Transkript
Schwerpunkt
Epilepsiebehandlung im Alltag
Medikamente und andere Optionen
Kinderärztinnen und -ärzte sollten auch über neue Entwicklungen und Erkenntnisse in der Epileptologie im Bilde sein, die auf den ersten Blick eher etwas für Epilepsiespezialisten im Spital zu sein scheinen, weil die Eltern ihnen auch dazu Fragen stellen werden und kompetente Antworten erwarten dürfen, meint Dr. med. Tilman Polster. An der DGKJ-Tagung in Leipzig gab er dazu einen Überblick für die Praxis.
S ie haben sich richtig entschieden, denn die Epilepsie ist eine wichtige Erkrankung», so begrüsste Dr. med. Tilman Polster, Leitender Arzt der Kinderepileptologie am Epilepsiezentrum Bethel, Bielefeld, sein Publikum an der Epilepsie-Session und wandte sich insbesondere auch an die Kinderärztinnen und -ärzte in der Praxis: «Wir brauchen Sie!» Damit meinte der Referent nicht nur die routinemässigen Laborkontrollen, sondern auch die Rolle der Praktiker als wichtige Vertrauenspersonen der Eltern. Schliesslich braucht es nicht selten detektivische Fähigkeiten und eine gute Vertrauensbasis, um herauszufinden, warum ein Antiepileptikum nicht wirkt: Stimmt die Dosis? Wie sieht es mit den Nebenwirkungen tatsächlich aus? Nimmt das Kind die Medikamente überhaupt und nimmt es die richtigen?
«Alte» Substanzen können mitunter die besten sein
Bis in die Achtzigerjahre kamen nach und nach nur wenige Antiepileptika auf den Markt, danach nahm die Auswahl an Substanzen rasant zu – was jedoch nicht automatisch bedeutet, dass alle «alten» Substanzen weniger gut wirksam wären. Als Beispiel nannte Polster das Ethosuximid (Petinimid®), das bereits in den Sechzigerjahren eingeführt wurde. In einer 2010 publizierten Studie (1) erwies sich das Ethosuximid bei der Absence-Epilepsie im Kindesalter als genauso wirksam wie Valproat und als genauso gut verträglich wie Lamotrigin. Darüber hinaus gebe es mittlerweile Anhaltspunkte dafür, dass Kinder mit Absence-Epilepsie, die zuerst mit Ethosuximid behandelt wurden, eine bessere Verhaltensprognose haben und dass möglicherweise auch ihr Risiko für tonisch-klonische Anfälle im späteren Leben niedriger sei, berichtete Polster.
Nischenmedikamente und Alleskönner
Rufinamid (Inovelon®), das bei seiner Einführung in den USA als neues, geradezu sensationelles Antiepiletikum gehypt wurde, sei heute ein Nischenmedikament, aber ein wichtiges, insbesondere für Kinder mit schwerer Epi-
lepsie wie dem Lennox-Gastaut-Syndrom, sagte Polster. Die Substanz sei für schwer kranke Kinder mit verschiedenen Anfallstypen geeignet, besonders bei Kindern, die sich massiv verletzen: «Rufinamid ist eine Option bei Sturzanfällen, und so setzen wir es auch ein», sagte der Referent. Sozusagen ans andere Ende des Spektrums gerutscht, das heisst für einen breiteren Einsatz geeignet, sei das Lacosamid (Vimpat®). In einem kürzlich publizierten Review (2), für den überwiegend retrospektive Fallserien mit insgesamt 797 Patienten berücksichtigt wurden, zeigte sich, dass 51 Prozent der Patienten mit Lacosamid eine Anfallsreduktion um 50 Prozent hatten (was gemäss Europäischer Medikamentenzulassungsbehörde [EMA] ein Antiepileptikum als «wirksam» klassifiziert), und rund ein Viertel wurde sogar anfallsfrei. In der EU ist Lacosamid ab einem Alter von 4 Jahren zugelassen (in der Schweiz gemäss Fachinformation ab 18 Jahren). Ein Vorteil von Lacosamid sei, dass man es auch i.v. geben kann: «Lacosamid ist eine gute Option im Status epilepticus, zur schnellen Aufsättigung.»
Dr. med. Tilman Polster
Was tun bei Status epilepticus?
