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Schwerpunkt
Lagebedingte Schädeldeformitäten und Funktionsstörungen im HWS-Bereich bei Säuglingen
Kinderphysiotherapeutinnen und -therapeuten behandeln in ihrem Berufsalltag viele Säuglinge mit lagebedingten Schädeldeformitäten oder solche, die aufgrund einer Seitenpräferenz im Bereich der Halswirbelsäule (HWS) ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer Schädeldeformität haben. In diesem Artikel werden Prävention und Behandlung solcher Schädeldeformitäten aus Sicht der Physiotherapie erläutert.
Von Christine Wondrusch und Sandra Frauchiger
A ufgrund langjähriger Erfahrungen und unter Berücksichtigung der vorhandenen Evidenz im klinischen Alltag haben sich viele Kinderphysiotherapeutinnen und -therapeuten eine grosse Expertise auf diesem Gebiet erarbeitet. Das Ziel dieses Artikels ist es, für Kinderärztinnen und -ärzte die folgenden Aspekte transparent aufzuzeigen: G Wie wird eine effektive und evidenzbasierte Präven-
tion durchgeführt? G Wann ist eine Überweisung eines Säuglings mit einer
Seitenpräferenz und/oder einer bereits bestehenden lagebedingten Schädeldeformität an die Physiotherapie sinnvoll und effektiv? G Welche evidenzbasierten physiotherapeutischen Massnahmen stehen für die Behandlung zur Verfügung?
Lagebedingte Schädeldeformitäten
Die Prävalenz der lagebedingten Schädeldeformitäten hat seit Beginn der «Back-to-Sleep»-Kampagne stark zugenommen (1–6). Ein Zusammenhang zwischen dieser Zunahme und der oftmals ausschliesslichen Lagerung der Säuglinge auf dem Rücken zur SIDS-Prophylaxe erscheint in der Praxis klar, wird in vielen Artikeln aber weiterhin diskutiert (1, 5, 7–9). Im Allgemeinen wird der Begriff Plagiozephalus (Abbildung 1) für die Beschreibung einer asymmetrischen Schädeldeformität verwendet. Der Brachyzephalus (Abbildung 2) beschreibt eine symmetrische Abflachung des Hinterkopfes. Die rein lagebedingten Schädeldeformitäten entstehen bei einseitiger oder immer gleicher Lagerung durch die Einwirkung der Schwerkraft auf die noch weiche Schädelkalotte. Dabei kann die Haltung ausschliesslich gewohnheits- und lagebedingt sein, aber auch durch eine arthrogene oder neuromuskuläre Funktionsstörung im Bereich der HWS oder andere seltenere Diagnosen beeinflusst werden. Es ist für die Effizienz der physiothera-
peutischen Behandlung entscheidend, die verursachenden Strukturen möglichst schnell zu identifizieren. Risikofaktoren für die Entstehung eines lagebedingten Plagiozephalus (LPC) sind in der Literatur vielfach beschrieben (1, 7, 8, 10–13). Neben der häufigen und manchmal auch fast ausschliesslichen Rückenlage und einer verminderten physischen Aktivität sind dies: G Seitenpräferenz in der Spontanhaltung G limitierte passive oder aktive HWS-Rotation oder Torti-
kollis G keine oder kaum Bauchlage im Wachzustand G seitenbevorzugendes Handling (z.B. Flaschenernäh-
rung) G langsame motorische Entwicklung G Gebrauch von Vakuum oder Zange während Geburt G hohes Geburtsgewicht G männliches Geschlecht G Mehrlingsgeburten G erstgeboren sein G Frühgeburtlichkeit. Nach unserer Erfahrung liegen Säuglinge mit einer runden Kopfform (sagittotransversaler ≈ frontotransversaler Kopfdurchmesser) oft in symmetrischer Rückenlage und tendieren dazu, einen Brachyzephalus zu entwickeln. Säuglinge mit einer ovalen Kopfform (sagittotransversaler ≈ frontotransversaler Kopfdurchmesser) entwickeln eher einen Plagiozephalus. Sie haben in Rückenlage eine kleinere Auflagefläche des Hinterkopfes auf der Unterlage und eine grössere Hebelwirkung des sagittotransversalen Kopfdurchmessers in die Rotation. Bei muskulärer Entspannung (Schlafen) oder einer aktiven Ausrichtung zur immer gleichen Seite kippt der Kopf durch die Hebelwirkung des sagittotransversalen Kopfdurchmessers zur Seite. Sobald es zu einer ersten Abflachung gekommen ist und sich somit die seitliche Auflagefläche vergrössert hat, kommt es zu einem selbstunterhaltenden Prozess: Mehr Auflagefläche be-
Abbildung 1: Plagiozephalus
Abbildung 2: Brachyzephalus
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Abbildung 3: Protraktor und Messzirkel
deutet bequemes immer gleiches Liegen und somit eine
noch grössere Auflagefläche.
