Transkript
Schwerpunkt
Kulturspezifische Erziehungsideale
Auswirkungen auf die Entwicklung im ersten Lebensjahr
Um die Gesundheit und eine positive Entwicklung von Kindern aus Familien mit diversen kulturellen Hintergründen zu fördern, aber auch um kulturelle Missverständnisse und Fehleinschätzungen zu vermeiden, ist für Akteure im Bereich der frühen Hilfen eine kultursensitive Herangehensweise von zentraler Bedeutung. Das Verständnis für das Zusammenspiel von Kultur, Erziehung und Entwicklung bildet dabei die Grundlage für eine kultursensitive Haltung in der eigenen Arbeit mit Kindern und Familien.
Von Laura Bossong
Kultur und Erziehung stehen in engem Zusammenhang. Durch Erziehung werden für eine Kultur charakteristische Werte, Normen und Praktiken von einer Generation in die nächste weitergegeben (1, 2). Erziehung ist somit gleichzeitig Ausdruck von Kultur und der Motor, der die Kultur einer Gruppe aufrechterhält. Vorstellungen über Erziehung können sich in verschiedenen kulturellen Kontexten stark unterscheiden (3). In der Auseinandersetzung mit den Anforderungen, die ein ökosozialer Kontext vorgibt, entwickeln sich kulturspezifische Denkweisen. Diese werden als sogenannte kulturelle Modelle bezeichnet. Sie sind sehr anpassungsfähig und reagieren sensibel auf Veränderungen des ökosozialen Umfeldes (4, 5). Kulturelle Modelle lassen sich dadurch voneinander abgrenzen, in welcher Form sich das Bedürfnis nach Autonomie, also selbstbestimmt entsprechend eigener Absichten zu entscheiden und zu handeln, und das Bedürfnis nach Verbundenheit, also nach Nähe und Zugehörigkeit zu anderen, in einer kulturellen Gruppe manifestieren (6, 7). In der ontogenetischen Entwicklung betonen und fördern Eltern bestimmte Facetten von Autonomie und Verbundenheit in einer kulturspezifischen Form (7). In der Folge zeigen sich die zwei Bedürfnisse auf unterschiedliche Art und Stärke in kulturell adaptiven Ausprägungsformen (6). Diese drücken sich in motivationalen Tendenzen, Verhalten, Emotionen und im Selbstbild von Individuen aus (7). Die so geartete kulturelle Orientierung einer Gruppe wirkt sich darauf aus, welche Sozialisationsziele Eltern im Umgang mit ihren Kindern verfolgen und welche Erziehungspraktiken sie für geeignet halten, um diese zu erreichen (3). Auf diese Weise schaffen Eltern für ihre Kinder kulturspezifische Entwicklungsund Lernkontexte, die schliesslich mit kulturgebundenen kindlichen Entwicklungspfaden einhergehen (7, 8).
Autonomie versus Verbundenheit
Es können einander zwei prototypische kulturelle Kontexte gegenübergestellt werden, die sich sehr stark unterscheiden (7). Über diese prototypischen Kontexte hinaus existieren viele weitere ökosoziale Kontexte, die charakteristische Merkmale der beiden prototypischen Kontexte zu neuen kulturellen Mustern kombinieren (3, 7). Ein prototypischer Kontext umfasst die westliche städtische Mittelschicht in industriellen und postindustriellen Informationsgesellschaften (7, 9–11). Ein hoher Grad formaler Bildung, späte Familiengründung, niedrigere Kinderzahl und kleine Kernfamilienhaushalte stellen hier kennzeichnende Merkmale dar (6). In diesem ökosozialen Kontext wird die psychologische Autonomie der Indivi-
In der Erziehung der westlichen Mittelschicht sind die Entwicklung individueller Eigenschaften, Selbstmaximierung, Selbstverbesserung und Selbstausdruck wichtige Erziehungsziele.
duen betont (6). Einzelne Personen werden als eigenständig agierend sowie als von anderen unabhängig wahrgenommen (9–11), und das Verfolgen individueller Wünsche und Absichten ist bedeutsam (12). Beziehungen sind verhandelbar und basieren auf freien Entscheidungen zwischen unabhängigen Individuen (6, 12). Ein weiterer prototypischer Kontext schliesst ländliche, nicht westliche Gesellschaften ein. Dieser Kontext ist durch eine durchschnittlich niedrige formale Bildung, durch frühe Familiengründung, grosse Kinderzahl sowie Mehrgenerationenhaushalte gekennzeichnet (6, 7). Die Lebensgrundlage wird durch Subsistenzwirtschaft geschaffen. Die Herausforderungen der Lebensumstände machen hier die Übernahme sozialer Verantwortung und Pflichten jedes Einzelnen erforderlich. Das kulturelle Modell der hierarchischen Verbundenheit bestimmt das Zusammenleben: Die
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Menschen sind in stark hierarchische soziale Gefüge eingebunden (6). Das Selbstkonzept einer Person ist eng mit denen anderer Individuen der Bezugsgruppe verwoben (11). Soziale Beziehungen in verbundenheitsorientierten Gesellschaften beruhen auf nicht hinterfragbaren sozialen Aufgaben und Pflichten (6). Eine häufige Merkmalskombination der beiden Prototypen lässt sich in der nicht westlichen, urbanen Mittelschicht beobachten. Man verfügt hier über eine hohe formale Bildung, die Familienverbände sind jedoch grösser und kinderreicher als in der westlichen Mittelschicht – aber kleiner als in nicht westlichen, ländlichen Gebieten (3, 6). Ein solcher Mischkontext kann zum Bei-
In ländlichen, nicht westlichen Gesellschaften wird früh Unterstützung bei alltäglichen Aufgaben und eigenverantwortliches, an den Bedürfnissen der Gruppe ausgerichtetes Handeln erwartet.
