Transkript
Schwerpunkt
Altersgerechter Medienkonsum
Wie kann man dieses Ziel erreichen?
Die Debatte um sinnvolle Regelungen, ab wann ein Kind ein Smartphone haben darf und wie viel Bildschirmzeit in welchem Alter gesund ist, wird sehr emotional geführt. Dieser Artikel soll Denkanstösse geben, Mut machen, auch einmal zu experimentieren, und die positiven Seiten der digitalen Medien betonen.
Von Isabel Willemse
Abbildung 1: Lieblingsaktivitäten der Primarschüler in der Freizeit (1)
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S chweizer Haushalte mit Kindern und Jugendlichen sind voll ausgestattet mit digitalen Medien. Beinahe alle haben einen Internetzugang, mindestens ein Smartphone und einen Laptop oder Computer (1, 2). Auch immer mehr Schulen setzen auf Smartphones oder Tablets. Dies führt zwangsläufig zu Fragen rund um die Medienerziehung.
Wie nutzen Kinder und Jugendliche in der Schweiz die Medien?
Die Lieblingstätigkeiten von Schweizer Kindern im Primarschulalter sind Spielen (ohne Medien) und Sport. An dritter Stelle folgen die Freunde, und erst danach mit deutlich weniger Nennungen folgt das Gamen (1) (Abbildung 1). Schweizer Jugendliche (12–19 Jahre) geben folgende Lieblingsaktivitäten in der Freizeit an: Wenn sie allein sind, bevorzugen sie verschiedene mediale Aktivitäten wie Fernsehen, Lesen, Gamen und Musik hören. Erst danach folgen Sport und Schlafen. Anders sieht es aus, wenn sie mit Freunden zusammen sind, dann stehen
mediale Tätigkeiten nicht an erster Stelle: Am liebsten reden und plaudern sie, sie gehen zusammen shoppen oder «in den Ausgang». Auch Sport wird oft genannt, insbesondere Fussballspielen (3). Etwa ein Viertel der 6- bis 9-jährigen Kinder in der Schweiz haben ein eigenes Handy beziehungsweise Smartphone (1). Dieser Anteil nimmt mit dem Alter deutlich zu: Bei den 10- bis 11-Jährigen sind es bereits 62 Prozent, bei den 12- bis 13-jährigen Primarschülern 82 Prozent. Oft erhalten sie spätestens mit dem Übertritt in die Sekundarstufe ein eigenes Handy; so haben 98 Prozent der Schweizer Jugendlichen ab der Oberstufe ein eigenes Smartphone (2). Bei den Kindern heisst der Besitz eines Handys allerdings noch nicht, dass sie dieses auch regelmässig nutzen: Nur 30 Prozent der Primarschüler nutzen ihr Handy täglich (1). Schweizer Kinder schauen laut ihren Eltern (1) an einem typischen Wochentag durchschnittlich 38 Minuten fern, 23 Minuten verbringen sie mit Lesen oder dem Anschauen eines Buches, 15 Minuten mit dem Anschauen von Videos im Internet und ebenfalls 15 Minuten mit Gamen. Veränderungen über das Alter hinweg sind der Abbildung 2 zu entnehmen. Jugendliche in der Schweiz surfen im Durchschnitt 2½ Stunden an Wochentagen und 3 Stunden und 40 Minuten am Wochenende oder in den Ferien. Dazu gehören auch Onlinegames und WhatsApp (2). Diese Zahlen zur Häufigkeit und Dauer der Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen sind Schweizer Durchschnittswerte, was aber noch nicht bedeutet, dass dies auch den Empfehlungen entspricht, ab welchem Alter welche Geräte oder Dienste wie lange genutzt werden dürfen.
Was soll man Eltern empfehlen?
