Transkript
Schwerpunkt
Praxisfragen und -antworten
Häufige Sorgen und Ängste der Eltern im ersten Lebensjahr ihres Kindes
Gerade im ersten Lebensjahr ihres Kindes haben Eltern viele Fragen, Ängste und Sorgen. Wir sprachen mit einem Kinderarzt, einer Kinderärztin und der Leiterin einer Beratungsstelle für Mütter und Väter darüber, welche Elternfragen in der Praxis am häufigsten sind und wie sie auf diese Fragen und Sorgen reagieren. Dass junge Eltern zu wenig Ahnung im Umgang mit Kindern hätten als früher, ist übrigens gar keine neue Sorge …
«Früher lief mehr über das Gefühl und die Familie»
Herr Dr. Rupp, welche Sorgen und Ängste der El-
tern sind nach Ihrer Erfahrung im ersten Lebensjahr
des Kindes besonders häufig?
Dr. med. Stephan Rupp: Es geht oft um das Essen, die
Verdauung, das Stillen – also alles, was mit der Ernährung
des Kindes zu tun hat. Das zweite grosse Thema ist der
Schlaf: Schläft das Kind durch? Wird es häufig wach?
Möchte es in der Nacht trinken? Und das dritte Haupt-
Dr. med. Stephan Rupp,
thema ist die Entwicklung des Kindes im Allgemeinen.
FMH Kinder- und Jugend-
medizin, Einsiedeln
Sind die Eltern heute ängstlicher als früher?
Rupp: Ich glaube, sie sind anders als früher. Früher lief
sehr viel über das Gefühl und die Familie, die Erfahrung
der Grossmütter und Tanten spielte eine grosse Rolle.
Heute leben viele Familien nicht mehr nah beieinander,
«Die Eltern denken mehr
über ihr Handeln nach
und hinterfragen sich.»
und die Eltern sind mit dem Kind sozusagen allein. Es läuft sehr viel mehr über den Intellekt: Die Eltern denken mehr über ihr Handeln nach und hin-
terfragen sich – früher haben sie mehr
gespürt, zum Beispiel, ob das Kind trinken will oder
nicht, und einfach intuitiv gehandelt. Das ist heute bei
vielen Eltern leider verloren gegangen.
Was wäre für Sie ein wichtiges Alarmzeichen im ersten Lebensjahr? Rupp: Man muss sich überlegen, welche Sorgen die Eltern tatsächlich haben und was sie wirklich meinen. Manchmal sehe ich das fragliche Phänomen während der Konsultation in der Praxis nicht, manchmal kommen auf Nachfrage Dinge ans Licht, die ich sonst niemals bemerken würde. Am wichtigsten ist, die Eltern mit ihren Sorgen anzuhören und dann herauszufiltern, ob das für das Kind wesentlich ist.
Geht es also primär darum, die Eltern zu beruhigen? Rupp: Nein, so ist das nicht gemeint. Aber ich glaube,
man gewinnt sehr viel, wenn man den Eltern zuhört und nicht von vornherein das Gefühl hat, dass man sie beruhigen müsse. Wenn die Eltern eine Sorge vorbringen, muss ich diese so lange ernst nehmen, bis ich weiss, was dahintersteckt. Da geht es nicht primär um objektive Parameter wie Gewicht oder Kopfumfang, sondern es ist wichtig, dass man das subjektive Gefühl der Eltern zuerst analysiert und dann entscheidet, ob das medizinisch relevant ist oder ob ich sie beruhigen kann. In der Tat bin ich in meiner Praxis schon in einigen Fällen nur durch Zuhören auf die Idee gekommen, dass da etwas faul sein könnte.