Eine asymmetrische Schädelform verändert die Ansatz-
punkte der Muskulatur markant. Durch die veränderte
Hebelwirkung kommt es zu einem Kraftdefizit auf der
abgeflachten Seite. Der Einfluss dieser Veränderung auf
den weiteren Verlauf ist bis heute unseres Wissens nicht
untersucht und in der Literatur nicht beschrieben.
Bei starker Schädeldeformität stören sich viele Eltern an der
Ästhetik. Bei ausgeprägter Plagiozephalie kommt es zu-
sätzlich zu einer seitenunterschiedlichen Verlagerung der
Kiefergelenksposition zusammen mit der Ausbildung einer
Gesichtsasymmetrie. Dies kann bleibende kaufunktionelle
Störungen nach sich ziehen und soll bei der Behandlungs-
planung mitberücksichtigt werden. Ein negativer Einfluss
auf die Zahnstellung ist bei Verlagerung der Kiefergelenke
zu erwarten (14). Die Schädeldeformität hat aber, soweit
bekannt, keinen messbaren Ein-
Durch Primärprävention kann man rein lagebedingte Schädeldeformitäten meist
fluss auf die sensomotorische und kognitive Entwicklung des Kindes (15, 16).
vermeiden.
Funktionsstörungen
im HWS-Bereich
Für Funktionsstörungen im HWS-Bereich, die klinisch
durch eine asymmetrische Haltung oder durch Bewe-
gungseinschränkungen auffallen, gibt es keine allge-
meingültige Nomenklatur. Oft werden sie unter Bezeich-
nungen wie Tortikollis oder Schiefhals subsummiert.
Es ist wichtig, die klinischen Leitsymptome genau zu be-
schreiben und die verursachende Struktur zu identifizie-
ren, das heisst zwischen muskulären und arthrogenen
Ursachen zu unterscheiden.
Muskulär:
G muskuläre Dysbalance der Nackenmuskulatur
G «Verkürzung» des Musculus sternocleidomastoideus
(SCM), zum Beispiel durch eine Einblutung während
der Geburt oder durch eine fibrotische Veränderung.
Arthrogen:
G Fehlfunktionen einzelner oder mehrerer Facettenge-
lenke (gesamte HWS, atlantookzipital oder atlanto-
axial).
Häufig werden in der Praxis muskuläre Dysbalancen der Nackenmuskulatur ohne echte Verkürzung des SCM oder anderer eindeutiger Pathologien gesehen, welche zu unterschiedlichen Spontanhaltungen der HWS führen. Ist der SCM betroffen, zeigt das Kind eine Lateralflexion zur betroffenen Seite und eine Rotation zur Gegenseite. Die oft als Ursache geltende Einblutung mit Olivenbildung ist in der Praxis selten. Bei Verdacht muss eine Ultraschalluntersuchung zur Sicherung der Diagnose gemacht werden. Häufiger wird eine strangartige Verdickung des SCM gesehen, welche auf eine fibrotische Veränderung hinweist. Der Verdacht muss ebenfalls durch eine Ultraschalluntersuchung bestätigt werden. Eine echte Fibrose gehört zwingend in die Hände eines Kinderorthopäden und bedarf immer einer orthopädischen Intervention. Je früher diese erfolgt, desto besser sind die Langzeitresultate und umso kleiner ist der postoperative therapeutische Aufwand. Zu den Entstehungsmechanismen der Fehlfunktionen der Facettengelenke gibt es verschiedene Theorien. Auf jeden Fall soll die Fehlfunktion nur durch darauf spezialisierte Fachpersonen behandelt werden, und nach der Behandlung muss eine eindeutige Verbesserung der Einschränkung eintreten. Als wichtige Differenzialdiagnosen gelten ossäre Fehlbildungen und Verletzungen (Bogenschlussdefekte, Kraniosynostosen, Säuglingsskoliose, Claviculafraktur usw.), Schädigungen neurologischer Strukturen (Zerebralparese, Plexusparese, Tumore usw.), Einschränkungen im HNO-Bereich (z.B. Schwerhörigkeit) oder okuläre Ursachen (z.B. Schwachsichtigkeit, Strabismus).
