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Schwerpunkt
Erdnussfreie Schulen?
Was schwere Nahrungsmittelallergien im Alltag bedeuten
Eltern von Kindern mit extrem schweren Nahrungsmittelallergien sind mehrfach gefordert: Sie müssen nicht nur ihr Kind vor einem potenziell tödlichen Allergen schützen, sondern auch im Umfeld um Verständnis und Rücksichtnahme werben. Wir sprachen mit Angelica Dünner, der Präsidentin des Vereins Erdnussallergie und Anaphylaxie (VEaA), über alltägliche Probleme und mögliche Lösungen.
Angelica Dünner
F rau Dünner: Wie viele Kinder und Erwachsene in der Schweiz sind von einer schweren Nussallergie betroffen? Angelica Dünner: Wir wissen es nicht genau, weil in der Schweiz diese Zahlen leider nicht systematisch erfasst werden. Es gibt dazu aber Zahlen aus England und Amerika, wonach 4 bis 8 Prozent der Bevölkerung Nahrungsmittelallergien haben, und eine 2012 publizierte Studie belegte, dass die Prävalenz von Erdnuss- und Nussallergien mit anaphylaktischer Ausprägung bei bis zu 1 Prozent aller Kinder lag – mit steigender Tendenz in den letzten Jahren. Man geht davon aus, dass diese Zahlen für die Schweiz nicht wesentlich anders lauten. Klar ist aber, dass Kinder und Erwachsene mit einer schweren Erdnussallergie in ihrem Alltag massiv beeinträchtigt sind. Als Rechtsanwältin habe ich mir auch einmal die Rechtslage dazu angeschaut. Gemäss der UNOBehindertenrechtskonvention, welche auch die Schweiz ratifiziert hat, gelten auch chronische Erkrankungen als Behinderung, wenn die betroffene Person im Alltag massiv eingeschränkt ist. Familien von Kindern mit schwerer Erdnussallergie sind daher ebenso berechtigt, Hilflosenentschädigung der IV zu erhalten, wie Familien von Kindern mit anderen chronischen Krankheiten wie Epilepsie. Erste Fälle wurden so bei der IV angemeldet.
«Familien von Kindern mit schwerer Erdnussallergie sind ebenso berechtigt, Hilflosenentschädigung zu erhalten, wie Familien von Kindern mit Epilepsie.»
Wie stellt sich die Situation für die betroffenen Familien dar? Dünner: Die Situation ist uns im Alltag immer bewusst. Wir hören oft: «Dann soll das Kind doch einfach keine Erdnüsse essen.» Das ist selbstverständlich, reicht aber leider nicht aus. Wesentlich ist: Bei diesem Schweregrad der Allergie können lebensbedrohliche Reaktionen schon durch winzige Mengen des Allergens, das heisst im Milligrammbereich, ausgelöst werden. Jeder Kontakt mit dem Allergen kann für unsere Kinder mit diesem
Schweregrad der Allergie zu einer anaphylaktischen Reaktion führen, selbst kleinste Verunreinigungen, wie zum Beispiel an den Händen anderer Kinder, die unser Kind anfassen, oder auch an Türgriffen oder auf Tischflächen, können verheerend sein. Diese Verunreinigungen sind ja nicht sichtbar. Das Kind und seine Familie müssen daher immer vorbereitet und achtsam sein. Dennoch möchten wir unsere Kinder nicht in Watte packen, sondern ihnen beibringen, wie sie sich im Alltag fortwährend selbstständiger bewegen und sich selbst schützen können. Sie lernen schon früh, wie sie im Notfall reagieren und Hilfe holen können. Man geht davon aus, dass Kinder eine schwere Reaktion erst ab zirka 12 Jahren komplett selbstständig managen können, denn neben der Verabreichung der richtigen Medikamente zum richtigen Zeitpunkt gehört dazu auch die Alarmierung der Notfalldienste.
Man versucht neuerdings, Nahrungsmittelallergien mittels Desensibilisierung zu behandeln. Macht Ihnen das Hoffnung? Dünner: Ja, das macht Hoffnung! Aber: Man liest zwar immer wieder in der Zeitung, die Erdnussallergie sei jetzt heilbar. Fakt ist: Es ist noch nicht klar, ob eine Heilung tatsächlich möglich ist. In Studien zeigte sich bei allenfalls 30 bis 50 Prozent der Allergiker eine anhaltende Toleranz ein bis zwei Monate nach Ende der Behandlung. Die Patienten müssen nach der initialen Therapie das Allergen täglich einnehmen, um einen gewissen Schutz zu haben. Zu beachten ist auch, dass Patienten die Initialdosis vertragen müssen, um es mit der Desensibilisierung versuchen zu können. Das ist zwar für viele, aber längst nicht für alle möglich. Diese Therapieform steckt daher noch in den Kinderschuhen. Sie birgt das Risiko von Anaphylaxien während der Therapie, und sie ist sehr sorgfältig mit dem Allergologen abzuklären (Anm.: Mehr dazu auf Seite 4 ff. in dieser Ausgabe der PÄDIATRIE im Artikel «Nahrungsmittelallergien im Kindesalter» von C. Braun und J.-C. Caubet).
