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Allergie
Etagenwechsel, Prognose und «echtes» Asthma
Antworten auf drei wichtige allergologische Fragen aus der Praxis
Allergien haben in den letzten Jahren stark zugenommen. Bei Kindern und Jugendlichen gehören sie zu den häufigsten Gesundheitsproblemen. Lässt sich einem Etagenwechsel wirklich vorbeugen? Wachsen sich Allergien aus? Und wird Asthma zu häufig diagnostiziert? Diese Fragen niedergelassener Kinderärzte beantwortet Dr. med. Jens Gierich, Facharzt für Kinderund Jugendmedizin, Allergologie und Kinderpneumologie.
F rage 1: Etagenwechsel von der Haut zur Schleimhaut? Kann, wie immer wieder behauptet wird, eine frühzeitige und intensive Behandlung einem Eta-
genwechsel, dem Wechsel von Hautsymptomen auf
Schleimhaut bis hin zum Asthma, vorbeugen? Das
scheint nicht schlüssig, weil man in der Regel ohnehin –
sei es mit Antihistaminika oder inhalativen Steroiden –
nur symptomatisch behandeln kann.
Dr. med. Jens Gierich: Der Begriff «Etagenwechsel» be-
zeichnet klassischerweise den Übergang von einer aller-
gischen Rhinokonjunktivitis (z.B. durch
Ein Etagenwechsel kann beim atopischen Kind auch von der Haut zum Respirationstrakt erfolgen.
Pollen oder Milben) zu einem Bronchialasthma. Dieser findet sich bei Kindern mit allergischer Rhinitis in zirka 20 Prozent der Fälle. Ein Symptomwechsel kann beim atopischen Kind aber auch von der Haut (bei atopischer Dermatitis) zum Respirati-
onstrakt erfolgen.
Aktuelle Studien konnten nun nachweisen, dass die bei
der atopischen Dermatitis häufig vorhandene Störung
der Hautbarrierefunktion einen Risikofaktor für die frühe
Entwicklung von Sensibilisierungen gegen Nahrungsmit-
telallergene (z.B. Erdnuss-, Soja-, Kuhmilch- oder Wei-
zenproteine), aber auch Aeroallergene (z.B. Pollen, Mil-
ben, Tierhaare) darstellt (1, 2).
Nahrungsmittelallergene, zum Beispiel Erdnussproteine,
sind ubiquitär vorhanden, unter anderem auch im Bett-
und Hausstaub. Insbesondere Kinder mit Mutationen im
Filaggrin-Gen und schwerer atopischer Dermatitis haben
ein bis zu 6-fach erhöhtes Risiko, sich über die Haut gegen
solche Allergene in ihrer Umgebung zu sensibilisieren.
Eine frühe Basispflege bei Kindern mit atopischer
Dermatitis ist also keineswegs nur symptomatische The-
rapie, sie dient auch der Prävention allergischer Folgeer-
krankungen.
Ob dies auch für eine frühe antiinflammatorische
Asthmatherapie gilt, ist nicht belegt. Mehrere doppel-
blind und plazebokontrolliert durchgeführte Langzeit-
studien konnten bislang keine langfristigen «Disease-
modifying»-Effekte für inhalative Steroide bei Asthma nachweisen (4). Gut belegt hingegen ist, dass eine spezifische Immuntherapie (SIT) neben primären, allergenspezifischen Effekten das Potenzial hat, den Langzeitverlauf von Allergien und Asthma positiv zu beeinflussen: Die Preventive Allergy Treatment Study (PAT-Studie) konnte zum Beispiel für Birken- und Gräserpollenallergiker zeigen, dass eine SIT das spätere Asthmarisiko auch im Followup über zehn Jahre signifikant reduzieren kann. Auch die Rate von Neusensibilisierungen kann durch eine SIT – zumindest bei Patienten mit Mono- oder Oligosensibilisierung – reduziert werden (5).
