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Neurologie
Wie schätzen Kinder selbst ihre Epilepsie ein?
Was wissen Kinder über die Erkrankung, was zur Behandlung, und wie gehen sie mit der Erkankung um? Im Folgenden werden die Ergebnisse einer Studie zur Selbsteinschätzung von Kindern und Jugendlichen mit Epilepsie im Alter von 6 bis 18 Jahren zusammengefasst.
Von Thilo Bertsche1, Josefine Pauschek2, Matthias K. Bernhard2, Steffen Syrbe2, 3, Petra Nickel2, Andreas Merkenschlager2, Wieland Kiess2, Martina P. Neininger1 und Astrid Bertsche2
F ür die adäquate Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Epilepsie spielt die eingehende Diagnostik mit Anamnese, klinischem Befund und apparativen Zusatzuntersuchungen wie Labor-
diagnostik, EEG und MRT eine wichtige Rolle. Darauf
basierend können moderne Behandlungsstrategien, ins-
besondere die antikonvulsive Pharmakotherapie, ausge-
wählt werden. Damit diese die in klinischen Studien
gezeigte Wirkung unter Routine-
Die Selbsteinschätzung
bedingungen auch tatsächlich er-
der Patienten sollte eine wesentliche Basis der ärztlichen Entscheidung sein.
reichen, ist eine gute Adhärenz zur Medikamenteneinnahme essenziell. Daneben ist im Rahmen der
Betreuung in einer neuropädiatri-
schen Abteilung und einem sozialpädiatrischen Zentrum
die umfassende und interdisziplinäre Begleitung des
pädiatrischen Patienten und seiner Eltern von besonde-
rer Bedeutung.
Um den Erfordernissen der Kinder und Jugendlichen ge-
recht werden zu können, sollte die Selbsteinschätzung
der Kinder und Jugendlichen stärker im Fokus des be-
handelnden Arztes stehen. Aus diesem Grund haben wir
eine Studie zur Selbsteinschätzung von Kindern und Ju-
gendlichen mit Epilepsie im Alter von 6 bis 18 Jahren
durchgeführt (1).
1 Klinische Pharmazie, Institut für Pharmazie, ZAMS – Zentrum für Arzneimittelsicherheit, Universität und Universitätsklinikum Leipzig 2 Klinik und Poliklinik für Kinder und Jugendliche, Zentrum für Pädiatrische Forschung, Universitätsklinikum Leipzig 3 Klinik für Allgemeinpädiatrie, Sektion für Neuropädiatrie und Stoffwechselmedizin, Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Heidelberg
Fragebogenbasiertes Interview und Zeichnung
Nach Genehmigung durch die zuständige Ethikkommission und nach schriftlichem Einverständnis der Patienten und ihrer Eltern wurde diese Studie an der Neuropädiatrie eines Universitätsklinikums durchgeführt (1). Eingeschlossen wurden Kinder und Jugendliche im Alter von 6 bis 18 Jahren, bei denen eine Epilepsie nach den Kriterien der ILAE (International League Against Epilepsy) diagnostiziert worden war und die im Zeitraum von Oktober 2013 bis Februar 2014 ambulant oder stationär in
unserer Klinik behandelt wurden. Ausserdem mussten sie nach ihren mentalen und sprachlichen Möglichkeiten in der Lage sein, die Fragen des Interviews zu beantworten und ein Bild zu zeichnen. Ausgeschlossen wurden Kinder und Jugendliche, deren gesetzliche Vertreter nicht die Eltern waren. Stets durch dieselbe Interviewerin wurde mit den Patienten ein strukturiertes Interview geführt, das auf einem vorab durch ein Expertenpanel erstellten Fragebogen basierte. Das Interview gliederte sich in drei thematische Aspekte: G Wissensfragen zur Erkrankung G Wissensfragen zur (medikamentösen) Behandlung so-
wie zu Vorsichtsmassnahmen zur Prävention von Unfällen im Rahmen eines zerebralen Anfalls G Fragen zum Umgang mit der Erkrankung im sozialen Umfeld. Die Befragten wurden während des Interviews zudem gebeten, die Manifestation ihrer Anfälle in einem vorgegebenen Personenschema (Kopf, Arme, Rumpf, Beine) zu lokalisieren. Zudem wurde die 5-Punkte-Likert-Skala verwendet, um die subjektiv von den Kindern und Jugendlichen wahrgenommenen Empfindungen zum allgemeinen Krankheitsbild darzustellen. Anschliessend sollten die Kinder in einer Zeichnung mit mehreren Buntstiften auf einem weissen Blatt Papier darstellen, wie sie ihre Anfälle erleben und was sie dabei fühlen. Die soziodemografischen Daten zu den Kindern und Jugendlichen sowie ihren Erkrankungen und der Behandlung wurden anhand einer Patientenaktenanalyse und einer zusätzlichen Befragung der Eltern ermittelt. Im Fragebogen nicht beantworte Fragen wurden als «nicht gewusst» bewertet. Ein Expertenpanel aus vier pädiatrischen Neurologen bewertete die Übereinstimmung der von den Kindern und Jugendlichen geschilderten Anfälle mit der diagnostizierten Epilepsieform. Eine Bewertung wurde als plausi-
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bel gewertet, wenn diese von mindestens drei der Mitglieder im Expertenpanel positiv war.