Was bedeutet die schwere Erdnussallergie eines Kindes für den Familienalltag?
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Dünner: Zu Hause kann man das Allergen noch recht gut vermeiden, auch wenn das Einkaufen und das Kochen aufwendiger sind. Wir müssen aber die Grenzen der Allergendeklaration der Nahrungsmittel kennen. In der Schweiz müssen unbeabsichtigte Beimischungen der 14 Hauptallergene im Produktionsprozess von Nahrungsmitteln dann deklariert werden, wenn sie 1 g/kg überschreiten. Dies bedeutet, dass auf 1 kg Frühstücksflocken 1 g Erdnuss nachweisbar ist. Es gibt allerdings auch Firmen, die freiwillig unter diesem Schwellenwert deklarieren, wofür wir sehr dankbar sind. Viele Mitglieder unserer Patientenorganisation reagieren bereits auf Verunreinigungen unter 1 g/kg. Diese Familien klären deshalb jeweils mit den entsprechenden Herstellern direkt, ob im Werk Erdnuss verarbeitet wird. Man muss auch wissen, dass in der EU keinerlei gesetzliche Deklarationspflicht von Verunreinigungen bei der Produktion besteht; aber es gibt einige Firmen, die das freiwillig tun. Eine schwere Nahrungsmittelallergie hat aber auch soziale Folgen: Das Kind wird häufig erst gar nicht zu Spielkameraden oder an einen Kindergeburtstag eingeladen, die Familie nicht an ein Familienfest. Auch auswärts zu essen oder das Reisen ist mit einem Kind mit schwerer Erdnussallergie nicht ganz einfach zu organisieren. Ähnliche Probleme gibt es auch zu Hause, wenn zum Beispiel Geschwister oder ein Elternteil keine Allergie haben und nicht einsehen wollen, warum Erdnüsse im Haushalt ein absolutes No-Go sind. Die meisten Probleme gibt es aber in der Krippe, im Kindergarten und vor allem in der Schule. Wir sind dauernd Bittsteller und gelten als lästige Helikoptereltern.
Aber sind Sie das nicht auch ein bisschen? Dünner: Nein, das sind wir nicht. Bei unseren Kindern geht es um eine potenziell tödliche allergische Reaktion und nicht um Befindlichkeiten. Unser Kind kann sich nicht selbst schützen, es ist auf die Mitwirkung seiner Mitmenschen angewiesen. Hingegen kennen wir doch alle gewisse Eltern, die viel zu viel Aufhebens um ganz harmlose Angelegenheiten ihrer gesunden Kinder machen, und die Familien mit schwer allergischen Kindern landen dann zu Unrecht in der gleichen Schublade. Zum Beispiel weiss ich aus eigener Erfahrung, dass es Eltern gibt, die der Schule oder dem Hort melden, ihr Kind reagiere allergisch, beispielsweise auf Karotten. Die Wahrheit in dem Fall war aber: Das Kind mochte einfach keine Karotten, und damit es diese dort nicht essen muss, behaupteten die Eltern, es habe eine Allergie dagegen. Wir kennen auch Extremfälle, wie denjenigen von Eltern, die eine nussfreie Schule für ihr angeblich schwer allergisches Kind gefordert hatten. Zum Glück fragte die Schule nach dem Arztbericht. So stellte sich heraus, dass die Diagnose von einem Naturheiler durch Auspendeln gestellt worden war. In diesem Spannungsfeld bewegen wir uns. Die Schulen müssen triagieren und sind unheimlich stark gefordert bei der Frage: Ist das Anliegen berechtigt, oder will sich jemand nur wichtig machen und für sein Kind einen überflüssigen Sonderstatus erreichen?
An wen muss man sich wenden, wenn man wegen eines schwer allergischen Kindes eine erdnussfreie Schule erreichen möchte?
