Transkript
Schwerpunkt
Nahrungsmittelallergien im Kindesalter
Prävention und therapeutische Optionen
Aktuelle Studien haben unsere Kenntnisse hinsichtlich Prävention und Behandlung von Nahrungsmittelallergien (NMA) erweitert. So empfiehlt man heute eine frühzeitige Einführung der Beikost, auch mit potenziell allergenen Nahrungsmitteln. Auch bei der Therapie gibt es Neues, beispielsweise zur spezifischen Immuntherapie bei NMA. Dieser Artikel gibt eine Übersicht über die bewährten und neuen Optionen.
Von Camille Braun und Jean-Christoph Caubet
E ine Allergie ist durch das gleichzeitige Auftreten einer Reihe objektiv messbarer Symptome definiert, die reproduzierbar durch Substanzen ausgelöst werden, welche von der Allgemeinbevölkerung normalerweise toleriert werden, wobei diesen Symptomen ein immunologischer Mechanismus zugrunde liegt (1) beziehungsweise vermutet werden darf. Der auslösende Reiz kann ein Aero- oder Kontaktallergen sein, ein Medikament, ein tierisches Gift oder auch ein Nahrungsmittel. Nahrungsmittelallergien (NMA) betreffen weltweit 10 Prozent der Bevölkerung, hauptsächlich in den entwickelten Ländern (2). Meist treten sie bereits im Kindesalter auf,
Tabelle 1:
Beispiele für histamin- und tyraminreiche Lebensmittel
Wichtige Lebensmittel, die reich an Histamin sind
fermentierter Käse
Emmentaler, Parmesan, Roquefort, Gouda, Camembert, Cheddar
Wurstwaren
Trockenwürste, Schinken
Eiweiss
Fisch (Quantität variabel,
Thunfisch, Sardine, Forelle, Sardelle, Hering, Trockenfisch,
je nach Frische)
Räucherfisch, Fischkonserven
Gemüse
Tomaten, Spinat, Erbsen, Sauerkraut, Linsen, Möhren, Saubohnen
Früchte
frisch, Saft, Konfitüre, Eis und Sorbet:
Banane, Erdbeere, Zitrusfrüchte, Ananas, Papaya, Mango,
Nüsse, Erdnuss
Schokolade und Kakao
Wichtige Lebensmittel, die reich an Tyramin sind
Schokolade
Käse Gruyère, Brie, Roquefort
Fisch marinierter Hering, Fischkonserven, Räucherfisch
Wild (abgehangen)
Gemüse
Tomate, Kohl, Erbse
Früchte
Avocado, Feige, Trauben
andere
Bierhefe, Weiss- und Rotwein
vor allem gegenüber Kuhmilch, Ei, Weizen, Nüssen und Erdnuss sowie Fisch und Meeresfrüchten (3). Bei den meisten NMA handelt es sich um IgE-vermittelte Reaktionen vom Soforttyp. Ihre Diagnose erfolgt meist aufgrund der Assoziation eines entsprechenden klinischen Verlaufs mit den positiven Resultaten allergologischer Tests (Prick-Test oder spezifische IgE im Serum). Die selteneren verzögerten NMA (nicht IgE-vermittelt) werden im Wesentlichen aufgrund des klinischen Verlaufs diagnostiziert. Falls Anamnese und unterschiedliche Testverfahren keine übereinstimmenden Resultate liefern, bleibt der Provokationstest als Möglichkeit, eine NMA zu bestätigen oder auszuschliessen: Hierbei wird das vermutete Allergen dem Patienten unter medizinischer Überwachung in steigenden Konzentrationen verabreicht; im Falle von verzögert auftretenden Allergien nach einer Eliminationsdiät (3). Eine gute Kenntnis der erforderlichen Schritte zur Abklärung einer vermuteten NMA ist für den Pädiater unerlässlich, um keine voreiligen Diagnosen zu stellen und eine zu umfangreiche Karenzdiät zu verordnen. Insbesondere ist es unabdingbar, die NMA vom Soforttyp differenzialdiagnostisch von Vergiftungen mit Histamin zu unterscheiden, das in bestimmten Lebensmitteln vorkommt beziehungsweise nach dem Genuss tyraminreicher Speisen freigesetzt wird (Tabelle 1). Eine gute Übersicht zu diesem Aspekt bietet die Übersichtsarbeit von Roethlisberger und Spertini 2016 (4). Im Folgenden wird der durch kürzlich publizierte Studien aktualisierte Stand des Wissens zur Prävention der NMA und zu ihrer Behandlung erläutert.
