Transkript
Schwerpunkt
«Der Schmerz ist immer echt»
Chronische Schmerzen aus kinderpsychiatrischer Sicht
Wir sprachen mit dem Kinder- und Jugendpsychiater Dr. med. Christian Wüthrich über die Zusammenhänge zwischen Psyche und Schmerz bei chronischen Schmerzen im Kindesalter. Welche Risikofaktoren kennt man, und was kann vor der Entwicklung einer chronischen Schmerzerkrankung schützen?
H err Dr. Wüthrich: Wie häufig sind chronische Schmerzen bei Kindern? Dr. med. Christian Wüthrich: Je nach Studie haben 15 bis 25 Prozent der Kinder chronische Schmerzen, das heisst mindestens einmal pro Woche. Das können Kopf- oder Bauchschmerzen sein oder Schmerzen des Bewegungsapparats, um die häufigsten zu nennen. Diese Schmerzen sind aber bei Weitem nicht bei allen betroffenen Kindern so ausgeprägt, dass sie deren Leben deutlich beeinträchtigen. Nur etwa 5 Prozent aller Kinder leiden tatsächlich derart unter ihren Schmerzen, dass sie dadurch beeinträchtigt werden, beispielsweise beim Schulbesuch, bei einem Hobby oder Ausflug oder bei der Bewegung. Zirka 3 Prozent sind von ihren Schmerzen schwer beeinträchtigt. Natürlich hängen diese Angaben immer davon ab, wie man die Beeinträchtigungen definiert, aber man kann auf jeden Fall sagen, dass ein grosser Anteil der Kinder, die chronische Schmerzen haben, davon nicht beeinträchtigt wird, während ein kleiner Teil der betroffenen Kinder massiv eingeschränkt wird. Wichtig ist anzufügen, dass chronische Schmerzen und ihre Auswirkungen auf die Gesundheit und den Alltag klar zunehmen.
Wird das Problem bei den Kindern mit massiven Einschränkungen mit dem Älterwerden eher kleiner oder grösser? Wüthrich: Man weiss, dass Kinder mit chronischen Schmerzen auch ein hohes Risiko für Schmerzen im Erwachsenenalter haben. Bei Kindern mit einschränkenden chronischen Schmerzen besteht überdies ein hohes Risiko, auch eine psychische Störung zu entwickeln, vor allem Depressionen, Angststörungen und Rückzugsverhalten, also Störungen im Sozialbereich und Schulprobleme.
Führt der Schmerz zur psychischen Störung oder eher umgekehrt? Wüthrich: Man kann nicht generell sagen, was zuerst vorhanden ist. Man kann aber sagen, dass Kinder, die ein vorher bestehendes psychisches Problem haben, wie
zum Beispiel eine Angststörung, ein tendenziell höheres
Risiko für die Entwicklung eines chronischen Schmerz-
problems haben. Zum Beispiel wird das Kind mit einem
guten Selbstwertgefühl den Schmerz anders interpretie-
ren als das Kind mit einer Angstproblematik, und dessen
spezielle Wahrnehmung und Interpretation von Schmer-
zen steht häufig am Anfang chronischer Schmerzen.
Aber es entwickelt sich natürlich auch anders herum:
Chronische Schmerzen, das wissen wir alle, führen häu-
fig auch im sozialen und persönlichen Bereich zu massi-
ven Problemen, wie beispielsweise Depressionen. Das
geht Kindern mit chronischen Schmerzen nicht anders als Erwachsenen.
Dr. med. Christian Wüthrich ist Leiter der Kinder- und Jugendpsych-
Gibt es noch weitere Risikofaktoren? Wüthrich: Ja, dazu gehören die allgemein bekannten,
iatrie an der Universitätskinderklinik Bern
wie zum Beispiel schwierige Familienverhältnisse, Tren-
nung der Eltern, ein Todesfall in der Familie, Schul-
schwierigkeiten, Mobbing, sozialer Stress und so weiter.
All das kann die Chronifizierung von Schmerzen triggern.