Verschiedene Fachleute und Institutionen geben Empfehlungen, ab welchem Alter und wie lange bestimmte Medienangebote genutzt werden dürfen. Diese Empfehlungen sind teilweise sehr unterschiedlich, zwei weitver-
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breitete sollen hier vorgestellt werden. Allerdings ist es sehr wichtig zu bedenken, dass solche Angaben immer nur Richtwerte sein können, und die kognitive und emotionale Entwicklung der Kinder bestimmt, welche Medieninhalte die Kinder auf welche Art und Weise verarbeiten können. In der Schweiz wird oft auf die Faustregel des französischen Kinderpsychiaters Serge Tisseron Bezug genommen, die sogenannte 3-6-9-12-Faustregel (4). Sie besagt: kein Fernsehen unter 3 Jahren, keine eigene Spielkonsole vor 6, Internet nach 9 und soziale Netzwerke nach 12 Jahren (5). Tisseron begründet diese Faustregel mit den Entwicklungsaufgaben, welche Kinder in dieser Altersspanne zu bewältigen haben (Tabelle 1) (4). Er betont, dass dabei bei allen Altersstufen Folgendes zu beachten sei (5): «Programme gemeinsam aussuchen, Bildschirmzeiten limitieren, Kinder einladen, darüber zu reden, was sie sehen oder machen, Kinder ermutigen, kreativ zu sein.» Einen etwas anderen Zugang wählte die Akademie amerikanischer Kinderärzte (6), welche 2015 neue Richtlinien zur Mediennutzung in Familien mit Kindern und Jugendlichen publiziert hat. Ihr Family-Media-Plan soll dazu dienen, dass die Mediennutzung nicht anderen wichtigen Dingen wie Schlaf, Sport oder «Face-to-face»Zeit mit den anderen Familienmitgliedern im Weg steht. Dafür soll eine gemeinsame Mediennutzung für eine Verbindung innerhalb der Familie sorgen (Tabelle 2).
Anzeichen für eine problematische Mediennutzung
Ob ein Überschreiten der vorgeschlagenen Empfehlungen für ein Kind tatsächlich nicht gut ist, können die Eltern oft sehr gut erkennen. Einige Eltern berichten von Nervosität oder Aggression der Kinder, wenn sie keinen Zugang zu digitalen Geräten haben. Oft berichten dieselben Eltern, dass sich dies lege, sobald sie ein paar Tage gar keinen Zugang hätten. Daraus könnte man schliessen, dass für die Kinder ein generelles Medienverbot am besten wäre. Doch einerseits ist dies nicht realistisch, und andererseits – und noch viel wichtiger – würde dies den Kindern langfristig nicht helfen. Denn sie wachsen in einer Welt auf, in der die Digitalisierung Alltag ist, und den Umgang damit müssen sie lernen. Das heisst nicht nur, dass sie auf dem Tablet den Zugangscode eingeben, tippen und wischen können, sondern auch, dass sie lernen, was man mit digitalen Medien alles machen kann und wann es wichtig ist, vorsichtig zu sein. Bildlich gesprochen kann man die Medienerziehung mit dem Leben in einer Grossstadt vergleichen: Genauso wie das Internet, um das es beim Umgang mit den digitalen Geräten meist geht, hat auch eine Grossstadt Vor- und Nachteile. Es gibt schöne und sichere Orte, wo inspirierende Kontakte möglich sind und man neue und spannende Dinge lernen und entdecken kann. Es gibt aber auch dunkle und unsichere Orte, an welche man nicht ohne Begleitung gehen möchte, und wenn, dann nur bei Tageslicht. Wie ermöglichen Eltern einem Kind den Zugang zu einer solchen Stadt?
Alarmsignale
Anzeichen für risikoreiche Mediennutzung finden sich im Verhalten oder in der Gesundheit. Wenn die Balance zwischen Online- und Offlineaktivitäten verloren geht, Onlineaktivitäten immer mehr Zeit beanspruchen und
dadurch wichtige Dinge wie soziale Kontakte, Hobbys, Schule oder Schlaf vernachlässigt werden, kann dies ein Alarmsignal sein. Vorsicht ist allerdings geboten bei der Bewertung von Onlinefreundschaften, denn obwohl diese in einem virtuellen Raum stattfinden, sind die Gefühle, welche die Personen verbinden, sehr real. Auch bei Freundschaften gilt: Die Balance zwischen online und offline ist entscheidend. Wenn Kinder und Jugendliche in der Schule und der Freizeit keine Selbstwirksamkeit erfahren, suchen sie diese oft in Games und sozialen Netzwerken. Bei solchen Anzeichen kann man mit Nachfragen sehr viel erreichen. Zur Inspiration bietet Tabelle 3 eine Sammlung von Fragen, welche an Kinder und Jugendliche, aber auch an deren Eltern gerichtet werden können. Grundsätzlich gilt: Wenn Kinder und Jugendliche Mühe haben, darüber zu sprechen, sollte man zunächst nur nach den positiven Dingen fragen und Interesse zeigen.
