Transkript
Schwerpunkt
ADHS plus X
Meist bestehen zusätzliche psychiatrische Diagnosen
Die ADHS-Diagnose ist bekanntermassen schwierig, hinzu kommt, dass die Aufmerksamkeitsstörung mit oder ohne Hyperaktivität häufig mit weiteren psychiatrischen Störungen assoziiert ist. Am ADHS-Symposium anlässlich der SGP-Jahrestagung in Lausanne wurden der Bezug von ADHS zur bipolaren Störung und zum Tourette-Syndrom sowie einige Aspekte der medikamentösen Therapie bei ADHS erläutert.
Mit dem Erscheinen des DSM-5, der fünften Auflage des US-amerikanischen «Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders» wurde unter anderem die neue Diagnose
«Disruptive Mood Dysregulation Disorder (DMDD)» defi-
niert. Die DMDD, übersetzt als «dysrégulation de
l'humeur explosive» oder «disruptive Affektregulations-
störung» bezeichnet, ist – wie so manch anderes im
DSM-5 – eine höchst umstrittene Kategorie. Als typisch
für DMDD gelten ständige Reizbarkeit und eine äusserst
geringe Frustrationstoleranz, häufig gepaart mit opposi-
tionellem Verhalten, extremen und häufigen Wutaus-
brüchen (mehrmals pro
Es ist umstritten, ob die neu
Woche) sowie depressiven
definierte disruptive Affekt-
Episoden.
regulationsstörung DMDD
Ziel der DMDD-Definition
tatsächlich ein eigenständiges sei es gewesen, so Prof.
Krankheitsbild ist.
Olivier Halfon, CHUV Lau-
sanne, eine Diagnosekate-
gorie für Kinder zu formu-
lieren, deren psychische Probleme irgendwo zwischen
ADHS und bipolarer Störung liegen. Die Übereinstim-
mungen mit Kriterien für bereits definierte Störungen
reichten den DSM-5-Autoren für das Stellen einer Dia-
gnose offenbar nicht aus, gar als «chil-
dren diagnostically homeless» bezeich-
nete sie einmal die amerikanische
Psychiaterin Prof. Gabrielle Carlson.
Ob DMDD tatsächlich mehr ist als eine
Modediagnose? Schwer zu sagen. Es
gebe bis heute keine ausreichenden
wissenschaftlichen Beweise dafür, dass
DMDD tatsächlich ein eigenständiges
Krankheitsbild sei, sagte Halfon. In Stu-
dien zum DMDD erwies sich der soge-
nannte Kappawert mit 0,25 als gera-
dezu «lächerlich». Dieser statistische
Abbildung: Tourette-Syndrom und ADHS können gleichzeitig bei einem Patienten vorkommen. Es handelt sich jedoch eher um
Parameter gibt Auskunft darüber, ob verschiedene Untersucher mit bestimmten Kriterien zu übereinstimmenden
eine Koexistenz als um eine Komorbidität.
Diagnosen kommen oder nicht. Ein
Kappawert von 1 bedeutet hohe Übereinstimmung, ein Wert von 0 praktisch keine Übereinstimmung. Doch egal, wie man das Syndrom nun auch nennen mag, für Halfon ist klar, dass diese Kinder und ihre Familien unter einem grossen Leidensdruck stehen. Selbstverständlich seien Psychotherapie und die Zusammenarbeit mit den Eltern absolut notwendig. Es brauche aber auch Medikamente, wie zum Beispiel Methylphenidat und/ oder SSRI für diese Patienten.