Ausserdem ist bekannt, dass Kinder von
Eltern, die selbst unter chronischen Schmerzen leiden oder gelitten haben, deutlich stärker gefährdet sind. Diese Eltern reagieren besonders sensibel auf Schmerzen, und sie sind schon bei jedem kleineren Schmerzproblem gleich extrem
«Chronische Schmerzen und ihre Auswirkungen auf die Gesundheit und den Alltag nehmen klar zu.»
auf den Schmerz fokussiert. Sie fragen
zum Beispiel das Kind ständig, ob es noch Bauchweh hat
oder wie es ihm geht – und damit unterstützen sie den
Teufelskreis aus übersteigerter Schmerzwahrnehmung,
Angst und der daraus wiederum noch weiter gesteiger-
ten Aufmerksamkeit für den Schmerz.
Therapeutisch bedeutet das, dass man Eltern von Kin-
dern mit chronischen Schmerzen generell raten sollte,
ihr Kind nicht mehr ständig nach den Schmerzen zu fra-
gen. Das fällt vielen Eltern natürlich schwer, denn in den
Köpfen ist fest verankert, dass jeglicher Schmerz immer
auch eine möglicherweise schwerwiegende organische
Ursache haben muss. Die meisten Eltern haben Panik.
Deshalb ist es die grosse Herausforderung im Gespräch
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Schmerzempfinden extrem verändern kann. Ich weiss von einer Marathonläuferin, die mit einer Ermüdungsfraktur noch ihr Rennen zu Ende gelaufen ist! Es geht bei der Therapie chronischer Schmerzen darum, die Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken – wie im Theater, wo der Hauptdarsteller im Licht steht und die anderen im Schatten. Man muss sozusagen den Lichtkegel verschieben, weg vom Schmerz auf etwas anderes, wie zum Beispiel: Jetzt gehe ich laufen, ich denke an etwas Schönes, ich lenke mich ab mit einem Buch oder mit Musik, oder ich zeichne etwas.
Abbildung: Diese Zeichnung einer jungen Patientin in der interdisziplinären Schmerzsprechstunde am Universitäts-Kinderspital Basel illustriert eindrücklich die grosse Rolle des Schmerzes im «Theater des Lebens» (als Monster rechts im Bild) und wie wichtig es ist, ihm die Rolle des Hauptdarstellers zu nehmen (Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Schmerzpatientin und Prof. W. Ruppen, Universitätsspital Basel).
mit den Eltern, ihnen zu erklären, dass nichts Organisches hinter chronischen funktionellen Schmerzen stecken muss, auch wenn diese deutlich zu spüren sind.
Wie wichtig ist eine neuronale Hypersensibilität als organischer Risikofaktor? Wüthrich: Sie spielt bei den Bauchschmerzen eine wichtige Rolle. Möglicherweise auch bei Gelenkschmerzen, aber dort nicht so eindeutig wie bei den Bauchschmerzen. Es gibt einfach Kinder, die einen überempfindlichen Darm haben. Das ist angeboren, und das müssen sie lernen zu akzeptieren. Aber auch hier spielt der Umgang mit dem Schmerz eine zentrale Rolle, wie auch allfällige Belastungen im sozialen Umfeld, die einen vernünftigen Umgang mit solchen Schmerzen erschweren.
«Die Eltern müssen darauf achten, dass ihre Kinder keinen Krankheitsgewinn durch ihre Schmerzen haben.»
