Transkript
Schwerpunkt
«Du hast nichts…»
Psychotherapie bei chronischen Schmerzen im Kindes- und Jugendalter
Schmerzpatienten werden zum Psychotherapeuten geschickt, weil andere therapeutische Ansätze nicht greifen und keine organischen Ursachen für den Schmerz gefunden wurden, sie haben sozusagen «nichts». Erste Aufgabe der Psychotherapie ist darum das Benennen und Herstellen von Zusammenhängen. Dass biologische, psychologische und soziale Faktoren gleichermassen zur Aufrechterhaltung chronischer Schmerzen beitragen, ist den Patienten meist nicht bewusst.
Von Ursula Fuchs-Egli
Schmerz ist, was der Patient sagt.
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W ir können ihrem Kind nicht weiterhelfen» oder «Weil wir nicht weiterkommen, müssen wir dich zum Psychotherapeuten schicken» – solche oder ähnliche Sätze haben Eltern und betroffene Kinder und Jugendliche mit chronischen Schmerzen oft gehört, bevor sie zur Psychotherapie überwiesen werden. Somatische Abklärungen haben keinen «ausreichenden» Grund für die persistierende Schmerzproblematik gezeigt, Behandlungen nicht das gewünschte Ziel der Schmerzfreiheit erreicht. Auch wenn die Botschaft nicht so formuliert wird, ist es doch das, was in den Köpfen von Eltern und Kindern sitzt: «Du hast nichts ...» Unter Fachleuten ist unterdessen unbestritten, dass die Behandlung chronischer Schmerzen einen multimodalen Ansatz benötigt, beruhend auf einem bio-psycho-sozialen Modell, das umfasst, dass biologische, psychologische und soziale Faktoren gleichermassen zur Aufrechterhaltung chronischer Schmerzen beitragen. Unseren Patienten ist dieses Denken zumeist fern. Wenn der Schmerz als «psychogen» bezeichnet wird beziehungsweise die Überweisung zur Psychotherapie dies impliziert, fühlen sie sich unverstanden, stigmatisiert und «nicht abgeholt». Üblicherweise suchen Menschen eine Psychotherapie auf, weil sie in irgendeinem Lebensbereich Schwierigkeiten haben und sich Hilfe bei der Bewältigung erhoffen. Ein grundlegender Unterschied zwischen «normaler» Psychotherapie und Psychotherapie bei Schmerzpatienten besteht darin, dass Letztere zumeist nicht mit einem mehr oder weniger konkret formulierten Anliegen und Problem kommen. Schmerzpatienten haben ja eben «nichts» und werden zum Psychotherapeuten geschickt, weil andere therapeutische Ansätze nicht greifen. Über «nichts» lässt sich aber schlecht sprechen, es lässt sich nicht fassen und es lässt Betroffene kaum darüber nachdenken, was das «Nichts» in ihrem Leben zu suchen hat,
was es mit ihnen macht und wie sie damit umgehen können. Erste – und immer wiederkehrende – Aufgabe in der Psychotherapie bei chronischen Schmerzen ist das Benennen und Herstellen von Zusammenhängen. Eine hilfreiche Haltung als Psychotherapeut gegenüber Schmerzpatienten kann so umschrieben werden: «Ich als Therapeut kenne Erklärungen für chronischen Schmerz, ich kenne Strategien im Umgang damit und kann dich begleiten. Was dein Schmerz mit dir macht, was du mit deinem Schmerz machst, können wir nur gemeinsam herausfinden.» Um über das «Nichts» sprechen zu können, muss dies benannt werden, und es braucht eine diagnostische Bezeichnung. Wir sprechen von «Schmerzkrankheit» oder «Schmerzstörung». Als diagnostische Kategorie steht dafür im ICD-10 F45.41, «chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren», zur Verfügung.
Bausteine der Psychotherapie bei chronischen Schmerzen
Die wesentlichen Bausteine einer Psychotherapie mit einem Kind oder Jugendlichen mit chronischen Schmerzen sind folgende: ● Schmerzedukation für den Patienten und die Eltern ● Strategien im Umgang mit Schmerz, imaginative Ver-
fahren, Hypnose ● Aktivität und Bewegung ● Eltern beraten und einbinden ● Vernetzung mit anderen Therapeuten, Schule.