Prävention
Durch eine geeignete Primärprävention können rein lagebedingte Schädeldeformitäten grösstenteils vermieden werden (9, 17–19). Dazu ist es notwendig, Neugeborene möglichst in den ersten 2 bis 3 Lebenstagen auch auf allfällige Risikofaktoren für einen LPC zu untersuchen. Dies sind insbesondere die bereits erwähnten muskulären und arthrogenen Einschränkungen im HWS-Bereich wie auch die erwähnten Differenzialdiagnosen. Zudem soll beurteilt werden, ob bereits eine Schädeldeformität vorliegt. Je nach Literaturquelle weisen 6 bis 13 Prozent der Neugeborenen 24 bis 72 Stunden nach der Geburt eine laterale oder posteriore Abflachung des Kopfes auf (6). Bei Zwillingspaaren sind es über die Hälfte der Neugeborenen, die eine asymmetrische Abflachung des Kopfes aufweisen (8). In der Literatur wird eine Abflachung des Kopfes bei Geburt als Vorstufe des LPC erwähnt (6). Zur Anleitung der Eltern über die SIDS-Prophylaxe gehört deshalb auch eine Information zur Prävention einer asymmetrischen Kopfform. Sie soll auf den Empfehlungen der American Academy of Pediatrics (AAP) basieren (20) und folgende Punkte umfassen: G Beim Hinlegen zum Schlafen in Rückenlage soll die
Kopfposition des Säuglings einmal zur linken, das andere Mal zur rechten Seite rotiert werden. G Das Kinderbett soll so positioniert sein, dass das Baby von beiden Seiten Stimuli (Licht, Geräusche etc.) erhält. Ist dies nicht möglich, soll das Bett wöchentlich gedreht werden, oder der Säugling wird im Bett gedreht (Kopf beim Fussteil).
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G Wird ein Neugeborenes ausschliesslich mit der Flasche ernährt, muss darauf geachtet werden, dass die Flasche nicht immer von derselben Seite gegeben wird.
G Wenn die Säuglinge wach und unter Aufsicht sind, sollen sie immer wieder auf den Bauch gelegt werden (sogenannte «tummy time»).
G Säuglinge sollen so wenig Zeit wie möglich in Autositzen, Babywippen oder Ähnlichem verbringen. Sie müssen die Möglichkeit haben, sich frei und spontan zu bewegen. Spielzeug und andere interessante Objekte sollen auf beiden Seiten des Kindes hingelegt werden.
G Die Eltern sollen darauf achten, ihr Baby von beiden Seiten anzusprechen.
Diese Untersuchungen und Instruktionen können je nach Setting von Neonatologen, Pädiatern, Hebammen, Pflegefachpersonen (21) oder Kinderphysiotherpeutinnen und -therapeuten durchgeführt werden.
Physiotherapie
Physiotherapie wird in der Literatur als Therapie der Wahl bei LPC beschrieben, auch wenn die Evidenzlage mangels entsprechender Studien nicht sehr gut ist und die Behandlungsprotokolle stark variieren. Ein früher Behandlungsbeginn und eine differenzierte, auf die Ursachen abgestimmte Behandlung scheinen für das Resultat entscheidend zu sein (22–25). Sobald bei einem Säugling nach der Geburt eine Seitenpräferenz festgestellt wird, soll eine Kurzintervention im Sinne einer Sekundärprävention durchgeführt werden. Dabei müssen die Eltern gezielt durch eine Fachperson mit genügend zeitlichen Ressourcen instruiert und informiert werden. Erfahrungsgemäss genügen bei nicht gleichzeitigem Vorliegen einer Funktionsstörung im HWS-Bereich 2 bis 3 Sitzungen, um die Entstehung eines LPC zu verhindern. Leider werden Kinder oft sehr spät der Physiotherapie zugewiesen. Nach unserem Wissen gibt es keine Evidenz für eine effektive Behandlungsmöglichkeit der Kopfform durch klassische Physiotherapie nach dem sechsten Lebensmonat. Funktionsstörungen der HWS können auch nach dem sechsten Monat behandelt werden. Nach unserer Erfahrung kommt es oft vor, dass Säuglinge mit einer Asymmetrie in der Phase nach der Geburt mit den verschiedensten Therapiemethoden behandelt werden, eine professionelle, stadiengerechte Instruktion der Lagerung und des Handlings aber fehlt. Dies ist sehr bedauerlich, da die Zeit nicht mehr aufgeholt werden kann und alle weiteren Massnahmen zeitintensiver und kostspieliger sind. Am Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB) wurde im Jahr 2017 anhand der aktuellen Evidenz, bestehender Guidelines (1, 17–19, 23–32) und der hausinternen Expertise ein standardisiertes Behandlungskonzept entwickelt, welches im Folgenden kurz vorgestellt wird.