Was tun Sie, wenn Eltern mit dem Baby nicht zu den üblichen Untersuchungsterminen in Ihre Praxis kommen? Rupp: Das kommt auf die konkrete Situation an. Die Eltern müssen selber entscheiden, was sie wollen und was nicht. Wenn sie nicht zu den Vorsorgeuntersuchungen erscheinen und sich nicht mehr melden, überlege ich mir immer, was der Grund dafür sein könnte. Es kommt zum Beispiel gar nicht so selten vor, dass sie am Anfang kommen, aber den Zweimonatstermin versäumen. Dann rufen wir die Eltern an und fragen nach. Und auch ohne dass sie es zunächst zugeben wollen, wird oft relativ schnell klar, dass sie Angst vor dem Impfen haben und darum nicht kommen wollen.
Und wie reagieren Sie dann? Rupp: Ich habe mir lange überlegt, wie ich reagieren soll, wenn die Eltern das Kind nicht impfen lassen wollen. Es gibt verschiedene Ansichten unter meinen ärztlichen Kolleginnen und Kollegen, aber ich kann doch ein Kind, das die Eltern nicht impfen lassen wollen, nicht deswegen von der übrigen medizinischen Versorgung ausschliessen! Auch diese Kinder als Patienten betreuen zu können, ist wichtig, um eine Vertrauensbasis aufzu-
4 Pädiatrie 2/18
Schwerpunkt
bauen, damit die Eltern trotzdem kommen, wenn etwas mit dem Kind nicht in Ordnung ist.
Was ist in den letzten Jahren eher häufiger, was eher seltener geworden im ersten Lebensjahr? Rupp: Durch das Internet und den leichten Zugang zu Informationen haben sich einige Dinge verändert. Die Eltern haben auch klare Erwartungen an den Arzt, was in einer bestimmten Situation zu tun sei. Leider beziehen sich die Eltern zum Teil auf Argumente, deren Relevanz sie im Gesamtkontext gar nicht bewerten können. Die Informationsflut macht unsere Arbeit schwieriger, und wir müssen aufmerksam sein. Das Internet ist gut und recht, aber man muss die Informationen auch bewerten können. Man muss wissen, welche Quellen relevant sind und welche nicht. Das ist für die Eltern mitunter sehr schwierig, und sie stossen auf Seiten, die sie völlig durcheinanderbringen. Gerade neulich habe ich so eine Geschichte erlebt bei einem Kind mit einem Entwicklungsrückstand, dessen Eltern felsenfest glaubten, dass daran Handystrahlen schuld seien.
Wissen Sie Rat, wie man dann argumentieren kann? Rupp: Ich denke, dass man am besten zunächst einmal zuhört und herauszufinden versucht, was die Eltern genau meinen. Ein Vater hat mir beispielsweise einmal hundert Seiten ausgedruckt mitgebracht – die habe ich dann halt durchgelesen und geschaut, was da steht. Aber am wichtigsten ist es, das eigentliche Problem zu identifizieren. Die Eltern sind nicht immer ganz offen
und geben nicht unbedingt zu, dass sie dieses oder jenes im Internet gelesen haben. Ich kann aber erst adäquat reagieren, wenn ich weiss, was die Eltern genau meinen und auf Basis welcher Informationen sie argumentieren. Zum Beispiel haben mich einmal Eltern zum Thema Schlaf befragt, und erst durch Nachfragen kam heraus, dass sie ihrem Kind so ein Torticolliskissen gekauft hatten, weil der Schiefhals doch das Risiko für den plötzlichen Kindstod erhöht – dabei war das Kind völlig gesund und hatte gar keine Schiefhaltung.
Welcher Aspekt ist Ihnen im Zusammenhang mit
dem ersten Lebensjahr noch wichtig?
Rupp: Es gibt mehr ältere Erstgebärende als früher, und
diese älteren Mütter haben häufig weniger Kinder. Das
führt auch dazu, dass das Kind in der Familie eine ganz andere Bedeutung hat als früher. Es wird zum «Projekt» und man investiert alle Ressourcen in dieses eine Kind. Entsprechend erhöhen sich auch
«Die Eltern haben
klare Erwartungen
an das Kind.»
die Ansprüche an das Kind und daran, was es ein-
mal erreichen soll. Auch gibt es heute viel mehr Familien
mit IVF-Kindern und mehr Zwillinge. Auch das hat einen
Einfluss auf die Familienstruktur.