Gibt es Risikofaktoren für NMA?
Zahlreiche Faktoren sind mit dem Risiko für das Auftreten einer NMA assoziiert (3, 5). Diese Erkenntnisse sind von wissenschaftlichem Interesse, aber nicht alle sind auch für die Praxis relevant.
4 Pädiatrie 2/19
Schwerpunkt
Studien mit Familien zeigten, dass eine genetische Prädisposition, wie bei allen anderen atopischen Erkrankungen auch (z.B. die Mutation des Filaggringens bei der atopischen Dermatitis), möglich ist (3). So zeigte sich, dass ein Kind ein siebenfach höheres Risiko für eine Erdnussallergie hat, wenn seine Eltern oder Geschwister ebenfalls betroffen sind. Wenn bei eineiigen Zwillingen einer allergisch ist, beträgt das Risiko für den anderen 64 bis 87 Prozent, ebenfalls eine Allergie zu entwickeln. Auch das männliche Geschlecht wird als Risikofaktor für NMA bei mehreren Allergenen in Betracht gezogen. Atopische Vorbelastungen (z.B. eine frühere Neurodermitis) erhöhten das NMA-Risiko: Kinder mit atopischer Dermatitis haben ein im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung sechsfach höheres Risiko, eine NMA zu entwickeln (6). Eine aktuelle Hypothese besagt, dass der
Tabelle 2:
Primärprävention von NMA bei Kindern – aktuelle Erkenntnisse
Organismus hierbei über die Haut gegenüber Nahrungsmitteln sensibilisiert wird, während die orale Route in Richtung immunologischer Toleranz führt (7). Das mit einer Schwächung der Hautbarriere und einer zugrunde liegenden Entzündung verbundene Ekzem begünstigt hierbei die Sensibilisierung (7). Immer mehr Studien befassen sich mit dem Einfluss des Mikrobioms auf die Entwicklung von Allergien. Gemäss der Hygienehypothese haben Bauernkinder ein geringeres Allergierisiko als Stadtkinder, weil Erstere mit deutlich mehr Keimen in Berührung kommen und somit ein ausgereifteres Immunsystem entwickeln. In Bezug auf NMA ist diese Hypothese jedoch schwierig zu verifizieren. Man konnte bisher nur feststellen, dass Kinder, die per Kaiserschnitt geboren wurden, im Vergleich mit vaginal geborenen Kindern ein leicht erhöhtes Risiko für NMA aufweisen (8). Weitere Aspekte sind Gegenstand der Forschung, wie zum Beispiel die bereits genannte Bedeutung des Mikrobioms sowie jene von Vitamin D und bestimmten Fettsäuren (3).
Schwangerschaft und Stillzeit Vor Einführung der Beikost
Alter bei Beikosteinführung Nach der Beikosteinführung NMA: Nahrungsmittelallergie
Der Verzicht auf ein Lebensmittel durch die Mutter verringert das Risiko einer Sensibilisierung nicht. Die Schutzwirkung des Stillens bezüglich Allergien ist nicht klar bewiesen. Ein Nutzen für den Gebrauch von HA- oder AS-Milchen bei Kindern mit Risikofaktoren für eine Kuhmilchallergie konnte in Bezug auf die Kuhmilchallergie nicht gezeigt werden. Eine allergologische Abklärung sollte im Fall einer vorherigen NMA durchgeführt werden. Die Einführung vielfältiger Nahrungsmittel sollte frühzeitig erfolgen (ab dem 4. Monat). Die Verzögerung der Einführung von Nahrungsmitteln mit Allergiepotenzial verringert das Risiko für eine NMA nicht. Falls ein riskantes Lebensmittel (z.B. Kekse bei einem Kind mit Ei-Allergie) vertragen wird, soll dieses Lebensmittel regelmässig konsumiert werden, um das Weiterbestehen einer Toleranz zu fördern.