Wissen zur Erkrankung
Insgesamt gaben 84 Eltern mit ihren Kindern (medianes Alter der Kinder 11,4 Jahre) das Einverständnis zur Teilnahme an der Studie. 75 Prozent der befragten Kinder gaben die Diagnose zutreffend an, wobei 62 Prozent eine Epilepsie, 10 Prozent epileptische Anfälle und 4 Prozent spezifische Diagnosen, zum Beispiel eine RolandoEpilepsie, richtig benannten. 10 Prozent der befragten Patienten nahmen fälschlicherweise an, dass eine Epilepsie ansteckend sei. 93 Prozent der Kinder und Jugendlichen wussten, dass sie in der Vergangenheit mindestens einen epileptischen Anfall erlitten hatten. Diese Patienten wurden gebeten zu beschreiben, was sie bei einem Anfall fühlen. Eine Evaluation durch ein Expertenpanel bewertete bei 66 Prozent der Fälle die von den Kindern und Jugendlichen geschilderten Symptome als typisch für die jeweils diagnostizierte Epilepsieform. In 20 Prozent der Fälle wurden die Beschreibungen vom Expertenpanel als nicht typisch angesehen. In 7 Prozent der Fälle war die Bewertung des Expertenpanels nicht übereinstimmend. In 3 Prozent war die Epilepsie noch nicht klassifiziert worden, und bei 4 Prozent waren die Schilderungen der Patienten zu unspezifisch.
Abbildung 1: Angenommene Auslöser für zerebrale Anfälle (Mehrfachantworten möglich) (nach [1])
Wissen zu Behandlung und Vorsichtsmassnahmen
96 Prozent der befragten pädiatrischen Patienten wussten, dass sie wegen ihrer Epilepsie eine Medikation einnehmen mussten. 82 Prozent der Kinder und Jugendlichen war bekannt, dass sie langfristig Medikamente einnehmen müssen. 88 Prozent konnten den Einnahmezeitpunkt beziehungsweise das Einnahmeintervall zutreffend benennen. 52 Prozent benannten den Namen ihres Antikonvulsivums oder ihrer Antikonvulsiva. 64 Prozent wussten, dass ihre Medikamente das Auftreten erneuter Anfälle verhindern sollen. 12 Prozent hingegen glaubten, dass die Medikamente ihre Erkrankung heilen könnten. 76 Prozent der Befragten nannten Aktivitäten, die sie aufgrund ihrer Anfallserkrankung vermeiden sollten. 24 Prozent konnten keine solchen Massnahmen benennen. 52 Prozent waren über spezifische Massnahmen zur Prävention von Unfällen im Rahmen eines Anfalls informiert. 7 Prozent der Kinder und Jugendlichen glaubten, dass die Nichtbeachtung von Vorsichtsmassnahmen zu neuen Anfällen führen könnte.
Umgang mit der Erkrankung
Auf die Frage, wie die Betroffenen ihre Epilepsie im Allgemeinen empfinden würden, gaben 12 Prozent an, dass sie sich darüber bislang noch nie mit jemandem ausgetauscht hätten, während 65 Prozent bereits mit den Eltern und der Familie über die Erkrankung gesprochen hatten. 26 Prozent der Patienten glaubten, dass es ihnen damit schlechter gehe als Kindern ohne Epilepsie. Als die Befragten zusätzlich aufgefordert wurden, auf einer ordinalen Skala anzugeben, wie sie ihre Krankheit im Allgemeinen empfänden, gaben diese in 77 Prozent der Fälle «glückliche» Emoticons an.
Abbildung 2: Angenommene Anfallslokalisation (Mehrfachantworten möglich) (nach [1])
Nach dem Interview wurden alle Kinder und Jugendlichen gebeten, ein Bild mit dem Titel «So ist es, wenn ich einen Anfall habe» zu zeichnen. 80 Prozent von den am Interview teilnehmenden 84 Kindern und Jugendlichen waren bereit, ein solches Bild zu zeichnen. Davon zeichneten 81 Prozent der Kinder und Jugendlichen sich selbst. Bei 19 Prozent der Bilder wurden andere Personen gezeichnet. 8 Prozent der Bilder zeigten Rettungssituationen, die entweder einen Krankenwagen oder einen Arzt darstellten. Bei 9 Prozent der Bilder wurden jeweils Situationen in der Schule dargestellt. Spezifische Symptome zeigten 25 Prozent der Bilder, darunter ein Zucken beziehungsweise Zittern der Körperteile (9%), Übelkeit und Erbrechen (6%), Kopfschmerzen (4%).