Ein weiterer wichtiger Aspekt sind vermehrt transkultu-
relle Familien beziehungsweise neue Kommunikations-
bedürfnisse bei Familien, die einen anderen kulturellen
Hintergrund und ein ganz anderes Verständnis von
Medizin haben, als wir das früher kannten. Da ist es für
uns mitunter noch schwieriger zu verstehen, worum es
bei den Sorgen und Fragen in der Praxis eigentlich geht.
«Die Bedeutung der psychosozialen Fragen hat sich geändert»
Frau Plattner, mit welchen Sorgen und Ängsten kommen die meisten Eltern im ersten Lebensjahr des Kindes in Ihre Beratungsstelle? Rosa Plattner: Eine Frage, die immer gestellt wird, ist die Angst vor dem Verwöhnen des Kindes. Es hat mich immer irritiert, dass diese Frage so früh, schon in den ersten Wochen, aufkommt, und ich denke, dass dahinter Kommentare der Verwandtschaft stecken: «Verwöhne ich das Kind, wenn ich es herumtrage? Verwöhne ich es, wenn ich es alle zwei, drei Stunden stille?» Andere Besorgnisse und Bedenken sind: «Fördere ich mein Kind auch genug? Wie könnte ich es sonst noch fördern oder welche Spielsachen würden zusätzlich die Entwicklung des Kindes fördern?» Vielen Eltern ist heute bewusst, welchen negativen oder positiven Einfluss sie auf die Entwicklung ihres Kindes haben können, und so wächst auch die Sorge, zu wenig zu tun und seinem Kind möglicherweise zu schaden. Dann gibt es noch die Angst, dass das Kind nicht genug zu essen bekommt. Das gilt vor allem für Kinder, die gestillt werden: «Ist meine Milch gut genug, habe ich noch genug Milch?» Da braucht es sehr viel Beruhigung und regelmässige Wachstumskontrollen am Anfang, bis sich
die Eltern respektive die Mütter darauf verlassen kön-
nen, dass das Kind sich holt, was es braucht und dass sie
auch genügend Milch haben.
Viele Fragen drehen sich natürlich um alles, was unbe-
kannt ist – und für die meisten Eltern heute ist alles un-
bekannt. Die wenigsten haben vor der Geburt ihres Kin-
des ein anderes Kind auf dem Arm gehabt, geschweige
denn einem Kind zu essen gegeben oder ein Kind getröstet, zum Schlafen gelegt oder es in einem Trotzanfall begleitet. Diese Erfahrungen fehlen heute, und das löst Angst aus: «Das Kind muss doch irgendwie krank sein, sonst würde es nicht so brüllen!» Da ist bei den Eltern
Rosa Plattner, Stellenleiterin Mütter- und Väterberatung und Geschäftsführerin Ostschweizer Verein für das Kind,
wirklich eine Menge Angst im Spiel, eine Krankheit des St. Gallen
Kindes zu verpassen.
Viele Sorgen macht auch die Entwicklung des Kindes: «Ist
es normal, dass mein Kind dieses und jenes noch nicht
macht?» Da werden oft Vergleiche angestellt. Sehr viele
Eltern arbeiten heute mit Apps, die ihnen laufend vermitteln, ihr Kind sollte jetzt dies und das können – aber das eigene Kind kann das eben
«Die Berufstätigkeit beider
Elternteile bereitet vielen
heutzutage Sorgen.»
nicht und in einer Woche auch noch
nicht. Das löst Fragen aus.
2/18 Pädiatrie
5
Schwerpunkt
Weitere Sorgen drehen sich um die Berufstätigkeit bei-
der Elternteile. Wenn ich vor 10, 15 Jahren Mütter ge-
fragt habe, ob sie vorhätten, wieder in den Beruf einzu-
steigen, sagten viele Nein. Oder sie sagten: «Vielleicht
später, nach einem Jahr.» Mit der Zeit wurde diese
Spanne immer kürzer. Heute fällt die Arbeitsaufnahme
ziemlich genau mit dem Ablauf des Mutterschaftsur-
laubs zusammen. Wer es sich leisten kann, hängt viel-
leicht noch 1, 2 Monate dran. Aber nach einem halben
Jahr sind bei einem grossen Teil der
«Es gibt Eltern, die sich
nicht auf die Bedürfnisse
ihres Kindes einlassen
können.»