Wer gehört zu den Risikogruppen?
Aus Studien sind gewisse Risikogruppen für erhöhten und allenfalls problematischen Medienkonsum bekannt (1). Allerdings sind die Effekte oft klein. Dennoch lohnt sich vielleicht ein bewussteres Nachfragen zum Medienkonsum bei Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status, bei Einzelkindern und eher tiefem Bildungsniveau der Eltern.
Tabelle 1:
3-6-9-12-Faustregel*
Alter unter 3 Jahren 3 bis 6 Jahre 6 bis 9 Jahre
9 bis 12 Jahre ab 12 Jahren
Enwicklungsaufgaben des Kindes Entwicklung des Zeit-Raum-Empfindens sensomotorische Entwicklung
soziale Umgangsformen lernen
Komplexität der Lebenswelt entdecken
Beginn des Prozesses der Ablösung von der Familie
Aufgaben der Eltern
Mit dem Kind spielen und Geschichten vorlesen. Kein Einsatz digitaler Geräte, um das Kind zu beruhigen. Limitation der Bildschirmzeit durch klare Regeln, gemeinsame Mediennutzung und Gespräche darüber. Keine Geräte im Kinderzimmer. Kreativ sein mit digitalen Medien und das Internet erklären. Dabei 3 wichtige Prinzipien des Internets vermitteln: 1. Alles, was man online stellt, kann öffentlich sichtbar sein. 2. Alles, was man online stellt, bleibt es auch. 3. Man darf nicht alles glauben, was man online findet. Heranführen an das Internet: Eltern entscheiden über das Mass der Mediennutzung, ggf. in Begleitung und allein. Entscheidung, wann das Kind ein eigenes Handy erhält. Verfügbar bleiben, das Kind braucht seine Eltern noch. Weiterhin über Mediennutzungszeiten sprechen und über problematische Inhalte wie Plagiate, Pornografie und Belästigungen. Abschalten von WLAN und Einzug des Handys in der Nacht.
* Kein Fernsehen unter 3 Jahren, keine eigene Spielkonsole vor 6, Internet nach 9 und soziale Netzwerke ab 12 Jahren (4, 5)
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oder ein Foto heranzuzoomen, hat es sich zwar eine
gewisse technische Kompetenz angeeignet, kann die
Wirkung eines Videos aber noch nicht einordnen oder
die Bedeutung eines Fotos noch nicht verstehen. Me-
dienkompetenz umfasst viele weitere Bereiche.
Erwachsene Bezugspersonen von Kindern und Ju-
gendlichen haben diese Kompetenzen oft, nehmen
sie aber nicht als Teil ihrer eigenen Medienkompetenz
wahr und unterschätzen sich so ständig selbst. Sie
wissen beispielsweise vielleicht nicht, was es alles
braucht, um einen YouTube-Clip professionell ausse-
hen zu lassen, aber sie nehmen Nachrichten kritisch
auf und hinterfragen die Informationen und deren
Quellen. Auch haben sie oft ein gutes Gespür für ei-
nen massvollen Medienumgang, und sie können ein-
schätzen, wann es sich dabei nicht mehr nur um einen
Abbildung 2: Mediennutzungsdauer von Schweizer Kindern nach Angabe von 610 Eltern; Mittelwerte und 95%-Konfidenzintervalle (1)
Genuss handelt – zum Beispiel wenn eine gute Balance zwischen online und offline nicht mehr gegeben ist. Sie können Kindern und Jugendlichen auch
Anregungen für einen kreativen Medienumgang ge-
Schweizer Jugendliche haben mit zunehmendem Alter ben, indem sie beispielsweise zusammen mit ihnen ein
im Durchschnitt ein weniger problematisches Onlinever- Ferienvideo drehen, schneiden und bearbeiten. Und sie
halten (7). Risikobehaftetes Verhalten konnte bei Ju- wissen, wie wichtig es ist, über rezipierte Medieninhalte
gendlichen vor allem bei der Handy- und Tabletnutzung nachzudenken und mit anderen zu reden, um sie für sich
festgestellt werden, also bei mobilen Geräten, was die selbst einordnen zu können. So ist die Medienkompe-
elterliche Kontrolle der Nutzung erschwert. Vor allem bei tenz ein bunter Blumenstrauss, der nicht nur aus
audiovisuellen Inhalten wie Games und Videoclips sollte «Wischkompetenz» bei Tablets und Smartphones be-
man achtsam sein. Wenn das Handy viele Alltagsgegen- steht (Abbildung 3) (9).