Tourette und ADHS
Definiert ist das Tourette-Syndrom als vokale und motorische Tics, die seit mindestens 12 Monaten bestehen, vor dem Erreichen des 18. Lebensjahres eingetreten und nicht anderweitig erklärbar sind, wie etwa durch Substanzmissbrauch oder psychiatrische Störungen. Unter den Tourette-Patienten finden sich deutlich mehr Jungen als Mädchen (4,3:1). Typisch für das Tourette-Syndrom ist das Auftreten sensorischer Phänomene vor dem Tic. Oft leiden die Betroffenen auch unter Schlafstörungen, Verhaltenszwängen, ADHS, Angst- und Stimmungsstörungen. Auch oppositionelles Verhalten ist nicht selten. Häufig bessern sich die Symptome während oder nach der Pubertät. Der Symptomverlauf ist jedoch wellenförmig, das heisst, wenn sich ein bestimmter Tic verliert, wird häufig ein neuer entwickelt. Die Beziehung zwischen Tourette-Syndrom und ADHS sei aufgrund des fehlenden Nachweises eines genetischen Zusammenhangs «eher eine Koexistenz als eine Komorbidität», sagte Prof. Kerstin J. von Plessen, CHUV Lausanne (Abbildung). Beide Erkrankungen könnten eine genetische und/oder umweltbedingte gemeinsame Basis haben. Auch wäre es möglich, dass das Vorliegen der einen Erkrankung das Risiko für die andere erhöht. Obwohl vieles für diese Annahme spreche, sei ein derartiger Zusammenhang aber noch nicht bewiesen, so von Plessen. Am meisten weiss man zurzeit über die Beziehung von Tourette und ADHS bei Kindern, bei denen zuerst das Tourette-Syndrom und später auch ADHS diagnostiziert wurde. Im Mittel erfolgt die ADHS-Diagnose bei Kindern
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Tabelle:
In der Schweiz zugelassene ADHS-Medikamente
Stimulanzien Methylphenidat
Lisdexamphetamin Dexmethylphenidat
Ritalin®, Ritalin® SR und Ritalin® LA, Concerta®, Equasym® XR, Medikinet®, Medikinet® MR und Generika Elvanse® Focalin® XR
Nichtstimulanzien Atomoxetin Guanfacin
Strattera® Intuniv®
Quelle: www.compendium.ch, Stand: 4. Juli 2018
ohne Tourette-Syndrom 3½ Jahre später als bei Kindern
mit Tourette, weil Letztere bereits früher in ärztlicher Be-
handlung sind. Klar ist:
● Es besteht kein Zusammenhang zwischen der Schwere
der Tics und einer ADHS-Diagnose, das heisst, ADHS
verstärkt die Tics nicht.
● Die Tics können verschwinden, wenn eine Situation
besondere Konzentration erfordert.
● Viele Kinder mit Tourette-Syndrom konzentrieren sich,
um ihre Tics zu kontrollieren; insofern könnte Tourette
sozusagen vor ADHS-Symptomen schützen.
Die Beziehung zwischen TouretteSyndrom und ADHS ist eher eine Koexistenz als eine Komorbidität.
Im Übrigen sei ADHS keine Kontraindikation für Trainingstherapien gegen Tics und Tourette-Syndrom und man dürfe Patienten mit Tourette und ADHS auch Methylphenidat geben, sagte von Plessen. Die Sorge, dass man dadurch vermehrt
Tics provozieren könnte, habe sich nur in
Einzelfällen bestätigt. Im Allgemeinen könne Methylphe-
nidat für Patienten mit Tourette und ADHS aber nützlich
sein.
Literatur: 1. The MTA Cooperative Group: A 14-month randomized clinical trial of treatment strategies for attention-deficit/hyperactivity disorder (ADHD). Arch Gen Psychiatry 1999; 56: 1073–1086. 2. https://www.nimh.nih.gov/funding/clinical-research/practical/mta/the-multimodaltreatment-of-attention-deficit-hyperactivitydisorder-study-mta-questions-and-answers. shtml abgerufen am 4. Juli 2018. 3. Hinshaw SP et al.: Attention-deficit hyperactivity disorder, multimodal treatment, and longitudinal outcome: evidence, paradox, and challenge. Wiley Interdiscip Rev Cogn Sci 2015; 6(1): 39–52. 4. Huss M et al.: Methylphenidate dose optimization for ADHD treatment: review of safety, efficacy, and clinical necessity. Neuropsychiatr Dis Treat 2017; 13: 1741–1751.
