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Update Infektiologie
Von Antibiotikaresistenzen bis Zytomegalievirus
Schwerpunkt
Seit Langem wird, beispielsweise bei Infekten der oberen Atemwege, zu einem restriktiveren Antibiotikaeinsatz geraten, um die Entwicklung von Resistenzen zu bremsen. Doch was bedeutet diese Strategie für das Komplikationsrisiko bei diesen Infektionen? Über Antworten auf diese und andere aktuelle Fragen in der Infektiologie informierte Prof. Dr. med. Reinhard Berner an der DGKJ-Tagung in Leipzig.
G anz oben auf der WHO-Rangliste dringend benötigter neuer Antibiotika stehen wirksame Substanzen gegen multiresistente Tuberkulosebakterien (1). Auf Platz 2 folgen in der Kategorie «kritisch» unter anderem Enterobakterien, zum Beispiel E. coli, Enterobacter oder Klebsiellen, die resistent gegen Carbapeneme und Cephalosporine der dritten Generation sind. Für die WHO etwas weniger dringlich, klinisch jedoch hoch relevant sind penicillinresistente Streptococcus pneumoniae sowie ampicillinresistente Haemophilus-Stämme. Das Problem: «Es gibt keine neuen Wirkstoffklassen, und die wird es auch nicht geben», so Prof. Dr. med. Reinhard Berner, Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, Dresden. Auch die Strategie, altbekannte Substanzen mit anderen Indikationen auf ihre Potenz zur Mikrobenabwehr zu testen (drug repurposing) werde das Problem nicht lösen. Als Beispiel zitierte Berner aus einer Studie, in der über tausend von der FDA zugelassene Substanzen hinsichtlich ihrer Wirksamkeit gegen carbapenemresistente Enterobakterien untersucht wurden (2). In der Tat fanden sich darunter drei Substanzen mit entsprechender Wirksamkeit in vitro, und am besten funktionierte es mit dem HIV-Medikament Zivovudin in Kombination mit Tigecyclin. «Das ist zwar interessant, spielt für uns aber keine Rolle, denn wir würden Zivovudin nicht zur Behandlung von bakteriellen Infektionen einsetzen, schon allein wegen der Toxizität», stufte Berner die Praxisrelevanz dieser neuen Erkenntnisse ein. Insofern bleibt letztlich nichts anderes übrig als Antibiotika nur gezielt einzusetzen, um weitere Resistenzentwicklungen zu bremsen. Doch gefährdet man Patienten nicht auch, wenn man ihnen Antibiotika zu restriktiv vorenthält? Die Autoren einer schwedischen Studie gingen der Frage nach, ob es Patienten mit Infektionen der oberen Atemwege und/oder akuter Otitis media (AOM) schadet, wenn man bei der Behandlung auf Antibiotika verzichtet (3). Es handelte sich um eine prospektive Kohortenstudie in der Region Stockholm von 2006 bis 2015.
In diesem Zeitraum sank der Antibiotikaeinsatz bei sol-
chen Infektionen insgesamt um 22 Prozent, vor allem bei
der Sinusitis (von 86% auf 71%) und in der Patienten-
gruppe mit akuten Infektionen der oberen Atemwege
(von 36% auf 18%), während sich bei Tonsillitis (73%)
und AOM (von 88% auf 81%) praktisch nichts änderte.
Komplikationen waren ohne Antibiotikabehandlung ins-
gesamt nicht häufiger als mit Antibiotika. Auch als die
Studienautoren die Komplikationsraten bei AOM mit
oder ohne Antibiotikabehandlung auswerteten, fand
sich kein wesentlicher Unterschied. So kam es beispiels-
weise bei 5- bis 14-jährigen Kindern mit AOM ohne An- Prof. Reinhard Berner
tibiotika bei 3 von 21 294 Patienten zu einer Mastoiditis
(1,41/10 000) und bei 13 von 88 741 mit Antibiotika
(1,46/10 000). Bakterielle Komplika-
tionen nach oberen Atemwegsinfektionen sind demnach eher seltene Ereignisse. Epidemiologische Studien wie diese können zwar keine Kausa-
«Es gibt keine neuen Wirkstoffklassen, und die wird es auch nicht geben.»
litäten nachweisen, aber es scheint,
dass der protektive Effekt einer (prä-
emptiven) Antibiotikatherapie tatsächlich marginal und die
Number Needed to Treat (NNT) extrem hoch ist: «Sie müs-
sen 16 000 Kinder mit Otitis media mit Antibiotika behan-
deln, um theoretisch einen Fall von Mastoiditis zu verhin-
dern», sagte Berner.
Was bringt die Pneumokokkenimpfung?