Dünner: Zu allererst einmal an einen Allergologen! Wenn dieser feststellt, dass das Kind tatsächlich extrem auf Erdnüsse reagiert, zum Beispiel bereits auf Spuren davon in der Luft oder auf einer Tischoberfläche, ist die Forderung nach einer erdnussfreien Schule berechtigt. Ich empfehle, von Anfang an die Schulleitung zu kontaktieren und mit ihr die notwendigen Massnahmen abzusprechen. Auch dabei können die Allergologen die Familie bei Bedarf unterstützen. Wenn ein Kind auf so kleine Spuren des Allergens reagiert, kann es sich ja gar nicht mehr allein schützen. Die Obhuts- und Aufsichtspflicht der Eltern über das Kind geht während der Zeit des Schulbesuchs auf die Schule über. Das Kind muss nicht ständig die Angst ertragen, dass es eine lebensgefährliche allergische Reaktion erleiden könnte. Diese Angst hat auch schulische, soziale und emotionale Komponenten, und es ist mir sehr wichtig, dass auch diese berücksichtigt werden, wenn es darum geht, wie das Kind beschult wird. Wenn ein Kind Angst hat, kann es nicht lernen. Auch unsere Kinder haben aber ein Recht auf Bildung. Mittlerweile gilt in verschiedenen Kantonen, dass ein Kind regelbeschult wird, wenn es neben einer Nahrungsmittelallergie mit Anaphylaxiepotenzial keine weiteren Einschränkungen hat. Das heisst, dass die Schule die nötigen Sorgfalts- und Vorsichtsmassnahmen treffen muss. Und das kann in der Tat so weit gehen, die anderen Kinder zu bitten, keine Erdnussprodukte mitzubringen und in der Schule zu essen.
«Bei diesem Schweregrad der Allergie können lebensbedrohliche Reaktionen schon durch winzige Mengen des Allergens ausgelöst werden.»
Eine völlige Erdnussfreiheit gibt es übrigens nicht, dessen sind sich alle Beteiligten bewusst. Wenn ein Kind zum Beispiel morgens ein Erdnussbutterbrot gefrühstückt hat, werden sich im Speichel bis zu 4 Stunden später Spuren von Erdnüssen finden. «Erdnussfrei» ist insofern eigentlich ein irreführender Begriff: Es geht vielmehr darum, Risiken in einem vernünftigen und nötigen Mass zu reduzieren. Auch muss man die Sicht der Lehrperson berücksichtigen. Sie weiss, dass das Kind anaphylaktisch reagieren kann. Das ist eine unglaubliche Belastung, weil sie ohne den Status «erdnussfreie Schule» ständig damit rechnen muss, dass andere Kinder Erdnüsse für ihr Znüni mitbringen. Ich finde es grossartig, wie viele Lehrpersonen sich des Themas engagiert annehmen und das Allergenmanagement im Alltag toll umsetzen. Letztlich müssen sie einfach auch in Ruhe unterrichten können, denn sie haben ja nicht nur dieses eine Kind, sondern auch noch 25 andere in der Klasse.
Was empfehlen Sie, wenn die Lehrerinnen und Lehrer nicht mitziehen? Dünner: Meine Empfehlung ist, sofort zur Schulleitung zu gehen. Wenn das nicht reicht, kontaktieren viele Eltern uns als Patientenorganisation. Die disziplinarischen Massnahmen gegenüber uneinsichtigen Lehrpersonen obliegen der Schule. Gefährdung des Lebens wie auch Drohungen durch Mitschüler oder Lehrpersonen sind strafbares Verhalten. Ich habe in dieser Hinsicht
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INFOTIPP
Bilderbücher mit Alexander, dem Elefanten mit Erdnussallergie In den Bilderbüchern im praktischen Taschenformat geht es um den sympathischen Elefanten Alexander, der allergisch ist auf Erdnüsse, und um seine Freunde, die auch verschiedene Allergien haben. Erhältlich unter: www.erdnussallergie.ch
Verein Erdnussallergie Auf der Homepage des Vereins Erdnussallergie und Anaphylaxie «VEaA» finden sich darüber hinaus noch viele Informationen für Betroffene und ihre Familien sowie für Institutionen wie Schulen und Kindergärten: www.erdnussallergie.ch Die Facebook-Seite des Vereins wurde 2017 mit dem Digital Health Heroes Award von MeinAllergiePortal ausgezeichnet: www.facebook.com/ErdnussallergieundAnaphylaxie
aha! Allergiezentrum Schweiz: www.aha.ch
leider auch schon viel Erschreckendes erlebt und kenne einen Fall, in dem die Lehrperson abgemahnt und ihr am Schluss auch gekündigt wurde. In solchen Fällen haben die Lehrpersonen in aller Regel den Schweregrad der Allergie nicht verstanden. Hier gibt es hervorragende Schulungen von aha! Allergiezentrum Schweiz für die Schulen, die ich ursprünglich mit aufbauen durfte. Ich empfehle, dass jede Schule, die neu ein solches Kind unterrichtet, schon vor Schulbeginn diese Schulung durchführen lässt. Dies ist eine echte Entlastung für Schulleitung und Lehrpersonen.