stände wie den Wecker oder die Uhr ersetzt, ist Vorsicht
geboten, denn der regelmässige Blick auf das Gerät ver- Regeln vereinbaren –
führt auch dazu, es dann gleich noch für andere Dinge mit Konsequenzen bei Nichteinhaltung
zu nutzen. Dem könnte mit einem analogen Wecker Altersempfehlungen wie die oben genannten können als
oder einer Armbanduhr vorgebeugt werden.
Leitplanken für die Medienerziehung dienen. Wichtig ist
Bei Onlinesucht wird bezüglich der Prävalenz oft kein aber, dass sich Eltern bewusst damit auseinandersetzen
Geschlechtsunterschied festgestellt, aber bezüglich der und, falls sie gemeinsam eines oder mehrere Kinder er-
Inhalte: Männliche Jugendliche zeigen ein süchtiges Ver- ziehen, auch darüber sprechen und möglichst an einem
halten eher bei Games, weibliche Jugendliche bei sozia- Strang ziehen. Dabei helfen klare Regeln oder Abma-
len und Kommunikationsmedien (8).
chungen, für die es online gute Anregungen gibt (10)
(Kasten «Hilfreiche Links»). Diese sind allerdings nur
Was können die Eltern tun?
dann etwas wert, wenn sie auch eingehalten werden.
Das Ziel einer erfolgreichen Medienerziehung ist es, die Natürlich kennt jede Regel auch Ausnahmen, aber ein
Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen zu Kind muss wissen, dass es diese Regel gibt. Regeln sind
fördern. Medienkompetenz wird oft mit der technischen sinnlos, wenn die Eltern sowieso nie reagieren, wenn das
Fähigkeit gleichgesetzt, die aber nur einen kleinen Teil Kind die Regeln bricht.
davon ausmacht. Wenn ein dreijähriges Kind bereits in Darum sollten nicht nur Regeln abgemacht werden, son-
der Lage ist, Videos auf dem Smartphone abzuspielen dern auch Konsequenzen, falls diese nicht eingehalten
werden. Je mehr sich die Eltern für die Medienwelt und
die medialen Vorlieben der Kinder interessieren, desto
Tabelle 2:
Empfehlungen der Akademie amerikanischer Kinderärzte (6)
einfacher ist es, solche Regeln zu vereinbaren. Die Kinder werden die Regeln umso besser befolgen, wenn sie dabei mitreden konnten und in ihren Bedürfnissen ernst
unter 18 Monate keine Bildschirmmedien ausser Videochats
genommen werden, was jedoch keineswegs heisst, dass
18 bis 24 Monate Wenn überhaupt, nur qualitativ hochstehende Inhalte (z.B. «Sesamstrasse»)
die Kinder letztlich bestimmen, wo es langgeht. Wenn
und nur in Begleitung, um die Kinder darin zu unterstützen, zu verstehen, was aber zum Beispiel die Regel aufgestellt wird, dass ein
2 bis 5 Jahre ab 6 Jahre
sie sehen. Maximal 1 Stunde Bildschirmzeit pro Tag, nur qualitativ hochstehende Inhalte (z.B. «Sesamstrasse») und nur in Begleitung, um die Kinder darin zu unterstützen, das Gesehene in die eigene Lebenswelt einordnen zu können. Grenzen setzen bei der Nutzungsdauer und der Art der Mediennutzung. Gute Balance zwischen Mediennutzung, Schlaf und körperlicher Aktivität einhalten. Festlegung medienfreier Zeiten und Orte, wie zum Bespiel während des Nachtessens oder im Schlafzimmer. Regelmässige Gespräche über Onlinesicherheit und respektvollen Umgang (online und offline).