Familien wieder beide Elternteile berufstätig. Der Zeitraum, den man früher noch hatte, bis Ernährung und Schlaf in Gang kommen, bis man lernt, wie man ein Kind beruhigen
oder beurteilen kann, fällt heute zu-
sammen mit der Frage «Wie mache ich denn das mit
dem Stillen, Abpumpen und Arbeiten?». Es kommen
ganz viele Fragen, die sich nur darum drehen, und na-
türlich um die Angst, es nicht zu schaffen: «Ich komme
nicht mehr zum Schlafen, jetzt habe ich schon mein Kind
angebrüllt, dabei ist es erst drei Monate alt. Wie soll ich
das überhaupt schaffen mit dem Kind?»
Was raten Sie Eltern, damit sie ihr Kind besser fördern? Plattner: Das beginnt ganz banal damit, dass das Kind auf dem Boden spielen können muss. Es muss Kleider anhaben, in denen es sich gut bewegen und sich drehen kann. Heute haben leider viele diese langen Jeanshosen an, die sie in ihrer Bewegungsfreiheit einschränken, oder Kleider, die nicht schmutzig werden dürfen. Auch Spielsachen und Alltagsgegenstände sind wichtig. Manche Mütter beklagen das Durcheinander oder «gruusige» Gegenstände, und dann müssen wir ihnen erklären, dass das «Be-Greifen» eine ganz wichtige Phase ist. Wenn das Kind Freude hat am Greifen, soll es Möglichkeiten bekommen, verschiedene Materialien ergreifen zu können.
Gibt es in Ihrem Beratungsalltag auch Situationen,
in denen bei Ihnen die Alarmglocken läuten?
Plattner: Ja, die gibt es. Dazu gehört eine fehlende
Eltern-Kind-Interaktion. Auch psychische Auffälligkeiten
der Eltern sind ein ganz wichtiger
«Wir haben zwar das
Gefühl, dass mangelnde Erfahrung der Eltern heute häufiger sei, aber in Wahrheit ist das eine
alte Geschichte.»
Punkt. Das kann zum Beispiel eine postnatale Depression sein oder auch Borderline-Störungen. Mütter mit Borderline-Störungen sagen dann Dinge wie «das Kind manipuliert mich die ganze Zeit» – bei einem vielleicht 4 Wochen alten Säugling!
Dann gibt es Eltern, die sich einfach
nicht auf die Bedürfnisse ihres Kindes einlassen können.
Bei uns läuten die Alarmglocken bei unstillbarem Wei-
nen des Kindes, wenn Mütter ihr Baby allein lassen, und
eine eher seltene Ausnahmesituation besteht, wenn die
Eltern lernbehindert sind.
Problematisch kann es auch bei Isolation der Eltern in
einem schwierigen sozialen Umfeld werden. In diesem
Zusammenhang fällt auf, dass ein beträchtlicher Teil der
Eltern in zeitlicher Nähe zur Geburt oder kurz nach der
Geburt umzieht. Vielleicht, weil sie einfach nur ins
Grüne wollen, in eine schönere Umgebung, eine grössere Wohnung, oder aus beruflichen Gründen – jedenfalls hatten sie dann noch keine Zeit, ein soziales Umfeld aufzubauen. Auch in solchen Fällen versuchen wir, möglichst viel Unterstützung zu geben. Und schliesslich treffen wir immer wieder auf sehr desolate Wohnungssituationen, auf Messie-Wohnungen oder kritische Tierhaltung, zum Beispiel, wenn das Kind nicht vor grossen Hunden geschützt ist.