Ist Mobbing ein Problem für die betroffenen Kinder? Dünner: Ja, leider ist es das. Gemäss Zahlen aus Amerika wird etwa ein Drittel der Kinder mit schweren Allergien massiv gemobbt. Es ist immer wieder sehr erstaunlich, welch starke Abwehrreaktionen die Bitte auslösen kann, wegen eines Mitmenschen auf etwas zu verzichten. Immer wieder werden mir Fälle von mitunter sehr starkem Mobbing gemeldet, bis hin zu strafrechtlich relevanten Drohungen oder gar Übergriffen, nicht nur durch Kinder, sondern auch durch Lehrpersonen oder Eltern von Mitschülern. Manche Kinder wurden auf dem Schulareal von anderen Kindern in der Pause gefesselt und mit Erdnüssen beworfen. Wir kennen Fälle, in dem die Lehrperson ein Schokoladespiel mit den Schülern spielte und das Allergikerkind in eine Ecke des Schulzimmers schickte, damit ihm «nichts passiert», oder mit allen Kindern um das Allergikerkind herum Erdnüsse verspeiste. Es ist mir auch ein Fall bekannt, in dem das Kind einen anonymen Brief erhielt, geschrieben von einer erwachsenen Person, was ihm eigentlich einfalle, dass seinetwegen die anderen Kinder keine Nüsse essen könnten, die seien ja so gesund, und wenn es sein Verhalten nicht ändere, werde ihm jemand Erdnussbutter in den Briefkasten stellen. Dieser Fall ist bei der Polizei hängig.
Mobbing passiert leider schon im Kindergarten und kann dazu führen, dass die Kinder diagnostizierbare Angststörungen entwickeln. Aber es ist auch eine Altersfrage, und gerade wenn ich den kleinen Kindern im Kindergarten das Problem altersgerecht erkläre (siehe Infotipp), haben die sehr viel Verständnis und achten mit darauf, dass das Kind nicht in Kontakt mit Nahrungsmitteln kommt, die ihm gefährlich werden könnten. Bei vielen Teenagern und auch bei Erwachsenen ist das hingegen viel schwieriger, und es braucht deutlich detailliertere Informationen. Hier haben wir in der Oberstufe schon den Weg gewählt, im Biologieunterricht das Thema Immunsystem, Allergie und Anaphylaxie zu behandeln und die Schule bei der Erstellung der entsprechenden Unterrichtseinheit unterstützt.
Was wünschen Sie sich von den Ärztinnen und Ärzten? Dünner: Ernst genommen zu werden und möglichst rasch für eine detaillierte allergologische Abklärung zu sorgen. Die Familie muss genau wissen, welche Nahrungsmittel potenziell gefährlich sind und welche nicht, damit sie das allen Beteiligten, wie Grosseltern, Nachbarn, Freunden, der Schule und so weiter, richtig kommunizieren und sich selbst darauf einrichten kann. Sehr empfehlenswert sind die bereits erwähnten Kurse von aha! Allergiezentrum Schweiz. Diese Kurse können übrigens gerne auch Pädiater besuchen, und einige haben das auch bereits getan. Ich erlebe auch immer wieder, dass den Kindern nach einer Anaphylaxie vom Pädiater ein Adrenalin-Pen verordnet wird, aber keine wirklich detaillierte allergologische Abklärung durch einen Spezialisten erfolgt. Das halte ich für falsch. Wir haben in den Kursen immer wieder einmal Kinder, die auf mehr verzichten, als sie eigentlich müssten. Nach einer Kontrollabklärung beim Allergologen konnte man bei ihnen viele Nahrungsmittel freigeben. Auch darf man nicht vergessen: Der Schweregrad von Allergien verändert sich besonders bei Kindern laufend. Es können neue Allergien hinzukommen oder welche verschwinden, bei etwa 20 Prozent der Kinder mit Erdnussallergie wächst sich diese mit der Zeit aus. Es ist also durchaus sinnvoll, immer wieder zu überprüfen, ob die Patienten optimal evaluiert und versorgt sind. Darüber hinaus sollten Kinderärzte wissen, wo betroffene Eltern weitere Hilfen in Anspruch nehmen können. Der Informationsbedarf für betroffene Familien ist nach der Diagnose riesig, die Unsicherheit sehr gross. Diese Unsicherheit der Eltern schlägt sich auf das Kind nieder. Und für die Kinder ist es sehr hilfreich zu wissen, dass sie mit dieser Krankheit nicht allein sind, sondern dass es noch andere Kinder gibt, denen es genauso geht. Kinder wie Eltern schätzen daher jeweils unsere Jahrestreffen im Verein ausserordentlich und freuen sich schon Monate vorher darauf.
Frau Dünner, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Dr. Renate Bonifer.
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