Kind genau 1 Stunde Bildschirmzeit pro Tag haben darf, es aber gerne eine Sendung schauen würde, die 70 Minuten dauert, ist die Auseinandersetzung vorprogrammiert. Noch schwieriger kann es bei Games werden. So ist es bei vielen Games nicht eindeutig, wie lange sie dauern, oder es ist nur nach bestimmten erledigten Aufgaben möglich, den Spielstand zu sichern. Solche Dinge sollten beim Aufstellen der Regeln berücksichtigt werden. Interessiert man sich für die Lieblingsmedien der
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Kinder, hilft das auch der Beziehung zu ihnen, denn es zeigt, dass sich die Eltern auch für das Kind und seine Lebenswelt interessieren.
Blaues Licht und Pausen für Geräte und Menschen
Bildschirme haben dieselbe Lichtbeschaffenheit wie Tageslicht, das heisst, sie haben einen hohen Anteil an blauem Licht. Dies kann zu Störungen im zirkadianen Rhythmus führen, da das erst 1998 entdeckte Fotopigment Melanopsin in den retinalen Ganglienzellen sehr sensibel auf blau-grüne Frequenzen reagiert (11). Werden also abends Bildschirmmedien genutzt, kann es zu Einschlafverzögerungen kommen. Aus diesem Grund wird empfohlen, eine Stunde vor der Einschlafzeit keine Bildschirmmedien zu nutzen und Smartphones und Tablets in der Nacht ausserhalb des Schlafzimmers aufzubewahren. Im Sinne der Vorbildfunktion könnten dies auch die Eltern tun, sodass die ganze Familie abends ihre Geräte in eine Familienladestation legt. Genauso wie die Geräte eine Pause brauchen, um wieder neue Energie zu tanken, ist das auch für die Menschen nötig. Ab und zu kann auch ein halber oder ganzer Tag am Wochenende offline verbracht werden. Hierbei empfiehlt sich, vorab zu planen, was man in dieser Zeit tun wird. Dadurch verringert sich das Risiko, dass man doch gewohnheitsbedingt zum Gerät greift.
Abbildung 3: Medienkompetenz umfasst viele Komponenten (9)
Ampelsystem
Da es sehr viele Bereiche der Mediennutzung gibt, die Kindern und Jugendlichen Spass machen, lehrreich sind und helfen, den Alltag zu bewältigen, lohnt es sich, diese differenziert zu betrachten. Das Ampelsystem kann hier als Raster dienen (12). Dazu malt man zunächst die drei Kreise einer Verkehrsampel auf, in Rot, Gelb und Grün. Dann kann diskutiert werden: Welche Bereiche der Mediennutzung sind verboten? Diese werden bei Rot aufgelistet. Welche Onlineaktivitäten sind zwar in Ordnung, aber nur bis zu einem gewissen Grad? Diese werden der gelben Ampel zugeordnet. Und was darf man ohne Grenzen nutzen, beziehungsweise womit kann ein Kind auch ohne Regeln problemlos umgehen? Diese Tätigkeiten erhalten grünes Licht.
Selbstwirksamkeit erfahren
Insbesondere Games und soziale Medien funktionieren auch deshalb so gut, weil die Nutzer dabei eine hohe Selbstwirksamkeit erleben. Spielt man gut, wird man mit einem Levelaufstieg, Punkten oder Gegenständen belohnt. Postet man ein schönes Foto, für das man sich Mühe gegeben hat, bekommt man Likes und nette Kommentare. Dies geschieht oft mit einer sehr kurzen Latenzzeit. Ganz im Gegensatz zu anderen Lebensbereichen wie zum Beispiel in der Schule. Hat man sich auf eine Prüfung vorbereitet und diese absolviert, muss man tagelang warten, bis man die Note erhält – und am Ende entspricht diese vielleicht nicht einmal dem Aufwand, den man dafür betrieben hat. In nicht medialen Lebensbereichen lässt eine Belohnung oft wesentlich länger auf sich warten als in in der Welt der Games und der sozialen Netzwerke. Deshalb ist die Förderung von Erfolgserlebnissen und Selbstwirksamkeit in nicht medialen Lebensbereichen eine gute Präventionsmassnahme, um
Abbildung 4: Beispiel der Medienbiografie eines Erwachsenen als Zeitstrahl (13)
problematischer Mediennutzung vorzubeugen. Beispiele hierfür sind Erfolge im Sport oder anderen Hobbys, aber auch im Familienleben, etwa wenn die Kinder etwas backen oder kochen und die anderen das gerne essen.