Tabelle 3:
Vorgehen bei akuten Reaktionen
Reaktion vom Soforttyp
< 1 Stunde nach Aufnahme des verursachenden Nahrungsmittels isolierte Urtikaria Anaphylaxie Antihistaminikum H1 per os Adrenalin i.m. systemische Kortikoide sind indiziert (ohne Wirksamkeitsnachweis) kurz wirksames Beta-2-Mimetikum bei Wheezing Verordnung eines Adrenalin-Autoinjektors Enterokolitissyndrom durch Nahrungsmittelproteine (FPIES) (15) 1 bis 4 Stunden nach Aufnahme des verursachenden Nahrungsmittels ohne andere Anzeichen einer Anaphylaxie moderate Reaktion schwere Reaktion keine Lethargie, 1- bis 2-maliges Lethargie, ≥ 3-maliges Erbrechen Erbrechen Hospitalisation, i.v.-Rehydratation, Ondansetron i.v. keine Indikation für Adrenalin i.m. keine Verordnung eines Adrenalin- Autoinjektors Gibt es eine Prävention gegen NMA? Die Existenz von Risikofaktoren impliziert notwendigerweise die Frage nach der Prävention von NMA. Insbesondere wird das ideale Timing für die Einführung der Beikost im Säuglingsalter diskutiert. Man nahm über lange Zeit an, dass die verzögerte Einführung eines neuen Nahrungsmittels im Säuglingsalter das Risiko für NMA verringern könnte. Aktuelle Studien zur Erdnussallergie zeigten jedoch, dass im Gegenteil eine frühzeitige Einführung von Erdnüssen in der Beikost (ab dem 4. Monat) das Risiko für eine Erdnussallergie hochsignifikant senken konnte (9). Studien mit der verzögerten Einführung von anderen Nahrungsmitteln lieferten bis heute keine Anhaltspunkte für einen Vorteil im Sinne einer NMA-Prävention. Es braucht grössere Studien, um die Bedeutung einer bewussten vorzeitigen Einführung von Nahrungsmitteln abzuklären, in erster Linie bezüglich Eiern, zu denen bereits zahlreiche Studien vorliegen, und insbesondere bei Kindern mit hohem NMA-Risiko. In Tabelle 2 wird der aktuelle Stand des Wissens zusammengefasst (10, 11). Darüber hinaus ist mittlerweile bekannt, dass Kinder mit hohem NMA-Risiko (schweres Ekzem und/oder Ei-Allergie) allergologisch abgeklärt sein müssen, bevor man ihnen zum ersten Mal Erdnüsse gibt (9, 12). Man sollte diese Massnahme vernünftigerweise auf alle Kinder ausweiten, die bereits eine NMA haben. Sie müssen allergologisch bezüglich der häufigsten Allergene abgeklärt werden, falls diese noch nicht in die Ernährung eingeführt wurden. Für die Praxis bedeuten die neuen Studienresultate zu Kindern mit einem hohen NMA-Risiko vor allem, dass die vorzeitige und fortwährende Gabe eines Nahrungsmittels in der Beikost risikolos ist. Aus diesem Grund empfehlen die internationalen Fachgesellschaften, insbesondere die amerikanische (www.aaaai.org), die schweizerische (www.swiss-paediatrics.org) und die europäische (www.espghan.org), den frühzeitigen Beginn einer vielfältigen Beikost (im 4. bis 6. Monat), ohne die Einführung von Nahrungsmitteln mit Allergiepotenzial zu verzögern. 6 Pädiatrie 2/19 Schwerpunkt Behandlung in akuten Situationen Anaphylaxie: Die Anaphylaxie (13) ist eine lebensgefährliche, schwere systemische Überempfindlichkeitsreaktion. Die häufigsten Auslöser sind Schalenfrüchte (z.B. Erdnüsse), Fisch und Milch. Die Behandlung einer Anaphylaxie (14) (Tabelle 3) basiert auf i.m.-Adrenalin in einer Dosierung von 0,01 mg/kg KG. Eine i.v.