Ziele Die Ziele der Physiotherapie bei einer Funktionsstörung im HWS-Bereich mit Seitenpräferenz und/oder einem LPC sind: G die Verhinderung oder Reduktion der Schädeldeformi-
tät G das Erlangen einer symmetrischen Kopfstellung G die freie Beweglichkeit der Halswirbelsäule
Abbildung 4: Kopfstellreaktion nach links: Bei seitlicher Verschiebung des Rumpfes nach rechts verkürzt das abgebildete Kind die linke Halsseite, um die Augenlinie im Raum horizontal zu halten.
Abbildung 5: Kopfstellreaktion nach rechts: Bei seitlicher Verschiebung des Rumpfes nach links verkürzt das abgebildete Kind die rechte Halsseite kaum. Die Augenlinie kann nicht horizontal eingestellt werden.
G die Verbesserung der Muskelfunktion im Hals-/Nackenbereich
G die Verhinderung struktureller Veränderungen G die Förderung der motorischen Entwicklung und das
zeitgerechte Erreichen der motorischen Entwicklungsstufen. Physiotherapeutische Befundaufnahme In der ersten physiotherapeutischen Behandlungseinheit wird eine standardisierte Befundaufnahme durchgeführt. So können die Ursachen für die klinischen Symptome erkannt und genau differenziert werden. In der Anamnese wird nach dem Schwangerschafts- und Geburtsverlauf, dem Beginn und Verlauf der Asymmetrie, nach Schlaf- und Wachpositionen sowie nach den Gewohnheiten des täglichen Handlings (z.B. Stillen oder Flaschenfütterung und Position) gefragt. Durch eine ge-
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Abbildung 6: Anatomie und Entstehungsmechanismus des lagebedingten Plagiozephalus (LPC) können mithilfe anschaulicher Hilfsmittel verständlich erklärt werden.
naue Anamnese können Risiko- beziehungsweise ver-
stärkende Faktoren bereits erkannt werden.
In der klinischen Untersuchung werden folgende Para-
meter genau beobachtet, untersucht und beschrieben:
G spontane Haltung und Seitenpräferenz in Rücken- und
Bauchlage
G Schweregrad und Art der Schädeldeformität (Plagio-
zephalus, Brachyzephalus)
G aktive und passive Beweglichkeit der HWS (range of
motion [ROM])
G Tonus und Länge der Nackenmuskulatur
G sensomotorische Entwicklung
G Schmerzen gemäss FLACC-Skala (face, legs, activity,
cry, consolability scale [33]).
Die Schädelform lässt sich an folgenden Punkten beob-
achten und beschreiben:
G Hinterkopfabflachung einseitig oder mittig mit Glat-
zenbildung
G Ohrachsenabweichung (einseitige Vorverlagerung der
Gehörgangsöffnung auf der Seite der ausgeprägten
Hinterkopfabflachung mit begleitender Vorverlage-
rung des Kiefergelenks und unterschiedlicher Länge
des Augen-Ohr-Abstandes)
G seitenunterschiedliche Abstehohrbildung
G Gesichtsasymmetrie (seitenunterschiedliche Weite der
Lidspalte, einseitige Stirnvorwölbung).
Leider werden betroffene Kinder oft sehr spät der Physiotherapie zugewiesen.
Zur Bestimmung der Art und des Schweregrads der Deformation und zur späteren Evaluation werden valide, verlässliche und prakti-
kable Beobachtungs- und Mess-
verfahren eingesetzt. In der Klinik am einfachsten zu
verwenden ist die Argenta-Skala (26). Aufgrund eines
standardisierten klinischen Sichtbefundes wird der Pla-
giozephalus in 5 Schweregrade und der Brachyzephalus
in 3 Schweregrade unterteilt.