Haben Sie auch Kontakt mit den Kinderärzten, die ratsuchende Familien betreuen? Plattner: Normalerweise geben wir den Eltern den Auftrag, medizinische Fragen mit dem Kinderarzt selber zu besprechen. Wenn wir uns aber Sorgen machen, versuchen wir, von den Eltern das Okay zu bekommen, mit dem jeweiligen Kinderarzt Kontakt aufzunehmen, um mit ihm zu beraten, wie wir die Familie am besten unterstützen können. Umgekehrt gibt es auch Kinderärzte, die uns anrufen, sodass wir wirklich alle an einem Strick ziehen können. Insgesamt haben wir einen sehr guten Kontakt zu den Kinderärztinnen und Kinderärzten.
Ist die Impfdiskussion eigentlich bei Ihnen auch ein Thema? Plattner: Das Impfen ist heute, ganz anders als noch vor ein paar Jahren, viel seltener ein Thema bei uns in der Beratungsstelle. Vermutlich liegt es daran, dass sich ab Juli 2016 eine gesetzliche Grundlage geändert hat. Seitdem betreuen die Hebammen länger. Früher waren es 10 Tage, heute können es 2 bis 3 Monate sein. In unserer Region haben 65 Prozent aller Mütter eine Hebamme, die zu ihnen nach Hause kommt. Wir vermuten, dass die Impfdiskussion jetzt mit den Hebammen läuft und nicht mehr mit uns.
Sie haben erwähnt, dass Eltern heutzutage vor dem ersten Kind häufig überhaupt keine eigene Erfahrung mit Kindern hatten. Gibt es noch andere Dinge, die jetzt häufiger vorkommen als früher? Plattner: Dazu möchte ich zunächst unsere Gründerin, Frau Dr. med. Frida Imboden Kaiser, aus dem Jahr 1945 zitieren: «Es ist leider eine Tatsache, dass heutzutage noch ungezählte Mädchen heiraten, ohne die geringsten Kenntnisse in der Säuglingspflege und -erziehung zu haben. Dieser bedauernswerte Mangel ist in allen Schichten des Volkes vorhanden.» Insofern haben wir zwar das Gefühl, dass das erst heute häufig sei, aber in Wahrheit ist das eine alte Geschichte. Auch brauchen Eltern einen «Fanclub», der sich mit ihnen an der Entwicklung der Kinder freut und sie durch Fragen und Sorgen begleitet, wie es einmal die Psychologin Maria Mögel formulierte. Was sich bei unserer Arbeit wirklich geändert hat, ist die Bedeutung der psychosozialen Fragen. Diese stellten sich früher viel seltener, weil wir belastete Familien viel weniger erreichten. Heute aber spielt oft auch die psychische Gesundheit der Eltern eine Rolle. Familien, die in Armut leben, suchtabhängige Eltern oder die bereits erwähnten Messie-Wohnungen sind in unserem Beratungsalltag heute definitiv häufiger als früher. Die gute Nachricht ist, dass wir durch die heutige Vernetzung der Fachpersonen viel schneller in der Lage sind, mit den
6 Pädiatrie 2/18
Schwerpunkt
Familien auf eine positive Art gemeinsam nach Lösungen zu suchen.
Kommen die Eltern von sich aus zu Ihnen in die Beratung, oder werden sie zu Ihnen geschickt? Plattner: Eigentlich werden alle Mütter auf den Wochenbettstationen darüber informiert, dass wir eine Geburtsmeldung erhalten möchten. Falls die Mutter einverstanden ist, unterschreibt sie diese Karte. Aufgrund der Geburtsmeldung rufen wir dann die Eltern an und erklä-
ren noch einmal, was Mütter-Väter-Beratung ist, wie sie abläuft und wo wir in der Gemeinde oder Region zu finden sind. Auch die Hebammen werden informiert, und auch sie weisen die Eltern auf unser Beratungsangebot hin. Wenn die Hebamme ihre Behandlung abschliesst, sagt sie den Eltern, welche Beraterin nun zuständig ist. Auch manche Kinderärzte empfehlen den Eltern, in die Mütter-Vater-Beratung zu gehen. Das läuft alles auf freiwilliger Basis, aber es kann auch einmal sein, dass wir Familien im Auftrag der KESB begleiten.