-Verabreichung kommt auf der Intensivstation infrage. Antihistaminika und kurz wirksame Beta-2-Mimetika werden zur Eindämmung der kutanen beziehungsweise respiratorischen Symptome eingesetzt. Systemische Glukokortikoide (oral oder i.v.) sind zur Verhütung einer verzögerten Reaktion (Mastzelldegranulation) indiziert, obwohl ihre Wirksamkeit in dieser Situation nicht durch Studien belegt ist. Nach einer Anaphylaxie ist mindestens ein Adrenalin-Autoinjektor zu verordnen, in Verbindung mit einer Schulung der Eltern und des Kindes, wie dieser im Fall einer erneuten schweren Reaktion einzusetzen ist. Die Autoinjektor-Dosierungen betragen 150 µg für Kinder unter 25 kg KG und 300 µg ab 25 kg KG. Enterokolitissyndrom (FPIES): Das durch Nahrungsmittelproteine induzierte Enterokolitissyndrom bedarf besonderer Aufmerksamkeit (15). Das klinische Bild ist mitunter eindrücklich, im Gegensatz zur Anaphylaxie ist eine Adrenalininjektion jedoch nicht indiziert. Es handelt sich vielmehr um eine nicht IgE-vermittelte schwere Reaktion, die durch Erbrechen, Lethargie und Blässe charakterisiert ist, bei völligem Fehlen anderer Anzeichen einer Anaphylaxie (wie Atemnot oder Hautreaktionen). Sie tritt zwischen 1 und 4 Stunden nach der Aufnahme des auslösenden Nahrungsmittels auf. Der Patient kann eine Diarrhö entwickeln, meist innerhalb von 24 Stunden. In schweren Fällen kann es zu einer Dehydratation mit Hypotonie kommen. Auf den ersten Blick lassen die Symptome eines FPIES an eine Anaphylaxie denken (Schock, Lethargie, Erbrechen), aber das Fehlen respiratorischer oder kutaner Anzeichen spricht dagegen. Adrenalin hat keine Wirkung auf die FPIES-Symptome. Es ist darum nicht indiziert, und es muss auch kein AdrenalinAutoinjektor verordnet werden. In weniger schweren Fällen (1- bis 2-maliges Erbrechen, keine Lethargie) reicht eine orale Rehydratation zu Hause aus. Ab 3-maligem Erbrechen oder bei Lethargie muss das Kind ins Spital zur intensiven i.v.-Rehydratation (15% der FPIES-Patienten haben einen hypovolämischen Schock). Eine begleitende antiemetische Behandlung mit Ondansetron (i.m. oder i.v.) oder Methylprednisolon ist möglich, die Wirksamkeit wurde jedoch noch nie nachgewiesen (Tabelle 3). Allergenkarenz Die Ernährung von Kindern mit einer NMA muss frei vom auslösenden Agens sein. Im Falle einer Kuhmilchallergie stehen hydrolisierte Milchen zur Verfügung, die keine Kuhmilchproteine enthalten. Die Ernährung muss an die Situation des Kindes angepasst sein. So vertragen einige Kinder mit Milch- oder EiAllergie diese Nahrungsmittel, wenn sie gekocht oder gebacken sind (z.B. in Keksen). Die Analyse der spezifischen IgE gegen bestimmte Nahrungsmittelbestandteile, häufig in Kombination mit Provokationstests, erlaubt eine genauere Charakterisierung der Toleranz. In jedem Fall müssen der Patient und seine Umgebung die Zusammensetzung industriell hergestellter Nah- rungsmittel vor dem Konsum überprüfen. In einigen Ländern besteht eine Verpflichtung, enthaltene Allergene auf der Packung anzugeben; in der Schweiz besagt die Verordnung 817.022.16 von 2016, dass neben den allgemeinen Lebensmitteldaten auch die Allergene genannt werden müssen. Ebenso wichtig ist es, an das Risiko von Kreuzallergien (Tabelle 4) sowie die Resultate allergologischer Tests zu denken und auch daran, ob ein Kind ein bestimmtes Lebensmittel bereits probiert hat oder nicht. Um keine allzu restriktive Diät zu verordnen, sind