Frage 2: Können sich Allergien «auswachsen»? Gibt es hinreichende Daten zum Langzeitverlauf und Wandel von Allergien, insbesondere dazu, inwieweit sich Allergien «auswachsen»? Die frühen kindlichen Nahrungsmittelallergien verschwinden in aller Regel spontan, und auch so manches «Asthma» verschwindet in der Pubertät. Gierich: Die Prognose für den natürlichen Krankheitsverlauf bei kindlichen Allergien ist von sehr vielen unterschiedlichen Faktoren abhängig, unter anderem vom Allergen selbst, von der Exposition gegenüber diesem, der Immunantwort sowie der individuellen genetischen (atopischen) Disposition: Bei den frühen Nahrungsmittelallergien findet sich in der Tat häufig eine Toleranzentwicklung. So werden beispielsweise zirka 50 Prozent der Kinder mit IgE-vermittelter Kuhmilchallergie innerhalb eines Jahres, bis zu 70 Prozent im Alter von zwei Jahren und 85 Prozent im Alter von drei Jahren tolerant (3, 6). Ähnliches gilt auch für Hühnereiallergiker (allerdings nur für solche, die nicht hochgradig gegen das Majorallergen Ovomucoid sensibilisiert sind). Bei der Erdnussallergie entwickelt hingegen nur jeder Fünfte innerhalb von drei Jahren eine Toleranz. Auch Allergien gegen andere Nahrungsmittelproteine wie Fisch oder Baumnüsse persistieren oft lebenslang.
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Allergie
Die atopische Dermatitis manifestiert sich bei 60 bis
90 Prozent der Patienten vor dem 7. Lebensjahr, wobei
atopisch veranlagte Säuglinge mit schwerer atopischer
Dermatitits und frühen Sensibilisierungen zu mehr als
75 Prozent später allergische respiratorische Erkrankun-
gen (meist auch ein Asthma) entwickeln. Die atopische
Dermatitis hat hohe Remissionsraten nach dem 8. Le-
bensjahr – allerdings persistiert sie bei betroffenen Ado-
leszenten in zwei Drittel der Fälle bis ins Erwachsenen-
alter (6).
Eine allergische Rhinitis entwickelt sich meist erst nach
dem 2. bis 3. Lebensjahr: Die Prävalenzrate steigt mit
Die Prognose für den Verlauf kindlicher Allergien ist je nach Allergen und individuellen Faktoren sehr unterschiedlich.
jedem Lebensjahr um zirka 15 Prozent an. Je nach Kollektiv können bis zu 40 Prozent aller Kinder im Grundschulalter betroffen sein. Bei Erwachsenen liegen die Remissionsraten in Langzeitstudien bei über 20 Prozent (6). Ein Asthma wird zu 80 Prozent vor dem 6.
Lebensjahr klinisch symptomatisch. Bereits
5 Prozent aller Säuglinge zeigen mindestens einmal eine
obstruktive Symptomatik. Die Mehrzahl der Kinder mit
Symptomen einer Bronchialobstruktion haben diese
jedoch nur vorübergehend infolge (meist viraler) Atem-
wegsinfektionen und anatomisch kleiner enger Atemwege
und kein erhöhtes Risiko, später ein Asthma zu entwi-
ckeln. Bei 3 von 4 transienten «Asthmatikern» wächst sich
dieses also bis zum Schulalter tatsächlich aus (4).
Neben dieser Gruppe der «intermittent wheezers» (im
deutschen Sprachgebrauch: obstruktive Bronchitiden)
gibt es das «echte» frühe Asthma, das sich unterteilen
lässt in das IgE-vermittelte, allergische Asthma mit Be-
ginn in der 1. und 2. Lebensdekade und das sogenannte
intrinsische Asthma, das in jedem Alter beginnen kann.
Das Risiko, ein persistierendes Asthma zu entwickeln,
steigt dabei mit der genetischen Disposition, dem
klinischen Schweregrad, der Ausprägung
Unter dem Begriff
früher allergischer Sensibilisierungen und
Asthma werden unter- eines Ekzems sowie mit frühen bezie-
schiedliche Entitäten
hungsweise schweren respiratorischen
subsumiert.
Virusinfektionen und Tabakrauchexposi-
tion an. Kinder mit einem solchen Risiko-
profil sollten möglichst frühzeitig detek-
tiert und einer adäquaten Behandlung zugeführt
werden.