Zusammenfassende Bewertung
In dieser Studie (1) wurde gezeigt, dass die meisten Kinder und Jugendlichen mit Epilepsie über ausreichende und gute Kenntnisse über ihre Erkrankung verfügen. Dies zeigte sich auch in ihrer Reflexion und zeichnerischen Darstellung bezüglich des subjektiven Erlebens beziehungsweise des Empfindens während eines Anfalls. Dennoch muss davon ausgegangen werden, dass nicht nur in Einzelfällen phasenweise oder auch längerfristig durchaus erhebliche Fehleinschätzungen und Wissensdefizite sowie Einschränkungen der täglichen Lebenssituation bestehen können. Dies erfordert eine besondere Aufmerksamkeit in der alltäglichen ärztlichen Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit einer
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WESENTLICHES FÜR DIE PRAXIS
G Kinder und Jugendliche im Alter von 6 bis 18 Jahren mit Epilepsie wurden eingeladen, an einem strukturierten Interview über ihre Epilepsie teilzunehmen und ein Bild über ihre Krankheitsselbstbewertung zu zeichnen.
G Die Instrumente erweisen sich als praxisnah: Ein strukturiertes Interview auf Basis eines Fragebogens und das Zeichnen eines Bildes stellen einfache und gut in der Praxis nutzbare Instrumente dar, um in der ärztlichen Praxis die Selbsteinschätzung der Kinder/Jugendlichen erfahren zu können.
G Das Wissen um die Erkrankung ist grösstenteils gut: 75 Prozent der Befragten kannten den Namen ihrer Krankheit; 96 Prozent wussten, dass sie Medikamente einnehmen müssen; 52 Prozent nannten spezifische Vorkehrungen, um Schäden durch Anfälle zu verhindern; 66 Prozent beschrieben Symptome, die nach Experteneinschätzung mit der jeweils diagnostizierten Epilepsieform gut vereinbar sind.
G Allerdings sind auch Fehlannahmen häufig: Eine Ansteckungsgefahr wird von 10 Prozent angenommen; 12 Prozent glauben, dass ihre Medikamente ihre Krankheit heilen; 7 Prozent glauben, dass die Nichtbeachtung der Vorsichtsmassnahmen neue Anfälle verursacht.
G Die Selbsteinschätzung offenbart Einschränkungen im täglichen Leben: 27 Prozent der Kinder schätzen ihr Befinden schlechter ein als das von gesunden Kindern. 12 Prozent gaben an, dass sie noch nie über ihr Befinden in Zusammenhang mit der Epilepsie gesprochen hätten. In den Bildern werden am häufigsten spezifische Symptome (25 %) und Wechselwirkung zwischen Kind und sozialem Umfeld (18 %) gezeichnet.
Anfallserkrankung, insbesondere um Aufklärungs- und Wissensdefizite zu vermeiden sowie Fehleinschätzungen zu verhindern oder auszuräumen. Je mehr neben den Eltern auch die betroffenen Kinder und Jugendlichen selbst aufmerksamer und direkter durch den Arzt in die Beratung und die Behandlung einbezogen werden, umso mehr können sie dadurch im Umgang und bei der Bewältigung der Anfallserkrankung an eigener Sicherheit, Kompetenz und damit einer Selbstwirksamkeit gewinnen. Damit lassen sich einerseits die Compliance der Patienten und andererseits die psychosozial-emotionale Lebensqualität der Patienten beeinflussen und verbessern.
Korrespondenzadresse: Univ.-Prof. Dr. med. Astrid Bertsche Leiterin Bereich Neuropädiatrie Kinder- und Jugendklinik Universitätsmedizin Rostock Ernst-Heydemann-Strasse 8 D-18057 Rostock E-Mail: astrid.bertsche@med.uni-rostock.de
Interessenlage: Die Autoren erklären, keinen Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Beitrag zu haben.
Literatur: 1. Pauschek J et al.: Epilepsy in children and adolescents: Disease concepts, practical knowledge, and coping. Epilepsy Behav 2016; 59: 77–82.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift «Kinderärztliche Praxis» 6/2017. Der Nachdruck erfolgte mit freundlicher Genehmigung von Autoren und Verlag; kleine, formale Anpassungen erfolgten durch die Redaktion der PÄDIATRIE.
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