Therapeutische Optionen bei ADHS
Es stehen eine ganze Reihe nicht medikamentöser Massnahmen zur Verfügung, von der Aufklärung und Informationen zum ADHS über Elterntraining, Psychoedukation, Psychotherapie und Neurofeedback bis hin zu sogenannten alternativen Methoden, wie Achtsamkeitstraining und so weiter, berichtete PD Dr. med. Michel Bader, CHUV Lausanne. Bei den ADHS-Medikamenten unterscheidet man zwei Substanzklassen: Stimulanzien (rasch und lang wirksame Präparate) und Nichtstimulanzien (Tabelle). Die grundlegende Studie zur Wirksamkeit von Medikamenten bei ADHS im Kindesalter ist die 1999 publizierte MTA-Studie (1). Darin wurden rund 600 Kinder mit ADHS im Alter von 7 bis 10 Jahren nach dem Zufallsprinzip in vier Therapiegruppen aufgeteilt: nur Medikamente (hauptsächlich Methylphenidat), nur Psycho-/Verhaltenstherapie, Kombination von Psycho-/Verhaltenstherapie und Medikamenten, Kontrollgruppe ohne spezielle Therapie. Sowohl die Kombinationstherapie als auch die rein medikamentöse Behandlung waren bezüglich der ADHS-Symptomatik besser als keine oder eine reine Psycho-/Verhaltenstherapie. Bei anderen Parametern, wie beispielsweise Angststörungen, schulischen Leistungen, der Eltern-Kind-Beziehung oder beim sozialen Verhalten war jedoch nur die Kombinationstherapie
besser als keine Therapie, während eine reine Medikamentengabe oder eine Psycho-/Verhaltenstherapie ohne Medikamente hier keinen messbaren Vorteil gegenüber dem alltäglich üblichen Umgang mit diesen Kindern hatte (2). Ob der Vorteil einer alleinigen oder mit Psycho-/Verhaltenstherapie kombinierten medikamentösen Therapie bezüglich der ADHS-Symptomatik langfristig, über Jahre hinweg, anhält, ist eine Frage, die nicht eindeutig beantwortet werden kann. Offenbar spielen dabei weitere, im Detail nicht exakt bekannte Faktoren eine Rolle, wie beispielsweise Komorbiditäten, familiäre Umstände, Nebenwirkungen einer medikamentösen Langzeittherapie oder nachlassende Adhärenz (3): «Das Schlüsselparadoxon besteht darin, dass eine ADHS kurzfristig ganz eindeutig auf Medikation und Verhaltenstherapie anspricht, die Evidenz für eine Langzeitwirkung jedoch nur schwer fassbar ist», formulierte es einer der MTA-Studienautoren in einer 2015 publizierten Übersicht (3).
Dosisfindung und spezielle Situationen
Es sei mitunter nicht einfach, die individuell optimale Methylphenidatdosis zu finden, sagte Bader. So gibt es einerseits Kinder, bei denen trotz hoher Dosis keine befriedigende Wirkung erreicht werden kann, und andererseits Patienten, die bereits bei niedrigen Dosen unerwünschte Nebenwirkungen aufweisen (4). Darum sind regelmässige Kontrollen besonders zu Beginn der Therapie sehr wichtig. Häufig werden heute auch Methylphenidatpräparate mit lang anhaltender Wirkung eingesetzt, die nur einmal am Tag eingenommen werden müssen. Ein Routine-EKG sei vor Beginn der Behandlung nicht notwendig, selbstverständlich aber indiziert bei Kindern mit bekannten kardiovaskulären Erkrankungen wie beispielsweise Fehlbildungen im Herz-Kreislauf-System, und/oder individuellen beziehungsweise familiären Risikofaktoren, sagte Bader. Am Ende seines Vortrags ging der Referent noch auf einige spezielle Situationen ein. So sei die Sorge, dass orales Methylphenidat per se das Suchtrisiko im Verlauf des Lebens erhöhe, in Studien widerlegt worden. Bekannt ist allerdings, dass Methylphenidat i.v. oder geschnupft durchaus als Suchtmittel verwendet wird. Falls Bedenken bestehen, dass das verordnete Medikament in diesem Sinn missbraucht werden könnte, empfahl Bader, auf alle Fälle ein Nichtstimulans wie Atomoxetin zu bevorzugen. In diesem Zusammenhang wies er darauf hin, dass die volle Wirkung der Nichtstimulanzien etwas langsamer einsetze, vergleichbar dem langsamen Aufbau eines gleichmässigen Wirksubstanzspiegels bei Antidepressiva. Auf Nachfrage erklärte Bader, dass Methylphenidat keine Psychosen induziere, aber einem Patienten in psychotischem Zustand selbstverständlich nicht gegeben werden dürfe. Bei potenziell psychotischen Patienten müsse die Dosis sehr vorsichtig titriert werden.
Renate Bonifer
Session «Autour du TDAH/Alles ums ADHS». SGP-Jahrestagung in Lausanne, 24. bis 25. Mai 2018.
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