Welche Resilienzfaktoren können Kinder vor dem Teufelskreis aus Angst und Schmerz schützen? Wüthrich: Von Resilienzfaktoren spricht man in diesem Zusammenhang nicht, aber in der Tat spielt nicht nur das Umfeld, sondern ganz wesentlich auch die Persönlichkeit des Kindes eine Rolle. Ein Kind mit einem guten Selbstwertgefühl, das Selbstwirksamkeit erfahren hat und in einem gesunden Umfeld aufwächst, in dem ihm auch Belastungen zugetraut werden, wird – anders als ein ängstliches Kind – wahrscheinlich eher nicht zu einer chronischen Schmerzstörung neigen. Anders hingegen ein ängstliches Kind, das eher die Tendenz zu einer chronischen Schmerzerkrankung hat. In der Therapie versucht man, die Aufmerksamkeit des Kindes auf den Schmerz zu verändern. Dabei hilft beispielsweise sehr eindrücklich der Sport, der das
Woran könnte ein Kinderarzt in der Praxis frühe Anzeichen für eine drohende chronische Schmerzerkrankung bemerken, und was könnte er tun, damit es gar nicht erst so weit kommt? Wüthrich: Kurz gesagt sollte er daran denken, wenn ein Kind mehrfach mit Schmerzen kommt, für die sich keine organische Ursache findet. Dann muss man unbedingt versuchen, der Familie das bio-psycho-soziale Schmerzverständnis zu erklären, und allen Beteiligten klarmachen, dass Gefühle ganz konkrete körperliche Symptome auslösen können. Meistens spielen dabei Wut oder Angst eine Rolle, was sich auch in der alltäglichen Umgangssprache wiederfindet, mit Ausdrücken wie «es liegt mir etwas auf dem Magen» oder «mir kommt die Galle hoch». Auch Kindern kann man das gut erklären, zum Beispiel so: «Vielleicht bekommst du auch Herzklopfen, wenn Weihnachten vor der Tür steht und du gar nicht mehr schlafen kannst, weil du so gespannt auf die Geschenke bist? Und ebenso kann dein Körper reagieren, wenn irgendetwas anderes los ist, auch auf Dinge, die dich wütend machen oder dir Angst einjagen. Gibt es denn bei dir Dinge, die dich gerade belasten?» Falls an diesem Punkt die Eltern oder das Kind auf etwas Belastendes hinweisen, kann man versuchen, diese Belastung zu reduzieren. Falls die Eltern aber meinen, es gebe keine derartigen Belastungen und es müsse doch sicher eine organische Erkrankung hinter den Schmerzen stecken, könnte man mit den Eltern besprechen, wie viele somatische Abklärungen ohne Befund sie noch brauchen, bis sie sich auf ein anderes Krankheitsverständnis einlassen könnten und gegebenenfalls damit einverstanden sind, das Kind zu einem Schmerzspezialisten zu überweisen. So eine Überweisung kann man auch ganz kindgerecht begründen und zum Beispiel sagen: «Wir wollen damit keine Operation und keine Medikamente finden, die den Schmerz wegnehmen, sondern jetzt geht es darum, wie du mit dem Schmerz besser umgehen kannst. Dafür gibt es nämlich Spezialisten!»
Und was darf sich das Kind von den Schmerzspezialisten erhoffen? Wüthrich: Man muss dem Kind schon ganz klar sagen, dass man den Schmerz nicht einfach so wegzaubern kann und dass die Hoffnung, völlig schmerzfrei zu sein, wahrscheinlich erst einmal nicht erfüllt sein wird. Aber das Kind darf sich schon erhoffen, mit dem Schmerztherapeuten herauszufinden, wie es ein möglichst normales Leben führen kann, trotz Schmerzen. Da geht es in erster Linie ums Ausprobieren. Manchmal entwickeln die Kinder ganz erstaunliche Strategien. Ich hatte zum Beispiel
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einmal eine Patientin mit chronischen Kopfschmerzen, die sagte: «Am meisten hilft es mir, wenn ich ganz laute Musik höre.» Um herauszufinden, was hilft, führen wir ein Schmerztagebuch und schauen, in welchen Situationen der Schmerz auftritt und wie das Kind den Schmerz bewertet, zum Beispiel auf einer Skala von 1 bis 10 oder mithilfe von Smileys. Das Schmerztagebuch dient dazu, Auslöser zu finden. Es sollte nur etwa zwei Wochen lang geführt werden, damit man sich nicht auf den Schmerz fokussiert. Ein Problem bei den chronischen Schmerzen ist auch, dass die Kinder in Inaktivität versinken und gar nichts mehr unternehmen. Da müssen wir die Eltern ins Boot holen, damit sie ihre Kinder aktivieren und in Bewegung bringen und eben nicht mehr nach den Schmerzen fragen. Die Eltern müssen darauf achten, dass ihre Kinder keinen Krankheitsgewinn durch ihre Schmerzen haben. Und wenn das Kind keinen Krankheitsgewinn mehr hat, wird es die Strategie des Krankseins bald aufgeben.