Vorderhand das Wichtigste ist, den Status epilepticus auch rasch als solchen zu erkennen. Hier scheint es noch erhebliche Defizite zu geben, denn die 2014 publizierte FEBSTAT-Studie (3) zeigte, dass der febrile Status epilepticus in etwa einem Drittel der Fälle zunächst nicht erkannt
wurde. Das Risiko, dass der An- «Alte Antikonvulsiva fall länger als eine Stunde anhal- können die besten sein, wie ten wird, steigt mit jeder Minute, Ethosuximid bei Absencen.»
die bis zum Eintreffen der Notfallequipe vergeht, um 5 Prozent. Die möglichst rasch einsetzende Behandlung ist von zentraler Bedeutung (4). «Das dritte Antikonvulsivum muss innerhalb der ersten Stunde des Anfalls verabreicht werden», betonte Polster. Dann nämlich werde der Anfall in so gut wie allen Fällen unterbrochen; verzögert sich hingegen die Behandlung, schaffe man es nur in 22 Prozent der Fälle (4).
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Auch wisse man, dass Benzodiazepine – die initalen Medikamente im Status epilepticus – umso besser wirken, je früher man sie einsetzt, und dass man mit ihrem möglichst frühen Einsatz letztlich auch ein besseres Langzeitresultat erzielen wird. Die Rezeptoren für Benzodiazepine verschwinden während des Anfalls von der Zelloberfläche; der Grund hierfür ist nicht bekannt. In den aktuellen Richtlinien der American Epilepsy Society (5) werden i.v. Lorazepam und i.v. Diazepam als gleichwertig und wirksam bei Kindern im Status epilepticus eingestuft. «Es gibt erste Daten, dass es vielleicht doch kleine Unterschiede geben könnte, aber zunächst einmal ist es wichtig, dass man überhaupt Benzodiazepine gibt», kommentierte Polster diese Empfehlung. Weitere Möglichkeiten sind Diazepamrectiolen (Diazepam Desitin® rectal tube) in adäquater Dosierung und Midazolam (intranasal, buccal, i.m.). Polster empfahl für die meisten Kinder im Grundschulalter Buccolam® (Midazolam zur Anwendung in der Mundhöhle), denn dies sei die beste Option, um die Kinder möglichst rasch und frühzeitig zu behandeln. Die zu Recht gefürchtete Atemdepression gilt als häufigste klinisch relevante Nebenwirkung bei der Notfallbehandlung, wobei es keinen Unterschied macht, welches Benzodiazepin und welche Darreichungsform gewählt wird. Aber: «In Studien war die Atemdepression in den Plazebogruppen höher!», sagte Polster. Der Anfall per se sei offenbar das grösste Risiko für eine Atemdepression.
Cannabis – was bringt es wirklich?
Wenn von Cannabis im Zusammenhang mit Epilepsie die Rede ist, geht es um den nicht psychoaktiven Inhaltsstoff Cannabidiol (CBD) und nicht um das psychoaktive Tetrahydrocannabiol (THC). Er sei früher eher skeptisch gewesen, ob CBD wirklich etwas bewirken könne, dies habe sich aber mit der Publikation einer prospektiven, randomisierten Studie geändert, berichtete der Referent. In dieser Studie erhielten 120 Kinder mit Dravet-Syndrom entweder CBD (20 mg/kg KG) oder Plazebo (6). Der Anteil der Patienten mit einer Anfallsreduktion um mindestens die Hälfte betrug 43 Prozent mit CBD und 27 Prozent mit Plazebo. 5 Prozent der Patienten mit CBC wurden anfallsfrei, in der Plazebogruppe niemand. Die Verträglichkeit war gut. Die Resultate seien zwar nicht umwerfend gut, aber die Wirksamkeit des CBD bei Dravet-und Lennox-Gastaut-Syndrom damit nun evidenzbasiert, so stufte Polster die Bedeutung dieser Studie ein. In den USA wurde 2018 das erste CBD-Präparat für die Behandlung spezieller Epilepsieformen zugelassen (Epidiolex®). In Deutschland kann man eine ölige CBD-Lösung für die Zubereitung in Apotheken rezeptieren, ein spezielles Betäubungsmittelrezept ist dafür nicht notwendig, weil kein THC enthalten ist. Die Übernahme der Kosten durch die Krankenkassen muss vorab beantragt und bewilligt werden, berichtete Polster. Man erwarte, dass bald auch in der EU ein entsprechendes Medikament zugelassen wird (siehe Infotipp auf Seite 19).
Neuer Wirkmechanismus
Analog zu den Erfolgen in der Onkologie erhoffte man sich durch die Aufdeckung molekularer Mechanismen der zellulären Ionenkanalfunktion ebensolche Fortschritte in der Epileptologie. Diese Hoffnung wurde zwar
oft enttäuscht, aber sie hat sich mittlerweile doch wenigstens für eine Indikation erfüllt: die tuberöse Sklerose. Nachdem klar war, dass auch hier der mTORSignalweg eine Rolle spielt, testete man den bekannten mTOR-Inhibitor Everolimus mit Erfolg bei Patienten mit tuberöser Sklerose und therapierefraktärer Epilepsie, was letztlich zur Zulassung des Medikaments Votubia® für diese Patienten führte. Everolimus ist somit die erste antikonvulsive Substanz, deren Wirkung nicht auf die Anfälle selbst zielt, sondern auf einen zugrunde liegenden zellulären Signalweg. Allerdings bringt die immunsuppressive Substanz auch neue Nebenwirkungsrisiken mit sich: «2 von 350 Kindern sind in der Nachbeobachtung an Pneumonie und Sepsis verstorben. Die Substanz ist also nicht harmlos», sagte Polster.