Schmerzedukation
Bei der Schmerzedukation geht es darum zu erklären, wie chronischer Schmerz entsteht und welche komplexen Zusammenhänge bestehen. Für den Patienten und die Eltern ist es unabdingbar, zu verstehen wie chroni-
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scher Schmerz entsteht, aufrechterhalten wird und behandelt werden kann, welche biologischen Mechanismen dabei immer ablaufen, welche komplexen Zusammenhänge zwischen somatischem, psychischem und sozialem Geschehen bestehen. Zu verstehen was abläuft, hilft den Patienten und dem Umfeld, Symptome einzuordnen und benennen zu können. Schmerzedukation bildet einen wesentlichen Bestandteil, der nicht nur zu Beginn, sondern auch im Verlauf einer Therapie in immer wieder neuer, der aktuellen Situation angepasster Form notwendig ist. Zu verstehen, dass wir Menschen komplexe Organismen sind und die Trennung in «somatisch» und «psychisch» nicht der erlebten Realität entspricht, ist ein fortdauernder Prozess. Um dieses Wissen zu vermitteln und es situativ immer wieder neu dem Wissensstand, der Auffassungsfähigkeit und dem aktuellen Erleben des Patienten entsprechend in die Therapie einfliessen lassen zu können, ist es zwingend notwendig, dass der Therapeut selber sich fundiert mit den zugrunde liegenden neurobiologischen Abläufen vertraut macht und den aktuellen Forschungs- und Wissenstand kennt.
1: «Wenn wir in deinen Kopf schauen könnten, würden wir, vereinfacht gesagt, sehen, wie Reize, die aus dem ganzen Körper über Nervenbahnen (Telefonleitungen) bis ins Gehirn geleitet werden, dort ankommen und ein Signal auslösen.»
2: «Wenn ALLE Reize, die aus dem Körper kommen, bis in die Hirnrinde und damit ins Bewusstsein kommen würden, wäre unser Hirn völlig überlastet.»
3: «Darum wurde sinnvollerweise eine Schleuse eingebaut, die verhindert, dass alles durchkommt.»
Das Schleusenmodell: Was Schmerz und Emotionen miteinander zu tun haben
Eine Möglichkeit, zu erklären wie Schmerz und Emotionen zusammenhängen, ist das Schleusenmodell. Erfahrungsgemäss können es sowohl Kinder als auch Erwachsene leicht nachvollziehen. Kurz gesagt kann dieses Modell mit den in der Abbildung 1 beispielhaft formulierten Erklärungen vermittelt werden.
4: «Diese Schleuse kann unterschiedlich stark offen sein; manchmal und für gewisse Reize ist sie nur leicht geöffnet, manchmal und für andere Reize ist sie ganz offen, und die Reize erreichen unser Bewusstsein.»
5: «Die grosse Frage ist nun, wie und wodurch die Schleuse gesteuert wird. Was führt dazu, dass sie offen ist? Was führt dazu, dass sie weniger offen oder geschlossen ist?»
Strategien im Umgang mit Schmerz
Eine wichtige Strategie im Umgang mit chronischem Schmerz ist die Ablenkung. Die Erklärung ist leicht nachvollziehbar, dass mittels Ablenkung der Aufmerksamkeitsfokus vom Schmerz weg verschoben wird, das Gehirn mit etwas anderem beschäftigt ist und somit weniger Kapazität hat, sich mit dem Schmerz zu beschäftigen. Häufig haben Kinder und Jugendliche bereits selbst die Erfahrung gemacht, dass sie den Schmerz weniger wahrnehmen, wenn sie zum Beispiel mit Freunden spielen oder in den Ausgang gehen. In vielen Köpfen ist jedoch tief verankert, dass ein Schmerz, von dem man sich ablenken kann, nicht «wirklich» existiert. Oder das Umfeld hat bereits so reagiert: «Wenn du mit deinen Freunden in den Ausgang gehen kannst, kann es ja nicht so schlimm sein …» Erfolgreiche Ablenkung wird folglich als Bestätigung dafür erlebt, dass ja «nichts» ist. Ein verheerender Schluss – wissen wir doch unterdessen, dass die Realität eine andere ist: Es ist der chronische Schmerz, der vom Leben ablenkt. Umgekehrt führt aktive Ablenkung vom Schmerz dazu, dass er nicht mehr so viel Raum einnimmt und nicht das einzig Bestimmende ist. In der Therapie kann mit dem Kind oder Jugendlichen ganz konkret eine Liste von Tätigkeiten zusammengestellt werden, die es gern hat und die wissentlich vom Schmerz ablenken. Ein Beispiel, das auch von den Eltern spielerisch zusammen mit den Kindern angewendet werden kann, ist das Ablenkungs-ABC: Zu einem frei gewählten Thema wird zu jedem Buchstaben des Alpha-
6: «Es ist ganz einfach: Alles, was dich beschäftigt, alle Sorgen, Ängste und schwierigen Situationen sind in dieser schwarzen Kiste. Je mehr davon vorhanden ist und je schwerer die Kiste damit ist, umso offener ist die Schleuse und umso mehr nimmt unser Gehirn Reize aus dem Körper als ‹Schmerz› wahr.»