«Den Fokus zunächst auf die Dinge legen, die gut laufen»
Dr. med. Camilla Ceppi, FMH Kinder- und Jugendmedizin, Dübendorf
Frau Dr. Ceppi, was ist nach Ihrer Erfahrung die häufigste Sorge der Eltern im ersten Lebensjahr des Kindes? Dr. med. Camilla Ceppi: Das ist eindeutig die Frage: «Nimmt das Kind zu, und gedeiht es normal?» Aber es gibt natürlich noch viele weitere Themen, einerseits zur somatischen Gesundheit des Kindes und andererseits vor allem auch zur regelrechten Entwicklung seiner motorischen und kognitiven Fähigkeiten. Ich sehe meine Aufgabe als Kinderärztin vor allem darin, ganz am Anfang des Lebens zu überprüfen, ob das Kind somatisch gesund ist, und im Verlauf gemeinsam mit den Eltern anzuschauen, ob es sich regelrecht entwickelt – natürlich auch vor dem Hintergrund, dass es grosse individuelle Unterschiede gibt.
Was sind für Sie die wichtigsten Alarmzeichen, die
sogenannten Red flags?
Ceppi: Der Begriff Red flags ist für mich eine Terminologie,
die im Beratungskontext der Eltern nicht so recht passt. Die
Begleitung der Eltern ist für mich ganz stark an deren Res-
sourcen orientiert. Die Ängste frischge-
«Ich frage impfskeptische backener Eltern sind gross und breit
Eltern, was sie zukünftig gefächert. Darum lege ich mit den El-
in Kauf dafür nehmen
tern den Fokus zunächst auf die Dinge,
würden, wenn ihr Kind
nicht geimpft ist.»
die gut laufen. Es geht darum, dass sie mehr und mehr Sicherheit und Kompe-
tenz im Umgang mit ihrem Kind ent-
wickeln. Natürlich habe ich auch meine eigene Agenda,
und da mag ich vielleicht auch schon einmal im Sinne von
Red flags denken, aber ich würde diesen Begriff nie ge-
genüber den Eltern verwenden.
Alarmzeichen sind für mich zum einen akute somatische
Erkrankungen oder eine Gedeihstörung, die an angebo-
rene Störungen denken lassen, wie zum Beispiel Zölia-
kie. Zum anderen gibt es auch neuromotorische Alarm-
zeichen wie quantitativ und qualitativ verändertes
Bewegungsverhalten. Ein wichtiges Alarmzeichen ist ein
fehlender Augenkontakt, der frühzeitig auf eine Autis-
musspektrumstörung hinweist. Ein unangemessenes
Handling des Säuglings ist für mich ein interaktives
Alarmzeichen, dem ich Beachtung schenke.
Wichtig sind natürlich auch psychosoziale Themen, vor
allem auch bei einem sogenannten Schreikind. Da muss
man sich die Frage stellen: Wie steht es mit den Ressourcen der Eltern? Gibt es psychosoziale Belastungssituationen wie Armut, schwierige häusliche Verhältnisse oder ein Suchtproblem der Eltern?
Um all dies wahrzunehmen, müssen die Eltern mit dem Kind zu Ihnen kommen. Was machen Sie, wenn sie nicht kommen? Ceppi: Nach meiner Erfahrung kommen praktisch alle Eltern zu den Vorsorgeterminen im ersten Lebensjahr des Kindes, weil gerade in dieser Phase bei den Eltern viele offene Fragen vorliegen. Generell rufen wir die Eltern an und fragen nach, ob sie den Termin vergessen haben, falls sie einmal nicht zu einer Vorsorgeuntersuchung kommen. Allerdings kann ich mich gar nicht erinnern, dass das im ersten Lebensjahr eines Kindes schon einmal in meiner Praxis notwendig war.