Plötzliche Todesfälle: SUDEP
Manche Kollegen fragten sich, ob sie mit den Eltern von Kindern mit Epilepsie überhaupt über das Thema Tod sprechen sollten; die Antwort sei eindeutig Ja, sagte Polster, denn viele Eltern fürchten, dass ihr Kind sterben muss, wenn sie den ersten Fieberkrampf erleben – der Tod sei für sie darum ein sehr wichtiges Thema, mit dem sie sich ohnehin auseinandersetzten. Der «sudden unexpected death in epilepsy patients» (SUDEP) ist zwar ein seltenes, aber für viele Eltern beängstigendes Risiko. Die Inzidenz beträgt etwa 1 von 4500 Kindern mit Epilepsie pro Jahr (7). «Anfälle, die unerkannt verlaufen, sind das Problem», sagte Polster. Darum verringert die Kontrolle generalisierter tonischklonischer Anfälle sowie die Überwachung eines Kindes mit generalisiert tonisch-klonischen Anfällen im Schlaf das SUDEP-Risiko: ●um den Faktor 2,5, wenn eine zweite, über 10-jährige
Person im gleichen Raum schläft ●um den Faktor 10 bei häufigen nächtlichen Kontrollen
beziehungsweise beim Gebrauch von Überwachungsgeräten (z.B. Epi-Care® 3000). Eine Liste mit Überwachungsgeräten findet sich auf der Website der Epi-Suisse: https://epi-suisse.ch/epilepsie/alltag-mit-epilepsie-3/
Option Epilepsiechirurgie
Eine Chance, die man immer abklären sollte, sei die Epilepsiechirurgie, empfahl Polster: «90 Prozent Anfallsfreiheit sind möglich, 50 bis 80 Prozent Anfallsfreiheit die Regel.» Bei epilepsieassoziierten Tumoren sollte direkt epilepsiechirurgisch behandelt werden. Diese Tumoren beeinträchtigen die Patienten primär wegen der ausgelösten Epilepsie und weniger wegen onkologischer Probleme, denn ihre onkologische Prognose ist günstig. Häufig handelt es sich dabei um glioneurale Tumoren. Eine möglichst frühe Resektion (< 1 Jahr) erhöhe die Chancen auf Anfallsfreiheit sowie auf die Prävention kognitiver Beeinträchtigungen infolge der Epilepsie und/oder entsprechender Nebenwirkungen der Antikonvulsivatherapie.
Renate Bonifer
Quelle: Referat von Dr. med. Tilman Polster: «Medikamente und andere Optionen: Epilepsiebehandlung im Alltag» am Symposium «Anfallskranke Kinder und Jugendliche – ein Update». DGKJ-Kongress vom 12. bis 15. September 2018 in Leipzig.
«Zunächst einmal ist es wichtig, dass man bei Status epilepticus überhaupt Benzodiazepine gibt!»
«Cannabidiol ist derzeit eine Option für spezielle Epilepsiesyndrome.»
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Literatur: 1. Glauser T et al.: Ethosuximide, valproic acid, and lamotrigine in childhood absence epilepsy. N Engl J Med 2010; 362(9): 790–799. 2. Ortiz de la Rosa JS et al.: Efficacy of lacosamide in children and adolescents with drug-resistant epilepsy and refractory status epilepticus: A systematic review. Seizure 2018; 56: 34–40. 3. Seinfeld S et al.: Emergency management of febrile status epilepticus: results of the FEBSTAT study. Epilepsia 2014; 55(3): 388–395. 4. Abend NS et al.: Medical treatment of pediatric status epilepticus. Semin Pediatr Neurol. 2010; 17(3): 169–175. 5. Glauser T et al.: Evidence-based guideline: Treatment of convulsive status epilepticus in children and adults: Report of the guideline committee of the American Epilepsy Society. Epilepsy Curr 2016; 16(1): 48–61. 6. Devinsky et al.: Trial of cannabidiol for drug-resistant seizures in the Dravet Syndrome. N Engl J Med 2017; 376(21): 2011–2020. 7. Harden C et al.: Practice guideline summary: Sudden unexpected death in epilepsy incidence rates and risk factors: Report of the guideline development, dissemination, and implementation subcommittee of the American Academy of Neurology and the American Epilepsy Society. Epilepsy Curr 2017; 17(3): 180–187.
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