7: «Unsere Aufgabe in der Therapie ist es, zusammen zu schauen, was in DEINER Kiste ist und wie sich dies reduzieren lässt, damit deine Schleuse wieder mehr geschlossen sein kann.»
Abbildung 1: Das Schleusenmodell der Schmerzverarbeitung und -wahrnehmung (© Ursula Fuchs-Egli 2018)
bets ein Begriff gesucht («Kennst du ein … mit A, B, C, …., X, Y, Z?»), wobei die Begriffe zum Beispiel Tiere, Automarken, Musikgruppen und so weiter sein können. Weitere hilfreiche Strategien sind Achtsamkeitsübungen. Dabei kann die Fokussierung etwa auf einem schmerzfreien, angenehm erlebten Körperteil liegen, oder es kann darauf hingearbeitet werden, dass der Schmerz in Qualität und Stärke verändert werden kann. Oder der Fokus liegt darauf, nicht primär den Schmerz loszuwerden, sondern zu erleben, dass es möglich ist,
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mit dem Schmerz existieren zu können – eine Realität, die ohnehin zur Schmerztherapie gehört: Schmerz ist aus dem Leben nicht eliminierbar. Imaginative Verfahren und Hypnose sind weitere therapeutische Verfahren, die in diesem Zusammenhang erfolgreich eingesetzt werden können.
Aktivität und Bewegung
Aktivität und Bewegung gehören zu je-
der Behandlung chronischer Schmer-
zen. In den meisten Fällen haben die
Kinder und Jugendlichen eine Phase der
Abbildung 2: «Never treat alone» – gemeinsam zum Ziel
körperlichen Schonung erlebt. Die Teilnahme am Schulsport ist eine einfache
Möglichkeit, ein Minimum an regelmäs-
siger Bewegung zu erreichen. Aus diesem Grund stellen
wir in unserer Schmerzsprechstunde kaum je eine Schul-
sportdispens aus. Auch in der Freizeit soll regelmässige
Bewegung angestrebt werden, sei dies in gemeinsamen
Aktivitäten mit Freunden oder in einem Sportclub.
Oft ist es sinnvoll, mittels Physiotherapie eine Anleitung
zur Bewegung und Aktivierung einzusetzen. Schonhal-
tungen und unphysiologische Bewegungsmuster kön-
nen häufig nur mit Hilfestellung von aussen durchbro-
chen werden. Zentral ist bei der Aktivierung, ein
angemessenes Ausmass an Belastung anzustreben. Viele
Schmerzpatienten nehmen die eigenen Grenzen
schlecht wahr, überschreiten diese permanent oder ge-
trauen sich umgekehrt nicht, an ihre Grenzen zu gehen
und diese immer wieder neu auszuprobieren. Junge Pa-
tienten, die entweder gar keinen Sport oder im Gegen-
teil Hochleistungssport betreiben, gehören erfahrungs-
gemäss zu den Risikogruppen für die Entwicklung
chronischer Schmerzstörungen.
https://www.rosenfluh.ch/qr/schmerzmechanismen Der abgebildete QR-Code führt Sie direkt auf die Seite.
Korrespondenzadresse: Ursula Fuchs-Egli FMH Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie Grenzacherstrasse 9 4058 Basel E-Mail: praxis.urfuchs@gmx.ch
Die Autorin ist in eigener Praxis tätig sowie an der interdisziplinären Kinderschmerzsprechstunde am Universitätskinderspital beider Basel UKBB.
Interessenlage: Die Autorin erklärt, dass im Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenkonflikte bestehen.