Wie läuft es mit den Impfdiskussionen in Ihrer Praxis? Ceppi: Für mich ist es wichtig, eine neugierige Haltung zu bewahren und impfskeptischen Eltern zu signalisieren, dass es mich interessiert, was dahintersteckt. Ich möchte die Beweggründe für die Ablehnung der Impfung kennen. Die Eltern spüren, dass sie gehört werden, was überhaupt erst den Boden für das Impfgespräch bereitet. Ich frage dann häufig zurück: Was würden Sie zukünftig in Kauf dafür nehmen, wenn ihr Kind nicht geimpft ist? Diese Frage weist darauf hin, dass Nichtimpfen einen Preis hat, wofür die Eltern letztlich die Verantwortung übernehmen. Und egal, ob die Eltern das Kind impfen lassen – was ich natürlich sehr unterstütze und gerne erreichen möchte – bleibt mein Betreuungsangebot bei diesen Kindern und Familien dasselbe. Ich habe von Kollegen und Kolleginnen gehört, welche die weitere Betreuung von nicht geimpften Kindern ablehnen. Ich halte das nicht für den richtigen Weg, im Gegenteil: Oft führen Vertrauen und offene Türen bei den Eltern im Verlauf doch noch zur Bereitschaft, ihre Kinder impfen zu lassen.
Gibt es Probleme, die im ersten Lebensjahr früher häufiger oder seltener waren? Ceppi: Der Zeitdruck in den Familien ist heute ein ande-
8 Pädiatrie 2/18
Schwerpunkt
rer, das Zeitmanagement der jungen Eltern hat sich verändert. Durch die Berufstätigkeit und die Tatsache, dass nahe Verwandte anders als früher nicht mehr selbstverständlich verfügbar sind, stehen die Eltern unter einem grossen organisatorischen Druck, wenn ihre Kinder einmal einen Infekt haben und krank sind, was ja nicht gerade selten vorkommt. Die Eltern fühlen sich heutzutage, auch durch das Internet, zwar sehr gut informiert, aber das bringt Herausforderungen mit sich, weil es für sie oft schwierig ist, die Informationen aus dem Netz richtig einzuordnen und zu bewerten. Medizinisch hat sich verändert, dass wir mehr und mehr Kinder mit sehr komplexen Behandlungsanforderungen zu betreuen haben, weil mehr Kinder mit chronischen Krankheiten dank des medizinischen Fortschritts langfristig überleben. Bei diesen Kindern geht es dann darum, die Schnittstellen zwischen Spital, Praxis und Zuhause sorgfältig zu organisieren und zu pflegen. Da wird die Kinderärztin zur Case-Managerin und zu einer besonderen Vertrauensperson der Familien mit einem Kind, das spezielle Bedürfnisse hat.
Welcher Aspekt ist Ihnen im Zusammenhang mit
dem ersten Lebensjahr noch wichtig?
Ceppi: Sicherlich gehört die politische und gesundheits-
ökonomische Landschaft auch dazu, und hier möchte
ich ein ganz klares Statement abgeben: Wir brauchen
Zeit! Nur wenn wir genügend Zeit ha-
ben, können wir im Gespräch mit den Eltern bleiben und eine gute Beratung leisten. Zwei Drittel unserer Tätigkeiten beziehen sich auf Vorsorge, und Vorsorge betrifft nicht nur medizinische Fragen. Das hat auch die Zürcher Praxisstudie belegt, die Professor Oskar Jenni durchgeführt hat. Der
«Medizinisch hat sich ver-
ändert, dass wir mehr Kinder mit chronischen Krankheiten zu betreuen haben, die dank des medizinischen Fortschritts
langfristig überleben.»
Fragenkatalog ist umfangreich, aber
die neuen Strukturen, die uns vom Bundesrat vorgege-
ben worden sind, erschweren unsere Arbeit. Ein weiterer
Punkt ist die Tatsache, dass es für viele Eltern schwierig
ist, wenn sie ihr akut krankes Kind nicht in die Krippe
bringen können. Wie und wo können sie sich Hilfe
holen? Da wäre es an der Zeit, über Modelle nachzu-
denken, die man den Eltern anbieten könnte.
2/18 Pädiatrie
9