Mit einiger Erfahrung können die Längen der Schädel-
diagonalen mit einem Messzirkel (Abbildung 3) gemes-
sen, in ein Verhältnis gesetzt (27, 34, 35) und mit Normwerten (19) verglichen werden. Eine andere Möglichkeit ist die Plagiozephalometrie (36, 37). Firstbildungen über den Schädelnähten weisen auf einen vorzeitigen Verschluss hin. Im Zweifelsfall muss das Kind einem Kinderneurochirurgen vorgestellt werden. Die aktive ROM der HWS-Rotation wird zur Objektivierbarkeit mit dem Protraktor (Abbildung 3) gemessen (28). Wann immer möglich wird der Test in Rückenlage durchgeführt; bei älteren Kindern allenfalls auch im Sitzen. Die aktive ROM der HWS-Lateralflexion wird mit dem Muskelfunktionsskalatest nach Öhmann (28) gemessen. Zur Beurteilung der aktiven Lateralflexion in der oberen HWS lösen wir im gehaltenen Sitz die Kopfstellreaktion aus. Oft sind bereits sehr früh deutliche Seitenunterschiede sichtbar (Abbildung 4 und 5). Der «Pull-to-sit»-Test gibt Aufschluss über die Symmetrie der aktiven Flexion. Die passive ROM wird sowohl für die HWS-Rotation (Norm > 90 Grad) als auch für die HWS-Lateralflexion (Norm > 45 Grad) aus der Rückenlage gemessen und wiederum mit dem Protraktor standardisiert. Zur Beurteilung der Beweglichkeit der oberen Kopfgelenke wird die HWS maximal flektiert und dann rotiert. Die Rotation soll wiederum zirka 90 Grad betragen. Danach wird der SCM sowohl visuell beurteilt als auch der Tonus palpiert und auf seine Länge getestet. Immer wieder zu Verwirrung führt die Funktion des SCM. Der linke SCM macht eine Rotation nach rechts und eine Lateralflexion nach links. Zur Längentestung werden demnach eine Rotation nach links und eine Lateralflexion nach rechts ausgeführt. Ebenfalls untersucht werden der Musculus trapezius pars descendens und die Musculi scaleni. Um Asymmetrien oder andere Auffälligkeiten in der motorischen Entwicklung zu erkennen und das Kind angepasst an seinen individuellen Entwicklungsstand behandeln zu können, wird zusätzlich eine standardisierte Beobachtung der sensomotorischen Entwicklung durchgeführt (z.B. AIMS [38]).
Physiotherapeutische Instruktion Basierend auf Anamnese und klinischer Untersuchung werden in Zusammenarbeit mit den Eltern die individuellen Ziele definiert und die physiotherapeutische Behandlung geplant. Die Therapieempfehlungen am UKBB basieren auf den Guidelines von Kaplan et al. 2013 und Flannery et al. 2012 (23, 24). Die Instruktion ist ein wichtiger Teil der physiotherapeutischen Intervention. Die Eltern müssen das Gelernte verstehen und in der Lage sein, dies zu Hause umsetzen und das Heimprogramm ausführen zu können. Idealerweise findet die Instruktion beim Auftreten einer Asymmetrie möglichst frühzeitig statt (idealerweise in der 2. bis 4. Lebenswoche), um eine zunehmende Schädeldeformierung zu verhindern oder zumindest den Verlauf günstig zu beeinflussen. Die Komplexität und der notwendige zeitliche Aufwand für eine nachhaltige Instruktion dürfen nicht unterschätzt werden. Es genügt nicht, den Eltern zu sagen, dass sie ihr Kind möglichst oft auf den Bauch legen sollen. Eine professionelle Instruktion ist immer an die Eltern und das Kind angepasst und umfasst neben den unter Prävention beschriebenen Punkten auch Folgendes:
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● Die Eltern sollen in angepasster Sprache und mit anschaulichen Hilfsmitteln über die Anatomie des Schädels und der Halswirbelsäule des Säuglings sowie über den Entstehungsmechanismus des LPC informiert werden. Der Einfluss der Schwerkraft und die Formbarkeit des Schädels können mithilfe eines Schädelmodells eindrücklich gezeigt werden (Abbildung 6). Mithilfe der Umfangswachstumskurve des Kopfes kann das Risiko für eine weitere Verformung, aber auch die Möglichkeit zur Verbesserung plausibel dargestellt werden.