Balance und Zeitmanagement
Je älter Jugendliche werden, desto einfacher ist es, anstelle von Medienzeiten medienfreie Zeiten zu definieren. Eine weitere Möglichkeit ist, auf die Balance zwischen Online- und Offlineaktivitäten zu achten. Wenn
Tabelle 3:
Beispiele für Fragen an Kinder und Jugendliche rund um ihre Mediennutzung
● Wie sieht deine Mediennutzung im Allgemeinen aus? Was? Warum? Wie oft? Wie lange? ● Warum magst du dieses Game so sehr? Warum ist dir deine Präsenz auf Instagram so wichtig? ● Was kannst du gut dort? Worauf bist du stolz? ● Gibt es daheim Regeln für die Mediennutzung? Wie sehen die aus? Was ist, wenn du es nicht
schaffst, dich daran zu halten? ● Hattest du in der Schule, daheim oder mit Freunden schon Probleme wegen deiner Mediennut-
zung? ● Was machst du so, wenn du nicht online bist?
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neben den Stunden mit der Spielkonsole oder dem Handy auch Hobbys, Freundschaften, Familienleben und die Schule Platz haben, gelingt es einem Teenager vielleicht schon selbst ganz gut, mit seiner oder ihrer Zeit sinnvoll umzugehen. Gespräche darüber, was wann Priorität hat, können dem Jugendlichen helfen zu lernen, diese Prioritäten richtig zu setzen. Vielleicht hilft es hier, ein kleines Experiment zum Setzen von Prioriäten durchzuführen, dies mit Sinnbildern für verschiedene Aufgaben im Leben. Alles was man dazu braucht, sind ein Wasserglas sowie grosse und kleine Steine: Wie es funktioniert, zeigt ein YouTube-Clip (www.youtube.com/watch?v=-YrMoCxBjDg).
Stimmung in der Familie mit Spielen positiv beeinflussen
Viele Eltern können bestätigen, dass Gespräche rund um die Mediennutzung mühsam sind und oft mit schlechter Stimmung in der Familie in Zusammenhang gebracht werden. Dies führt zu einem Teufelskreis, dem man mit einigen spielerischen Massnahmen entkommen kann. Dabei geht es darum, dass für einmal nicht über Medienzeiten und -inhalte gestritten wird, sondern darüber gesprochen und reflektiert wird, was man gerne mit Medien macht oder früher gemacht hat und warum. Eltern werden so dazu motiviert, an die eigene Kindheit zurückzudenken, und können so vielleicht eher verstehen, was die Faszination der Medien ausmacht. Und die Kinder lernen etwas über ihre Eltern, was sie bis anhin vielleicht nicht wussten. Eines von vielen Beispielen (13, 14) eines solchen Spiels ist der Zeitstrahl (Abbildung 4), welcher die eigene Medienbiografie abbildet.
Fazit
● Digitale Medien sind im Leben von Kindern und Jugendlichen allgegenwärtig, und Eltern und Fachpersonen kommen nicht darum herum, die Risiken wahrzunehmen, aber eben auch die Chancen zu erkennen und zu nutzen.
● Games sind nicht immer nur ein Zeitvertreib aus Langeweile, sondern sie können taktisches Vorgehen und räumliches Vorstellungsvermögen schulen.