Eltern beraten und einbinden
Die Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit chronischem Schmerz erfordert den Einbezug der Eltern. Wie die Patienten selbst benötigen sie ausführliche und wiederholte Schmerzedukation, um verstehen zu können, was abläuft. Damit kann den Eltern eine «Bedienungsanleitung für ihr Kind mit Schmerz» gegeben werden. Hilfreiche Materialien dafür sind der Animationsfilm «Den Schmerz verstehen – und was zu tun ist in 10 Minuten» (auf Schweizerdeutsch und in diversen anderen Sprachen verfügbar; siehe QR-Code und Linktipp) oder für lesefreudige Eltern das Buch von Dobe und Zernikow «Rote Karte für den Schmerz» mit konkreten Verhaltenstipps für Eltern, Angehörige und Schule. Ebenso ist im Blick zu behalten, was die Schmerzstörung des Kindes im ganzen Familiensystem auslöst. Wie ist der Umgang damit? Was verändert sich in der ganzen Familie? Gibt es einen unterschiedlichen Umgang damit, zum Beispiel zwischen den Eltern, was zu zusätzlichen (oder auch vorher weniger sichtbaren) Konflikten führen kann? Was passiert mit den Geschwistern? In unserem Patientenkollektiv leiden im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung überproportional viele Eltern selbst an chronischen Schmerzen. Im Rahmen einer Therapie ist es essenziell, dies zu explorieren und offen anzusprechen. Kinder lernen am Modell – auch den Umgang mit
Schmerz. Verhaltensmuster der Eltern, zum Beispiel bezüglich Selbstwahrnehmung, Stressregulation, Selbstfürsorge und Beziehungsgestaltung, werden von den Kindern unhinterfragt übernommen. Zudem besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass bei den Eltern eigene, buchstäblich schmerzhafte Erfahrungen durch die Erkrankung des Kindes getriggert und wieder aktiviert werden. Wenn solche Konstellationen nicht angesprochen werden, können diese den Heilungsprozess des Kindes verhindern oder zumindest erschweren.
Vernetzung
Bei der Behandlung chronischer Schmerzstörungen gilt der Grundsatz «never treat alone» (Abbildung 2). Eine chronische Schmerzstörung ist ein komplexes Geschehen. Sie kann nur in der konstruktiven Zusammenarbeit verschiedener Fachleute und mit dem Umfeld des Kindes erfolgreich behandelt werden. Die Zusammenarbeit von Kinder- beziehungsweise Hausarzt, Schmerztherapeuten, Psychotherapeuten, Physio- und Ergotherapie ist zentral. Ebenso ist die Schule miteinzubeziehen, wo das Kind ja einen wesentlichen Teil seiner Zeit verbringt. In einem solchen Netz haben Kind und Eltern unterschiedliche Ansprechpartner für unterschiedliche Anliegen. Über die Zeit verschieben sich in der Regel die Wichtigkeiten der verschiedenen Ansprechpartner. So kann zum Beispiel ein Kind in der Physiotherapie eine vertrauensvolle Beziehung aufgebaut haben, die es ihm ermöglicht, schwierige Lebenssituationen anzusprechen, bevor eine Psychotherapie überhaupt installiert worden ist. Mit der Vernetzung der Fachleute ist es möglich, jeweils abzuwägen, in welcher Konstellation es dem Kind möglich ist, erfolgreiche Bewältigungsschritte und Beziehungserfahrungen zu machen. So kann es sein, dass die Psychotherapeutin in einer Übergangsphase die Physiotherapeutin im Umgang mit den deponierten Problemen coacht und so das Kind auf ein psychotherapeutisches Herangehen vorbereitet wird. Mit diesem Vorgehen haben wir in vielen Fällen gute Erfahrungen gemacht. Der Kommunikation zwischen allen Involvierten kommt ein hoher Stellenwert zu. Gute Vernetzung beruht auf guter Kommunikation. Transparente Informationen (selbstverständlich immer in Absprache mit Eltern und Kind unter Wahrung der Schweigepflicht), ein gemeinsames Verständnis der Schwierigkeiten und eine multidisziplinäre Kommunikation auf Augenhöhe stellen für alle Beteiligten eine grosse Herausforderung dar. All dies ist aber in den komplexen Situationen chronischer Schmerzstörungen unverzichtbar für eine erfolgreiche Behandlung. Die Sprache ist in der Psychotherapie ein zentrales Instrument. So kann dem Psychotherapeuten innerhalb des Netzes von Fachleuten die Rolle zukommen, «Hüter» der Kommunikation und der Vernetzung zu sein, auch wenn die Fallführung oder das Case Management nicht in seinen Händen liegt. Erfolgreiche Schmerztherapie braucht folglich: ● ein fundiertes Verständnis der biologischen Abläufe
der Entstehung und Aufrechterhaltung chronischer Schmerzen ● die Grundhaltung: Schmerz ist das, was der Patient sagt ● interdisziplinäre, vernetzte Teamarbeit.
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