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«Something is wrong»
Schmerzen bei kommunikationsbeeinträchtigten Kindern
Schwerpunkt
Schmerzen bei kommunikationsbeeinträchtigten Kindern sind ein unterschätztes und oft nicht ausreichend behandeltes Problem. In jeder Konsultation sollte explizit danach gefragt werden, im Zweifel – auch in der akuten Situation – gilt es, alle Organsysteme konsequent als Ursache von Schmerzen zu überprüfen.
Von Stephanie Jünemann und Peter Weber
K inder und Jugendliche, die aufgrund einer angeborenen oder erworbenen Erkrankung in der Kommunikation und ihren geistigen Fähigkeiten beeinträchtigt sind, können oft nicht sagen, dass sie Schmerzen oder Unwohlsein verspüren. Nächste Angehörige bemerken eine Veränderung bei akuten Schmerzen, die Lokalisation ist häufig nicht einfach, die Beschreibung des Zustandes lautet dann, etwas stimme nicht, er oder sie habe Schmerzen. Chronische Schmerzen sind bei dieser Patientengruppe ein häufiges, aber oft unerkanntes und nicht ausreichend behandeltes Problem. In der Literatur werden beispielsweise bei 14 bis 74 Prozent der Kinder und Jugendlichen mit einer Zerebralparese von den Angehörigen Schmerzen beschrieben (1). Klassische Probleme der schwer betroffenen Patienten mit einer Zerebralparese sind Druckstellen, Reflux, Hüft(sub)luxationen, Muskelschmerzen bei Spastizität/Dystonie oder Obstipation (1–3). Neben dem akuten Schmerz und dem damit verbundenen Unwohlsein kann der chronische Schmerz zu einer Beeinträchtigung der Aktivität und der Partizipation im Alltag führen und damit auch zu einer verminderten Lebensqualität. Daher muss sowohl bei der notfallmässigen Versorgung in der Praxis oder im Spital als auch bei den regulären Kontrollen nach Schmerzen gefragt werden, und diese sind mit einem standardisierten Instrument so gut wie möglich zu erfassen. Je nach Ausmass der intellektuellen Einschränkung sind eine Selbst- oder Fremdeinschätzung möglich, die im Verlauf eine Möglichkeit der Therapieüberprüfung bieten (2, 4).
Schmerzdiagnostik
Neben den Angaben der Betreuer gibt es verschiedene Schmerzerfassungsinstrumente, die je nach Alter und intellektuellen Fähigkeiten des Patienten einsetzbar sind. Zum einen können vegetative Veränderungen gemessen
(Tachypnoe, Tachykardie, arterielle Hypertonie, Hyperhidrose, Kolorit usw.), ein verändertes Verhalten beobachtet (Weinen, Mimik, Motorik) sowie Angaben des Patienten, zum Beispiel auf einer visuellen Analogskala (Smileys, Zahlen), dokumentiert und als Verlaufsparameter eingesetzt werden. Man muss daran denken, dass nicht alle kommunikationsbeeinträchtigten Kinder mit Schmerz durch die Beobachtung eines typischen Schmerzverhaltens erfasst werden können. Manche Kinder lachen, wenn sie Schmerzen haben, andere fallen in eine Art Starre und wirken in diesem Moment nicht schmerzgeplagt. Bei der Beurteilung sollten daher möglichst immer zusätzlich zu einem standardisierten Instrument die Angehörigen miteinbezogen werden, die ihre Kinder kennen und deren Verhalten in der Regel zu interpretieren wissen.
Weil das typische Schmerzverhalten fehlen kann, ist der Schmerz nicht bei allen kommunikationsbeeinträchtigten Kindern durch Beobachtung feststellbar.
Die Schmerzerfassungsinstrumente teilen sich in zwei Gruppen. Zum einen handelt es sich um Selbstangaben des Patienten, für die ein Verständnis von Abstufungen und eine gewisse Selbsteinschätzung notwendig sind, die mit einer numerischen oder visuellen Analogskala (z.B. mit Gesichtern nach Hicks) verwendet werden können. Zum anderen gibt es eine grosse Anzahl an Schmerzerfassungsinstrumenten, die auf Beobachtung und einem errechneten Score beruhen. Dazu gehören beispielsweise die r-FLACC-Skala (face, leg, activity, cry, consolability), das PPP (pediatric pain profile), die KUSS (Kindliche Unbehagens- und Schmerzskala) und die NCCPC (non-communicating children‘s pain checklist), von der eine revidierte, detailliertere Form (NCCP-r) so-
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wie eine Version speziell für die postoperative Schmerzerfassung (NCCP-PV) verfügbar ist. Die Instrumente unterscheiden sich in der Anzahl der erfassten Kriterien mit den entsprechenden Punktzahlen, der Beobachtungsdauer des Kindes, der notwendigen Vorerfahrung oder Ausbildung speziell zu diesem Instrument sowie in der Beurteilung von verschiedenen Schmerzzuständen (akut, chronisch, postoperativ, Tumorschmerz, Trauma usw.) (2, 4) (siehe auch Linktipp). Wie bereits oben erwähnt, ist es wichtig, in den regulären Konsultationen an die Schmerzfrage zu denken. Nicht immer ist den Angehörigen die Bedeutung und das Vorhandensein von Schmerzen und der damit einhergehenden Lebensqualitätsminderung bewusst. Insbesondere Verhaltensauffälligkeiten (Aggressivität, Rückzugstendenz, Schlafstörungen, motorische Unruhe) sind ein wichtiger Hinweis, um differenzialdiagnostisch an ursächliche Schmerzen zu denken.