Wann braucht es den Kinderpsychologen oder den Kinderpsychiater? Wüthrich: Es muss eine gewisse Sensibilisierung und Bereitschaft vonseiten der Familie und des Kindes vorhanden sein sowie ein Leidensdruck, um psychologische Hilfe anzunehmen. Spätestens wenn ein Kind in seinen Lebensentwürfen eingeschränkt ist, zum Beispiel ein Hobby nicht mehr ausüben kann, nicht mehr regelmässig in die Schule geht, sich sozial zurückzieht oder in eine Depression zu rutschen droht, ist es Zeit, sich professionelle Hilfe zu holen. In der Regel sind dann auch die Eltern dazu motiviert. Ungünstig ist es hingegen, einfach immer wieder ein Attest zu schreiben, damit das Kind nicht mehr in die Schule gehen muss. Ich rate dazu, das Kind in solchen Fällen nur für zwei Wochen krankzuschreiben. Wenn die Familie dann wiederkommt, würde ich, wie bereits gesagt, das bio-psycho-soziale Modell der Schmerzentstehung erklären und ein weiteres Krankheitszeugnis nur dann ausstellen, wenn in eine psychologische Mitbetreuung eingewilligt wird, denn dann geht es um die Frage: «Wie kann ich trotz Schmerzen in die Schule gehen?» Wenn das Kind eine chronische Schmerzstörung und keine andere schwere Krankheit hat, kann man auch mit dem Lehrer sprechen und ihn bitten, dass er das Kind nicht mehr einfach so nach Hause gehen lässt. Es ist ein Therapiebaustein, dass das Kind durch seine chronischen Schmerzen nicht immer wieder heimgeschickt wird und so einen Krankheitsgewinn hat.
Wie lange dauert eine Psychotherapie wegen chronischer Schmerzen bei Kindern? Wüthrich: Da kommt es sehr darauf an, welchen Hintergrund die Schmerzen haben. Wenn das Kind versteht, wie das mit dem Schmerz funktioniert, was man selbst tun kann, um den Schmerz zu lindern, und nicht die Schmerzfreiheit als Therapieziel definiert, kann sie relativ kurz dauern. Vor allem natürlich, wenn man die Belastungsfaktoren ausräumen kann. Wir konnten schon oft beobachten, dass chronische Schmerzen durch einen Klassenwechsel in der Schule einfach verschwanden. Je länger der chronische Schmerz bereits besteht, desto schwerer ist es, dem wieder Herr zu werden. Darum ist es gut, wenn die Pädiater dranbleiben, gerade in Phasen, in denen sie bemerken, dass sich der Schmerz zu verselbstständigen beginnt. Und dann gibt es eben auch Kinder, die aufgrund ihrer chronischen Schmerzen einen so hohen Krankheitsgewinn haben, dass sie null Interesse daran haben, etwas zu verändern. Ich kenne Kinder, die in einem Jahr nur drei Monate in die Schule gegangen sind. Da frage ich mich schon, wer die Krankheitszeugnisse dafür ausstellt.
«Man sollte nicht einfach immer wieder ein Attest schreiben, denn es geht darum wie das Kind trotz der Schmerzen in die Schule gehen kann.»
Was ist Ihre wichtigste Botschaft für die Pädiater in der Praxis? Wüthrich: Die wichtigste Botschaft lautet: Der Schmerz ist immer echt, auch wenn man somatisch nichts findet! Der Schmerz muss ernst genommen werden und darf nicht bagatellisiert werden. Auch wenn er in Anführungszeichen «nur psychisch» bedingt ist, hat er genau dieselben Auswirkungen wie der Schmerz aufgrund einer organischen Erkrankung. Ärzte – Pädiater vielleicht weniger als Internisten – haben die Tendenz zu sagen: «Ich habe nichts Organisches gefunden, dann ist ja alles gut, dann ist da nichts.» Aber: Der Schmerz ist ein ausdrückliches Symptom für etwas, er steht für etwas! Sei es Stress in der Schule, unglückliches Verliebtsein, die Trennung der Eltern, ein Todesfall in der Familie, Mobbing, sexueller Missbrauch, alles Mögliche kann dahinterstecken. Das Kind kann das aber nicht in Worte fassen. Und wenn das Gefühl nicht in Sprache gefasst werden kann, taucht es einfach ab in den Körper und treibt dort sein Unwesen.
Das Interview führte Dr. Renate Bonifer.
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