folgende Punkte zu beachten: ● Ein Kind, das in einem allergologischen Test (Hauttest oder spezifische IgE) positiv auf ein bestimmtes Lebensmittel ist, dieses aber problemlos verträgt, ist nicht allergisch und darf es weiterhin essen. ● Ein Kind, das eine Sensibilisierung gegenüber einem Nahrungsmittel aufweist, das es noch nie gegessen hat, profitiert von einer allergologischen Beratung und eventuell einem oralen Provokationstest. Darüber hinaus besteht bei NMA stets das Risiko einer versehentlichen Exposition, die zu schweren Reaktionen führen kann. Die Formulierung «kann Spuren von ... enthalten» oder «hergestellt in einer Fabrik, welche auch ... Tabelle 4: Potenzielle Kreuzreaktionen Nahrungsmittel und Produkte, die vermieden oder freigegeben werden müssen Nahrungsmittel, das für die Allergie verantwortlich ist Kuhmilch Ei Vermeiden Freigabe erforderlich (falls nicht bereits ohne (falls weder Toleranz noch Reaktion Symptome konsumiert) bekannt ist) gekochte und/oder rohe Milch Rind- oder Kalbfleisch, Laktose, nach allergologischer Testung Soja (Vorsicht bei «versteckter» Milch!) Schaf- oder Ziegenmilch Kosmetika, die Milch enthalten gekochtes oder rohes Ei Geflügel nach allergologischer Testung Influenzaimpfstoff (in den allermeisten Fällen MMR-Impfstoff Reaktion gegen Eiweiss) Schalenfrüchte: Haselnuss, Mandel, Walnuss, Cashew, Macadamia, Pistazie, Pinienkerne, Paranuss, Pekannuss Erdnuss Weizen Fisch Meeresfrüchte andere Schalenfrüchte und Erdnüsse gemäss allergologischem Testresultat bekannte Kreuzreaktionen: Pistazie mit Cashew, Walnuss mit Pekannuss, Schalenfrüchte mit Erdnuss Öle aus Schalenfrüchten (Kaltpressung) Kosmetika, die Schalenfrüchte enthalten nicht raffiniertes Erdnussöl alle Weizenprodukte: Weizen, Dinkel, Stärke Kosmetika auf der Basis von Produkten aus Weizen und Haferflocken alle Fische ausser nach allergologischer Abklärung andere Meeresfrüchte Kokosnuss, Muskatnuss, Shea-Butter oder -Öl raffiniertes Erdnussöl Thunfischkonserven, Meeresfrüchte, Kaviar, Fischeier Fische iodhaltige Kontrastmittel 2/19 Pädiatrie 7 Schwerpunkt herstellt» weist in einigen Ländern auf die Gefahr versteckter Allergene hin. Allerdings zeigt eine aktuelle Übersichtsarbeit, dass je nach Land und Nahrungsmittel mit «Spuren von» sehr unterschiedliche Allergengehalte gemeint sind (16). Es gibt bis heute keine verbindliche Definition des Begriffs «Spuren». Auch gilt es zu beachten, dass es keine Definition einer dosisabhängigen NMA gibt, und dass die Reaktionsschwelle nicht bei jedem Allergiker gleich hoch ist. Darum können einige Allergiker kleine Mengen des Allergens vertragen, während andere bereits auf Spuren davon heftig reagieren. Es gibt bis heute keine Empfehlung, wie man mit der Information «kann Spuren von … enthalten» im Einzelfall umgehen soll. Dies bleibt Erfahrungssache, sowohl von ärztlicher Seite als auch vonseiten des Patienten und seiner Umgebung. Es ist jedoch unerlässlich, die Patienten und die Eltern über die bestehenden Risiken zu informieren, auch wenn sie klein erscheinen. Die Allergenkarenz muss überall gewährleistet sein. Besondere Vorsicht ist in Gaststätten geboten, insbesondere in Eiscafés, Konditoreien und asiatischen Restaurants in Bezug auf Schalenfrüchte, Erdnüsse, Fisch- und Meeresfrüchte sowie bei Buffets mit dem