● Die Eltern sollen verstehen, dass die Rückenlage die sicherste Schlafposition für ihr Kind ist und dass ein Lagerungskissen zum Schlafen nicht empfohlen wird. Bei der Verwendung von Lagerungskissen im Wachzustand muss eine Progredienz der Abstehohrbildung vermieden werden.
● Wenn das Kind in der Nacht im Zimmer der Eltern schläft, müssen sie auf der nicht bevorzugten Seite des Kindes liegen.
● Den Eltern muss die Wichtigkeit der Bauchlage für die Entlastung des Kopfes und die Förderung der motorischen Entwicklung erklärt werden. Angepasst an den individuellen Stand der motorischen Entwicklung muss eine Bauchlage erarbeitet werden, die für das Kind und die Eltern «stimmt». Dazu gibt es verschiedene Hilfsmittel, die entweder die Hebelwirkung des Kopfes verringern (z.B. Rolle unter der Schulter) (siehe Abbildung 7 und 8) oder die Motivation des Kindes erhöhen (z.B. erhöhte Bauchlage im Laufgitter). Die Bauchlage soll für mindestens 3- bis 5-mal während 5 bis 30 Minuten pro Tag im Wachzustand durchgeführt werden.
● Den Eltern muss ein geeignetes Handling gezeigt werden. Dazu gehören das Hochnehmen und Tragen des Kindes sowie geeignete Trink- und Spielpositionen (Abbildung 9).
● Die Eltern müssen darüber informiert werden und verstehen, warum ihr Kind möglichst wenig Zeit in Autositzen und Babywippen verbringen soll. Gerade neugeborene Kinder sind in den Autoschalen oft dermassen flektiert, dass sie ihren Kopf zur Seite drehen müssen, um überhaupt atmen zu können. Zudem können sich die Säuglinge in diesen «Sitzen» kaum spontan bewegen, was die normale sensomotorische Entwicklung stört.
Abbildung 7: Bauchlage im Wachzustand von der Seite
Physiotherapeutische Behandlung Da zu wenig Daten verfügbar sind, um den tatsächlichen Effekt einzelner physiotherapeutischer Massnahmen zu bestimmen (22), ist es umso wichtiger, den eigenen klinischen Entscheidungsprozess fortlaufend zu reflektieren. Kinderphysiotherapeutinnen und -therapeuten sind sich bewusst, dass ihrer Behandlung immer eine Hypothese zugrunde liegt, die einer fortlaufenden objektiven Evaluation bedarf. Bei einer muskulär verursachten Bewegungseinschränkung der HWS werden die verkürzten Muskeln passiv gedehnt (lang anhaltende Dehnungen mit niedriger Intensität ohne Schmerzprovokation) und die insuffizienten Muskeln aktiv stimuliert (aktive Übungen zur Förderung symmetrischer Haltung und Bewegung, Ausnützen der Kopfstellreaktion, Aktivierung der schwachen Seite im Handling).
Abbildung 8: Bauchlage im Wachzustand von vorn
Bei einer arthrogenen Einschränkung werden Techniken aus der manuellen Therapie eingesetzt. In der Regel sind Kinderphysiotherapeutinnen und -therapeuten sehr zurückhaltend im Gebrauch dieser Techniken und überweisen Patienten in Rücksprache mit dem Kinderarzt an dafür ausgebildete Spezialisten. Die Förderung einer symmetrischen sensomotorischen Entwicklung ist immer Teil der Therapie. Ein wichtiger und zeitaufwendiger Teil der Therapie ist die Anleitung der Eltern in der korrekten Ausführung therapeutischer Handgriffe und der Instruktion eines angepassten Handlings. Es findet eine laufende Evaluation der Therapie statt. Mit einer Normalisierung der Kopfform und des Bewegungs-
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chen Hautpflege und für das passive Dehnen abgelegt werden. Die Kosten von derzeit zirka 1700 bis 2500 Franken für die Helmorthese müssen meist von den Eltern selbst übernommen werden, falls keine Zusatzversicherungen für das Kind abgeschlossen wurden.
Manualtherapie Wird im Befund eine Blockierung/Adhäsion der Facettengelenke (oft C1/C2) festgestellt, erfolgt nach Rücksprache mit dem verordnenden Arzt die Überweisung des Patienten an einen auf Säuglinge spezialisierten Manualtherapeuten. Eine segmentale Mobilisation der HWS ist ab dem 3. Lebensmonat sinnvoll und kann zur schnellen Verbesserung der Symptomatik beitragen.