Invasive Pneumokokkenerkrankungen (IPD) sind seit der Einführung des PCV7- beziehungsweise PCV13-Impfstoffs deutlich zurückgegangen, auch bei nicht geimpften Bevölkerungsgruppen, was für einen Herdeneffekt der Impfung spricht. So zeigte eine Studie aus England und Wales (4), dass die Inzidenz der IPD 2016/17 in der Gesamtbevölkerung um 37 Prozent geringer war als vor der Impfstoffära: Waren es zuvor 14,79 Fälle pro 100 000 Einwohner, betrug die Rate 2016/17 noch 9,87 Fälle pro 100 000 Einwohner. Wie zu erwarten, war dieser Rückgang besonders hoch bei denjenigen IPD-Fällen, die von PCV-Typen ausgelöst wurden, welche durch die PCV-Impfstoffe abdeckt wer-
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den. Der Rückgang betrug 97 Prozent bei IPD durch
PCV7-Typen und 64 Prozent bei den weiteren sechs
Typen, die in der PCV13-Vakzine enthalten sind. Die
Autoren der Studie schätzen, dass in den elf Jahren seit
der Einführung der PCV7-Impfung gut 38 000 IPD-Fälle
in England und Wales verhindert wurden. «Dies ist ein
hoch relevanter, medizinisch und individuell bedeutsamer
Effekt der Pneumokokkenimpfung», sagte Berner.
Doch, wie ebenfalls zu erwarten, entfaltet auch der
durch die Impfung ausgelöste evolutionäre Druck auf die
Pneumokokken seine Wirkung: Mittlerweile sind einige
Serotypen, die nicht in der
Invasive Pneumokokkenerkrankungen sind seit Einführung der Impfung zurückgegangen.
Vakzine enthalten sind, relevanter geworden, insbesondere die Serotypen 12F und 22F. «Die Impfung hat
einen unbestreitbaren, se-
gensreichen Effekt, das ist
keine Frage», sagte Berner. Ärzte, Behörden und Impf-
stoffhersteller seien jedoch aufgerufen, das «Replace-
ment» von Serotypen im Auge zu behalten.
Rätselhafte Scharlach-Epidemie
Rätsel geben die seit 2014 in England auftretenden
Scharlachepidemien auf (5). Gemeint sei hierbei Schar-
lach in Sinne einer exanthematischen, hoch fieberhaften
Krankheit durch A-Streptokokken und nicht eine milde
Form, die sich als Tonsillitis ohne Fieber und ohne Exan-
them manifestiere, betonte Berner.
Dank der in England üblichen, umfangreichen Public-
Health-Register kann man dort die Entwicklung der
Scharlacherkrankungen seit Beginn des 20. Jahrhunderts
verfolgen. 2014 traten in England plötzlich vermehrt
Scharlachfälle auf: Die Inzidenz stieg im Vergleich zum
Vorjahr um das Dreifache, von 8,2 Fällen auf 100 000
Einwohner auf 27,2/100 000. In 2015 waren es 30,6/
100 000 und 2016 noch etwas mehr (33,2/100 000),
womit der höchste Stand an
Konnatale, asymptomatische
Scharlacherkrankungen in
CMV-Infektionen scheinen
England seit 1967 erreicht
keine negativen Langzeitfolgen wurde. Das mediane Erkran-
zu haben.
kungsalter betrug 4 Jahre,
und 186 von 100 000 Kin-
dern unter 10 Jahren waren betroffen. Auch die Rate der
Hospitalisierungen wegen Scharlach stieg an, und 1 von
40 Erkrankten musste ins Spital. Die Erkrankungen tra-
ten in jedem der genannten Jahre hauptsächlich im März
und April auf. Sie waren nicht lokal begrenzt, sondern
die 2016 gezählten 620 Fälle waren über ganz England
verteilt. Eine gleichzeitige Zunahme invasiver Infektionen
mit Streptokokken der Gruppe A (iGAS) war nicht zu
verzeichnen. Auch handelte es sich nicht um einen be-
stimmten Erregertyp, sondern um verschiedene Strepto-
kokken-A-Typen.
Bisher weiss niemand, wie es zu diesem erneuten Auf-
flackern von Scharlach kam und wie die Entwicklung
weitergehen wird. Man sollte im Zusammenhang mit der
Pneumokokkenimpfung aber auch bedenken, dass es
Erreger gebe, die sozusagen «die Lücke füllen wollen»,
die durch das Ausschalten bestimmter Bakterienstämme
entstehe, kommentierte Berner das rätselhafte Phäno-
men. Auch in Deutschland beobachte man eine Zu-
nahme von Infektionen mit A-Streptokokken.