Risiko, dass verschiedene Lebensmittel in Kontakt kommen und eigentlich verträgliche Nahrungsmittel «kontaminiert» sein können. Für Kinder bedeutet dies, dass für Gemeinschaftseinrichtungen ein Protokoll hinterlegt sein muss, welche Allergene vermieden werden müssen, welche Notfallmassnahmen im Fall einer allergischen Reaktion zu ergreifen sind, und wer diese durchführt. Der Pädiater muss dafür sorgen, die Notwendigkeit der Allergenkarenz regelmässig erneut zu evaluieren, insbesondere auch durch Nachfragen bezüglich unfreiwilliger Allergenkontakte (z.B. Pesto, das Pinienkerne oder Cashewnüsse enthielt), um Patient und Familie daran zu erinnern, worauf geachtet werden muss. Eine allergologische Begleitung mit regelmässigen allergologischen Untersuchungen und oralen Provokationstest ist sinnvoll, denn einige NMA (hauptsächlich gegen Milch, Ei und Weizen) verschwinden bis zur Adoleszenz im Lauf der Zeit von selbst (17). Spezifische Immuntherapie bei NMA Die Therapie der Wahl ist, wie bereits erläutert, die Allergenkarenz und das Management akuter Situationen. Seit einigen Jahre wird eine spezifische Immuntherapie (SIT; auch als «Toleranzinduktion» oder «Desensibilisierung» bezeichnet) vorgeschlagen, die auf oralem Weg erfolgt. Sie wird bereits in den aktuellen europäischen Richtlinien für IgE-vermittelte NMA ab einem Alter von 4 bis 5 Jahren als Option genannt (18). Es gibt weitere Darreichungsformen (sublingual, subkutan), die jedoch zur Behandlung von NMA noch im Experimentalstadium sind. Die orale SIT besteht in einer täglichen Aufnahme des Allergens, um eine Desensibilisierung gegenüber diesem Allergen zu induzieren, mit dem Ziel, schlussendlich eine immunologische Toleranz zu erreichen. Die reaktive Allergendosis wird durch einen oralen Provokationstest ermittelt. In der Therapie wird mit einer niedrigeren Dosis begonnen, und diese wird nach und nach erhöht, bis die Reaktionsschwelle erreicht ist. Studien, die in erster Linie mit Erdnuss, Ei und Kuhmilch durchgeführt wurden, sprechen für die Wirksamkeit der oralen SIT im Sinne einer Desensibilisierung: Der Patient kann in einem Provokationstest während der SIT eine bestimmte Allergendosis vertragen. Eine Metaanalyse von Studien, in denen die orale SIT mit Plazebo oder Allergenkarenz verglichen wurde, ergab, dass mit oraler SIT in 76,9 Prozent der Fälle desensibilisiert werden konnte, gegenüber 8,1 Prozent mit Plazebo oder bei Allergenkarenz (19). Diese Desensibilisierung erhöht die Reaktionsschwelle und vermindert somit das Risiko einer Immunreaktion aufgrund versehentlicher Exposition; in einigen Fällen erlaubt die Therapie auch, dass kleine Allergenmengen konsumiert werden können (insbesondere Zutaten). In einigen Studien wird von einer anhaltenden Toleranz auch nach Beendigung der oralen SIT berichtet (im Mittel 4–8 Wochen) (19). Allerdings müssen diese Resultate noch in prospektiven Studien überprüft werden, inklusive eines Vergleichs mit dem natürlichen Verlauf von NMA. Auch Studien mit anderen NMA-relevanten Allergenen sind notwendig sowie solche zur oralen SIT bei Multiallergikern mit mehreren Nahrungsmitteln gleichzeitig. Anzumerken ist überdies, dass die Wirksamkeit der oralen SIT bei NMA mit Nebenwirkungen erkauft wird, die schwerwiegend sein können oder zumindest so unangenehm, dass sie zum Abbruch