Hilfreiche Links
www.jugendundmedien.ch Plattform Jugend und Medien mit diversen Informationen und Unterlagen
www.bupp.at Positivliste von Computerspielen: Was kann man mit welchen Games lernen?
www.mediennutzungsvertrag.de Vorlage für einen Mediennutzungsvertrag mit vielen hilfreichen Informationen
www.ulladieeule.ch Medienkompetenzförderung mit Bilderbüchern für die ganz kleinen Kinder
● Auf Instagram werden nicht nur Beleidigungen ausgesprochen und unendlich Selfies gepostet, sondern es bietet sich dort auch ein unglaublicher Fundus an Kreativität.
● Solange die Mediennutzung den Jugendlichen nicht den Schlaf und die Gesundheit raubt und sie ihren Verpflichtungen in der Schule und der Familie trotzdem nachkommen, besteht kaum Grund zur Sorge. In der Praxis geht es oft darum, besorgte Eltern in ihrer Medienerziehung zu bestärken und allenfalls kleine Anpassungen anzuregen.
● Ein Augenmerk sollte man eher auf die Familien richten, in denen Medienerziehung überhaupt kein Thema ist und Kinder und Jugendliche mit der digitalen Welt allein gelassen werden.
Korrespondenzadresse:
lic. phil. Isabel Willemse
Fachgruppe Medienpsychologie
Psychologisches Institut
ZHAW Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften
Pfingstweidstrasse 96
8037 Zürich
E-Mail: isabel.willemse@zhaw.ch
Interessenlage: Die Autorin erklärt, dass keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag bestehen.
Literatur: 1. Genner S et al.: MIKE – Medien, Interaktion, Kinder, Eltern: Ergebnisbericht zur Studie 2017. Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, 2017; www.zhaw.ch/ psychologie/mike 2. Waller G et al.: JAMES-Studie 2016 – Jugend, Aktivitäten, Medien – Erhebung Schweiz. Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Ergebnisbericht 2016; www.zhaw.ch/psychologie/james 3. Willemse I et al.: JAMES – Jugend, Aktivitäten, Medien – Erhebung Schweiz. Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Ergebnisbericht 2014; www.zhaw.ch/ psychologie/james 4. Tisseron S: Apprivoiser les écrans et grandir, 3-6-9-12. www.3-6-9-12.org 5. Genner S et al.: Medienkompetenz – Tipps zum sicheren Umgang mit digitalen Medien. Jugend und Medien, Nationale Plattform zur Förderung von Medienkompetenzen, Bundesamt für Sozialversicherungen und Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) 2013. 6. Auflage 2016; www.jugendundmedien.ch 6. AAP council on communications and media: Media and young minds. Pediatrics 2016; 138(5): e20162591 7. Willemse I et al.: JAMESfocus. Onlineverhalten: unproblematisch – risikohaft – problematisch. Zürich: Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. JAMESfocus Bericht 2017; www.zhaw.ch/psychologie/jamesfocus 8. Marmet S et al.: Suchtmonitoring Schweiz – Themenheft Internetnutzung und problematische Internetnutzung in der Schweiz im Jahr 2015. Sucht Schweiz, 2015. http://www.suchtmonitoring.ch/docs/library/marmet_mz1vxtjaun6v.pdf 9. Suter L et al.: JAMESfocus. Medienkurse und Medienkompetenz. Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, JAMESfocus Bericht 2015; www.zhaw.ch/psychologie/jamesfocus 10. Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen (LfM): Mediennutzungsvertrag. www.mediennutzungsvertrag.de/ 11. https://justgetflux.com/research.html 12. Feindel H: Onlinesüchtig? Ein Ratgeber für Betroffene und Angehörige. Ostfildern: Patmos Verlag 2015; www.patmos.de/onlinesuechtig-p-8579.html 13. Willemse I: Onlinesucht – Ein Ratgeber für Eltern, Betroffene und ihr Umfeld. Bern: Hogrefe-Verlag 2016 14. Fachverband Medienabhängigkeit e.V.: Let’s play. Methoden zur Prävention von Medienabhängigkeit. Pabst Science Publishers 2013; www.fv-medienabhaengigkeit.de/ publikationen.html
www.zhaw.ch/psychologie/mike, www.zhaw.ch/psychologie/james Studien zum Mediennutzungsverhalten von Kindern (MIKE) und Jugendlichen (JAMES)
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