Zusätzlich zu standardisierten Schmerzskalen sollten möglichst immer auch die Angehörigen beziehungsweise die Betreuer miteinbezogen werden.
Schmerzbehandlung
Die symptomatische medikamentöse Therapie der Schmerzen unterscheidet sich bei dieser Patientengruppe nicht wesentlich von der bei anderen Kindern und Jugendlichen. Neben der kausalen Therapie (z.B. Hüftoperation) ist eine symptomatische Therapie indiziert, die Wirkstoffe von Paracetamol über NSAR bis zu Opioiden beinhalten kann (1, 2). Aufgrund der zum Teil bereits bestehenden Medikation(en) wegen weiterer Komorbiditäten ist es wichtig, die Interaktionen (z.B. Paracetamol und Lamotrigin) und die Verabreichungsformen zu überprüfen (z.B. Schluckstörungen, Applikation via PEG-Sonde). Neben den klassischen Schmerzmedikamenten kommen auch Therapieoptionen infrage, die beispielsweise eine Spastik lindern, wenn die Spastik Ursache und nicht Ausdruck der Schmerzen ist (Baclofen, Botolinumtoxin, ggf. invasiv mit intrathekaler Baclofenbehandlung). Ein weiteres wichtiges Thema ist bei dieser Patientengruppe auch die Behandlung mit Neuroleptika und schmerzdistanzierenden Medikamenten, da die Verarbeitung der Schmerzen oft nicht adäquat ist, sei es wegen einer überschiessenden Schmerzwahrnehmung oder wegen einer mangelnden Ausdrucksmöglichkeit.
Neben der kausalen und der symptomatischen medikamentösen Therapie ist es wichtig, Kinder und Jugendliche zu identifizieren, die von einem (kindgerechten) verhaltenstherapeutischen Ansatz profitieren könnten, beziehungsweise diejenigen Patienten, bei denen ein Elterncoaching zwecks Verbesserung der Belastbarkeit und der Coping-Strategien im Umgang mit chronischen Schmerzen des Kindes hilfreich sein kann. In diesem Kontext sind auch körperorientierte Massnahmen, wie beispielsweise Massagen, zu evaluieren.
Zusammenfassung
● Weil Schmerzen bei kommunikationsbeeinträchtigten Kindern oft nicht ausreichend beachtet werden, sollte in jeder Konsultation gezielt danach gefragt werden und gegebenenfalls sollten alle Organsysteme konsequent als Ursache von Schmerzen überprüft werden, auch in der akuten Situation.
● Neben der akuten medikamentösen Therapie sollte, insbesondere bei chronischen Schmerzen, der Ausbau der Therapie, beispielsweise mit Neuroleptika und schmerzdistanzierenden Medikamenten, aber auch mit nicht medikamentösen Therapieansätzen evaluiert werden.
● Die Überprüfung der Therapie erfolgt mit standardisierten Messinstrumenten, welche nach Alter und intellektuellen Fähigkeiten eingesetzt werden können, sowie gemäss den Angaben der Betreuer, welche meist rasch eine Rückmeldung über Erfolg oder Misserfolg der Massnahmen geben können.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Stephanie Jünemann Oberärztin Neuropädiatrie Universitäts-Kinderspital beider Basel Spitalstrasse 33 4056 Basel E-Mail: stephanie.juenemann@ukbb.ch
Interessenlage: Die Autoren erklären, dass keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel bestehen.
Literatur: 1. Penner M et al.: Characteristics of pain in children and youth with cerebral palsy. Pediatrics 2013; 132; e407. 2. Massaro M et al.: Pain in cognitively impaired children: a focus for general pediatricians. Eur J Pediatr 2013; 172: 9–14. 3. Stallard P et al.: Pain in cognitively impaired, non-communication children. Arch Dis Child 2001; 85: 460–462. 4. Cascella M et al.: The challenge of pain assessment in children with cognitive disabilities: Features and clinical applicability of different observational tools. JPCH 2018; doi: 10.1111/jpc.14230
Linktipp
Verschiedene Schmerzerfassungsskalen in deutscher Sprache: https://link.springer.com/content/pdf/bbm%3A978-3-540-74065-0%2F1.pdf
Daneben bietet die aktuelle Arbeit von Cascella et al. über die wesentlichen zur Verfügung stehenden Schmerzerfassungsinstrumente, Schmerzsituationen sowie deren Vor- und Nachteile eine sehr gute Übersicht (4).
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