Zytomegalievirus: Langzeitfolgen konnataler und postnataler Infektionen
Zu Diagnose und Behandlung konnataler Infektionen mit dem Zytomegalievirus (CMV) wurde im Dezember letzten Jahres ein Konsensus der ESPID (European Society for Paediatric Infectious Diseses) publiziert (6). Die meisten konnatalen CMV-Infektionen verlaufen ohnehin asymptomatisch (80 bis 90%), jedoch war bisher kaum etwas über mögliche Langzeitfolgen bezüglich Intelligenz und Lernerfolg von Kindern mit asymptomatischer, konnataler CMV-Infektion bekannt. Neue Erkenntnisse lieferte eine retrospektive Studie im Women’s Hospital of Texas, Houston, USA (7). Von gut 32 000 von 1982 und 1992 in diesem Spital geborenen Kindern waren bei Geburt 135 CMV-positiv (0,4%), ein Wert, der in der zu erwartenden Grössenordnung liegt. Von diesen Kindern waren 92 asymptomatisch; ihre weitere Entwicklung bis zum Alter von 18 Jahren wurde weiterverfolgt. Im Alter von 2 Jahren erfolgte ein Hörtest, bei dem sich 11 der Kinder als schwerhörig erwiesen. Im Langzeitverlauf, bis zum Alter von 18 Jahren, zeigte sich kein Unterschied bezüglich Intelligenz, Sprachentwicklung und Lernerfolg zwischen den gesunden Kontrollpersonen und den nicht schwerhörigen Kindern mit konnataler, asymptomatischer CMV-Infektion. Auch die Kinder mit Innenohrschwerhörigkeit (SNHL) hatten durchschnittliche Werte im Intelligenztest, nur ihr Vokabular war anscheinend etwas geringer. «Kinder mit asymptomatischer, konnataler CMV-Infektion und normalem Hörvermögen scheinen keine Einschränkungen im IQ, Wortschatz und Schulerfolg zu haben, bei Hörstörungen ist eine kleine Einschränkung des Vokabulars zu erwarten», fasste Berner die wesentlichen Resultate dieser Studie zusammen. Auch bei Frühgeborenen, die postnatal mit CMV infiziert werden, scheint man – zumindest in den ersten sechs Lebensjahren – keine gravierenden neurologischen Langzeitfolgen fürchten zu müssen. In einer Kohortenstudie in den Niederlanden evaluierte man die neurologische Entwicklung von Frühgeborenen (< 32 Schwangerschaftswoche [SSW]), die postnatal (bis Woche 40 postkonzeptionell) mit CMV infiziert wurden (8). Von 356 Frühgeborenen (24 bis 32 SSW) wurden 49 (14%) bis zur postkonzeptionellen 40. SSW mit CMV infiziert. Bis zum Alter von sechs Jahren wurden zu bestimmten Zeitpunkten Testverfahren zur motorischen und neurologischen Entwicklung der Kinder durchgeführt: Keines der postnatal infizierten Frühgeborenen entwickelte eine Innenohrschwerhörigkeit. Im Alter von 16 Monaten schnitten die 49 postnatal infizierten Frühgeborenen im GMDS im Vergleich mit den 307 nicht infizierten besser ab, später zeigten sich keinerlei Unterschiede zwischen beiden Gruppen.
Renate Bonifer
Quelle: Referat von Prof. Reinhard Berner: «Update Infektiologie». DGKJ-Kongress 12. bis 15. September 2018 in Leipzig.
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Literatur: 1. Tacconelli E et al.: Discovery, research, and development of new antibiotics: the WHO priority list of antibiotic-resistant bacteria and tuberculosis. Lancet Infect Dis 2018; 18: 318–327. 2. Ng SMS et al.: Repurposing Zidovudine in combination with Tigecycline for treating carbapenem-resistant Enterobacteriaceae infections. Eur J Clin Microbiol Infec Dis J 2018; 37: 141–148. 3. Cars T et al.: Antibiotic use and bacterial complications following upper respiratory tract infections: a population-based study. BMJ Open 2017;7:e016221. 4. Ladhani SN et al.: Rapid increase in non-vaccine serotypes causing invasive pneumococcal disease in England and Wales, 2000-17: a prospective national observational cohort study. Lancet Infect Dis 2018; 18(4): 441–451. 5. Lamagni T et al.: Resurgence of scarlet fever in England, 2014-16: a population-based surveillance study. Lancet Infect Dis 2018; 18:180–187. 6. Luck SE et al.: Congenital cytomegalovirus: a european expert consensus statement on diagnosis and management. Pediatr Infect Dis J 2017; 36(12): 1205–1213. 7. Lopez AS et al.: Intelligence and academic achievement with asymptomatic congenital cytomegalovirus infection. Pediatrics 2017; 140(5). 8. Gunkel J et al.: Outcome of preterm infants with postnatal cytomegalovirus infection. Pediatrics 2018; 141;e20170635
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