Abbildung 9: Den Eltern muss ein geeignetes Handling gezeigt werden.
ausmasses auf weniger als 5 Grad Defizit (24) kann die Therapie abgeschlossen werden. Bei Therapieende werden der Zielerreichungsgrad und die Elternzufriedenheit festgehalten.
Weitere Therapieformen
Helmtherapie (30, 32) Dem Behandlungsteam muss bewusst sein, dass die Schädelform ab dem 5. bis 6. Lebensmonat aufgrund der motorischen Reifung des Kindes und des abnehmenden Kopfwachstums kaum mehr durch gezielte Lagerung verbessert werden kann. Aufgrund der verfügbaren Evidenz kann eine Helmbehandlung bei bestimmten Kindern mit schweren lagebedingten Kopfdeformitäten und vorhandener Compliance der Eltern indiziert sein. Unter den niedergelassenen Kinderärztin-
Eine an die Entwicklung des Kindes angepasste Instruktion zu Lagerung und Handling ist in allen Stadien unbedingt notwendig.
Schlussfolgerung und Empfehlung für die Praxis
In Zukunft muss die primäre Prävention des LPC vermehrt im Zentrum der Bemühungen stehen. Durch eine professionelle Instruktion und Information der Eltern und eine frühe Untersuchung aller Neugeborenen bezüglich einer HWS-Dysfunktion kann die Inzidenz des LPC aufgrund der vorliegenden Evidenz entscheidend verringert werden. Als Sekundärprävention kann die Behandlung von Kindern mit einer eindeutigen Seitenpräferenz aber noch ohne das Vorhandensein eines LPC gesehen werden. Durch geeignete Massnahmen kann die Symmetrie der Haltung wiederhergestellt und die Entstehung eines LPC verhindert werden. Wenn das Kind eine arthrogene und/oder muskuläre Asymmetrie aufweist, muss diese zwingend fachgerecht behandelt werden. Bei einem bereits bestehenden LPC und einer muskuloskelettalen Dysfunktion in der HWS mit Seitenpräferenz ist ein früher Therapiebeginn entscheidend für ein gutes Resultat der Schädelform. Nach heutigem Wissen kann nach dem 6. Lebensmonat aufgrund der eingeschränkten Lagerungsmöglichkeiten durch Physiotherapie keine wesentliche Verbesserung der Schädeldeformität mehr erreicht werden. Eine an die Entwicklung des Kindes und die Fähigkeiten und Bedürfnisse der Eltern angepasste Instruktion zu Lagerung und Handling ist in allen Stadien unbedingt notwendig.
nen und -ärzten wird die Helmbehandlung aber kontrovers diskutiert (natürlicher Verlauf, Komplikationen). Oft haben die Eltern aufgrund eigener Erfahrungen und Informationen aus dem Internet ihre eigene Meinung (pro und contra) zur Helmtherapie. Der Entscheid zur Helmtherapie soll in Absprache mit und unter Leitung des verordnenden Kinderarztes oder eines dafür spezialisierten Facharztes (Helmsprechstunde) und unter Einbezug der neusten Forschungsdaten erfolgen. Die Helmtherapie muss durch ein spezialisiertes Team durchgeführt und evaluiert werden. Der Aufwand für eine Helmtherapie ist nicht zu unterschätzen. Es bedarf regelmässiger Nachkontrollen, häufig in 3-wöchigen Intervallen meist während 6 bis 12 Monaten. Da die Helmtherapie das Kopfwachstum voraussetzt, ist ein früher Beginn etwa ab dem 4. bis 5. Lebensmonat zu empfehlen. Zudem muss der Helm 23 von 24 Stunden getragen und darf nur zur tägli-
Korrespondenzadressen: Christine Wondrusch, MScPT Co-Leitung Therapien Universitäts-Kinderspital beider Basel UKBB Spitalstrasse 33 4056 Basel E-Mail: christine.wondrusch@ukbb.ch
Sandra Frauchiger, MAS pädiatrische Physiotherapie Schwerpunktleiterin, Physiotherapie Pädiatrie Institut für Physiotherapie Inselspital, Universitätsspital Bern 3010 Bern E-Mail: sandra.frauchiger@insel.ch
Interessenlage: Die Autorinnen deklarieren, dass keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel bestehen.
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