In dieser Subgruppe ist das Risiko, ein persistierendes
Asthma zu entwickeln, hoch: In der Melbourne Asthma
Study, die Kinder vom 7. bis zum 42. Lebensjahr nach-
verfolgte, hatten 20 Prozent der Patienten, die im Alter
von sieben Jahren ein Asthma hatten, dieses im Alter von
42 Jahren immer noch; bei Patienten, die im Alter von
zehn Jahren ein schweres Asthma aufwiesen, waren es
sogar 50 Prozent (4, 6). Es gibt daneben natürlich auch
intermittierende Verläufe mit variablen (symptomfreien
bzw. symptomatischen) Intervallen, deren Verlauf von
den bereits genannten Risikofaktoren (z.B. Allergenex-
position) abhängt.
Frage 3: Wird Asthma überdiagnostiziert? Wird nicht bei Kindern «Asthma» erheblich überdiagnostiziert, indem jedes Kind mit obstruktiver Bronchitis («Infektasthma») und jeder «happy wheezer» zum Asthmatiker erklärt wird?
Gierich: «Asthma» ist ein komplexes, in seiner Pathogenese sehr heterogenes Syndrom. Unter dem Begriff Asthma wurden und werden bis heute ganz unterschiedliche Entitäten subsumiert. Die Konzepte dazu sind im Fluss, und bezüglich diagnostischer Kriterien besteht keineswegs ein verbindlicher Konsens. Insbesondere die (früh-)kindliche Bronchialobstruktion folgt sehr unterschiedlichen zeitlichen und kausalen Mustern. Eine akkurate Zuordnung zu einem definierten «Endophänotyp» ist im Vorschulalter schwierig – manchmal auch schlicht nicht möglich. Dies kann (wie in der Frage angesprochen) im Einzelfall auch zu einer fehlerhaften Klassifikation einer obstruktiven Symptomatik als Asthma führen. Wird diese dann bis zum Erwachsenenalter nicht mehr überprüft beziehungsweise revidiert, kann das auch falsch hohe Prävalenzdaten nach sich ziehen. Dass jeder «happy wheezer» zum Asthmatiker erklärt wird, trifft sicherlich nicht zu. Die alltägliche Erfahrung zeigt vielmehr, dass wir Pädiater uns mit der frühen Detektion des «echten» Asthmas im Vorschulalter eher noch zu schwer tun. Die klinische Unterscheidung zwischen einem Asthma und anderen respiratorischen Störungen ist (und bleibt auch zukünftig) eine ärztliche Herausforderung. Die Diagnose impliziert immer auch deren regelmässige und kritische Überprüfung im Verlauf. Dazu gehören unter anderem altersadäquate Überprüfungen der Lungenfunktion, sinnvolle Allergietestungen und eine regelmässige Evaluation, gegebenenfalls auch Reduktion der Medikation. Dies gilt für den giemenden Säugling genauso wie für das hustende Kleinkind oder den jugendlichen/erwachsenen Asthmatiker.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Jens Gierich Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Allergologie, Kinder-Pneumologie Fachbereich Kinder- und Jugendmedizin DKD Helios Klinik Aukammallee 33 D-65191 Wiesbaden E-Mail: jens.gierich@helios-kliniken.de
Dieser Beitrag ist eine leicht überarbeitete Version eines Artikels, der zuerst in der Zeitschrift «Kinderärztliche Praxis» 5/2017 erschienen ist. Die Fragen wurden von niedergelassenen Kinderärzten in Deutschland an die Redaktion der Zeitschrift «Kinderärztliche Praxis» gestellt. Der Abdruck erfolgte mit freundlicher Genehmigung durch Autor und Verlag.
Literatur: 1. Heratizadeh A, Werfel T: Prävention der atopischen Dermatitis. Monatsschr Kinderheilkd 2015; 163: 1005–1011. 2. Heratizadeh A, Werfel T: Allergieprävention aus dermatologischer Sicht. Allergologie 2015; 38: 397–404. 3. Beyer K, Niggemann B: IgE-vemittelte Nahrungsmittelallergien im Kindesalter. Monatsschr Kinderheilkd 2017; 165: 108–116. 4. Bisgaard H, Bønnelykke K: Long-term studies of the natural history of asthma in childhood. J All Clin Immunol 2010; 126: 187–197. 5. Pfaar O et al.: (2014) Leitlinie zur (allergen-)spezifischen Immuntherapie bei IgE-vermittelten allergischen Erkrankungen. Allergo J Int 2014; 23: 282. 6. Leung D, Sampson H: Pediatric Allergy. Mosby, 2003.
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