhebliche Einschränkungen der QoL der Familien und eine Belastung im gesamten Alltag in Familie, Schule, Kindergarten und Freizeit. Dies, obwohl tatsächlich tödliche Verläufe insbesondere bei Nahrungsmittelallergikern sehr selten sind. In den letzten Jahren erfolgten zahlreiche Studien zur QoL von Patienten und Familien mit Anaphylaxien. Diese zeigen die Probleme auf und wie diese Familien mit dem Risiko umgehen – für unsere Beratungstätigkeit in der Praxis ist es von zentraler Wichtigkeit, darüber informiert zu sein. Psychosozialer Einfluss auf Kinder/Jugendliche und Familien: Bereits 2003 zeigte Avery in seiner Studie zur QoL, dass die Lebensqualität von Patienten mit Erdnussallergie schlechter ist als die von Patienten mit Typ-1-Diabetes (24). Dies wurde in verschiedenen Folgestudien nicht nur bestätigt, sondern es wurde gezeigt, dass dies nicht nur die Patienten selbst, sondern auch ihre Eltern betrifft: Die Angst ist ständiger Begleiter, ob in Schule, Freizeit oder Sport (36). Angst und Einschränkungen des Alltagslebens sind in den Familien mit kleineren Kindern ausgeprägter als in den Familien mit älteren Kindern (37). Die QoL in den Familien sinkt nach der ersten anaphylaktischen Reaktion und bessert sich mit zunehmender Klarheit über Ursache der Reaktion, fachlicher Unterstützung der Familie und der Fähigkeit, schwere Reaktionen selbst zu managen. Problematisch wird die Lage oft in der Pubertät. Hier kommt es im Rahmen des klassischen Risikoverhaltens und auch durch den Einfluss der Peergroup gehäuft zu kritischen Situationen. Dies vor dem Hintergrund, dass die Notfallmedikation gerade in dieser Altersgruppe häufig nicht mitgeführt wird. Zusammenfassung: Schwere allergische Sofortreaktionen haben einen erheblichen Einfluss auf die Lebensqualität der Patienten und deren Familien. Es kommt gehäuft zu Angststörungen, Hyperprotektion und sozialer Ausgrenzung. Massnahmen wie eindeutige Diagnostik, fachliche Unterstützung, klare Notfallanweisungen und strukturierte Anaphylaxieschulung, wie zum Beispiel von der Arbeitsgemeinschaft Anaphylaxie-Training und -edukation (AGATE) (www.anaphylaxieschulung.de/) oder aha! (www.aha.ch/allergiezentrum-schweiz/leben-mitallergien/schulungen/anaphylaxie-schulung), sind Massnahmen, die den Patienten und ihren Familien wieder eine akzeptable Lebensqualität ermöglichen.
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