der Therapie führen. Berichtet wird in diesem Zusammenhang von lokalen (Pruritus, bukkaler Ausschlag) und systemischen (generalisierte Urtikaria, Bronchospasmen, Anaphylaxie) allergischen Reaktionen, unspezifischen gastrointestinalen Beschwerden (abdominelles Unwohlsein) und vor allem Ekel vor dem entsprechenden Nahrungsmittel. Darüber hinaus muss das Nahrungsmittel über mehrere Jahre hinweg ohne Unterbrechung täglich eingenommen werden, um nicht zu riskieren, die erlangte Desensibilisierung wieder zu verlieren. Dies erfordert vonseiten des Patienten eine hohe Motivation im Bewusstsein des zu erwartenden Nutzens und der potenziellen Risiken. Begleitende Massnahmen zur oralen SIT werden zurzeit evaluiert, aber noch nicht empfohlen. Dabei geht es zum Beispiel um eine zusätzlich Antikörpertherapie gegen IgE (Omalizumab als Vor- oder Parallelbehandlung), um die Wirksamkeit und Desensibilisierung bei einer oralen SIT zu fördern, oder auch um die zusätzliche Gabe von Probiotika (Laktobazillus) während der oralen SIT, vor allem, um deren Nebenwirkungen zu dämpfen. Zusammenfassung Die Prävention von NMA ist Gegenstand laufender Forschung, aber zurzeit spricht einiges für eine nicht verzögerte, ja sogar frühzeitige Beikosteinführung zwischen dem 4. und 6. Lebensmonat, auch bei Kindern mit einem erhöhten NMA-Risiko. Die Allergenkarenz und, falls nötig, ein Notfallset mit einem oralen Antihistaminikum und einem Adrenalin-Autoinjektor sind die Basistherapie bei NMA. Die Abklärung der verantwortlichen Allergene ist von grundlegender Bedeutung, um überflüssige Nahrungsmittelverbote zu verhindern. Die Allergenkarenz muss gut durchdacht sein, insbesondere, wenn es um mehrere Nahrungsmittel geht, um keine neuen Allergien zu induzieren. Eine spezifische SIT bei NMA ist in Entwicklung, erste Ergebnisse sind ermutigend. Sie kann den natürlichen Ver- 8 Pädiatrie 2/19 Schwerpunkt lauf einer NMA beeinflussen und das Risiko einer allergischen Reaktion vermindern. Sie gilt heutzutage als therapeutische Option. Allerdings ist diese SIT nicht frei von Risiken und muss von Spezialisten im Spital durchgeführt werden. Eventuell können adjuvante Behandlungen die Wirksamkeit der SIT künftig verbessern, insbesondere bei polyallergischen Kindern, und das Risiko von Nebenwirkungen senken. Korrespondenzadresse: Camille Braun Unité d’allergologie pédiatrique Hôpitaux Universitaires de Genève rue Willy-Donzé 6 1205 Genève und Université Lyon 1 Claude Bernard 43 boulevard du 11-Novembre-1918 F-69100 Villeurbanne, France E-Mail: camille.braun@chu-lyon.fr Interessenlage: Die Autoren erklären, dass sie im Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenkonflikte haben. Dieser Beitrag wurde für die PÄDIATRIE in französischer Sprache verfasst. Die Übersetzung erfolgte durch Dr. Renate Bonifer. Literatur: 1. Johansson SGO et al.: Revised nomenclature for allergy for global use: Report of the Nomenclature Review Committee of the World Allergy Organization, October 2003. J Allergy Clin Immunol 2004; 113(5): 832–836. 2. Sicherer SH: Epidemiology of food allergy. J Allergy Clin Immunol 2011; 127 (3): 594–602. 3. Sicherer SH, Sampson HA: Food allergy: A review and update on epidemiology, pathogenesis, diagnosis, prevention, and management. 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