spiel in Gesellschaften mit verbundenheitsorientierten Wurzeln entstehen, die durch zunehmende Industrialisierung, starke Binnenmigration vom Land in die Stadt, zunehmende Urbanisierung und eine Steigerung formaler Bildung schnelle Veränderungen des ökosozialen Kontextes erleben. Auf Ebene der kulturellen Orientierung kann hier häufig eine zunehmende Bedeutsamkeit psychologischer Autonomie beobachtet werden (13, 14). Die kulturelle Orientierung spiegelt sich in der elterlichen Erziehung wider.
Unterschiedliche Erziehungsziele
Entsprechend stellen in der Erziehung der westlichen Mittelschicht die Entwicklung individueller Eigenschaften, Selbstmaximierung, Selbstverbesserung und Selbstausdruck wichtige Erziehungsziele dar (9–12). Um diese zu erreichen, hat sich hier eine typische Strategie entwickelt: Neben der Mutter als primärer Bezugsperson gibt es im Säuglingsalter zunächst wenig andere wichtige soziale Partner (15, 16). Das Kind bekommt die exklusive Aufmerksamkeit der Bezugsperson (15, 16). «Face to face»Interaktionen, bei denen die Bezugsperson sehr schnell (in 200–800 ms) auf die Signale des Kindes reagiert, fördern das Erleben von Kontingenz und Selbstwirksamkeit. In
Es kann auf beiden Seiten leicht zu Missverständnissen oder Fehlinterpretationen des jeweiligen Erziehungsstils kommen.
diesen distalen, dyadischen Interaktionen verbalisiert die Bezugsperson die antizipierten inneren Zustände des Kindes. In einer Quasi-Dialogstruktur erkundet sie dabei Gefühle, Wünsche oder Absichten des Säuglings und nimmt dabei intentionales Handeln des Kindes an (7). So entsteht eine gleichberechtigte Interaktion, bei der die kindlichen Bedürfnisse und der Kindeswille ernst genommen werden. Der Fokus der Bezugspersonen liegt dabei auf positiven Emotionen (3). Die rasche Beantwortung von positiven Signalen des Kindes fördern das Gefühl der Kontrollierbarkeit der Umwelt und somit die interne Affektregulation des Kindes (15, 16). Das Objektspiel stimuliert das Interesse an der äusseren Welt. Auch verbringen
Kinder ab dem Säuglingsalter viel Zeit allein (15, 16). Dieser Elternstil führt dazu, dass Kinder lernen, sich als autonome Individuen mit eigenem Charakter, eigenen Wünschen, Gefühlen und Handlungsintentionen wahrzunehmen (7). In ländlichen, nicht westlichen Gesellschaften ist ein harmonisches, gut funktionierendes Zusammenspiel der sozialen Einheit zur Bewältigung des täglichen Lebens relevant. Von Kindern wird früh Unterstützung bei alltäglichen Aufgaben und eigenverantwortliches, an den Bedürfnissen der Gruppe ausgerichtetes Handeln erwartet (12). Gehorsam, Respekt und die uneingeschränkte Akzeptanz sozialer Normen sowie die Einordnung des Einzelnen in starken Hierarchien sind daher wichtige Sozialisationsziele (9, 10, 17). Zur Umsetzung dieser Erziehungsziele trägt in nicht westlichen Bauernfamilien ein typisches Elternverhalten bei: Mehrere Bezugspersonen teilen sich die Erziehungsaufgaben für ein Kind (18). Säuglinge verbringen von Geburt an viel Zeit mit verschiedenen Bezugspersonen, die in die Mutter-Kind-Dyade miteinbezogen werden können (15). Erziehung findet nebenbei statt. Das Kind erhält daher geteilte Aufmerksamkeit, was die Bewerkstelligung anderer alltäglicher Pflichten ermöglicht. Die Beziehung zwischen Kind und Bezugspersonen ist stark hierarchisch organisiert. Die Bezugspersonen treffen Entscheidungen für das Wohl des Kindes. Kinder nehmen hingegen die Rolle von Lehrlingen ein (7). In den ersten Lebensmonaten besteht ein enger Körperkontakt zur Mutter und/oder zu anderen möglichen Bezugspersonen, was zu einer Synchronisierung von Verhalten und Erleben führt (19). Dieser proximale Stil unterstützt die Übernahme familiärer Werte und Normen (20). Körperstimulation fördert zudem die motorische Entwicklung, was frühe Handlungsautonomie ermöglicht (3). Die Bezugsperson reagiert besonders sensibel auf negative Signale des Kindes, da diese Ausdruck von Unwohlsein, Krankheit oder Gefahr darstellen können. Sie antizipiert den negativen Affekt und steuert diesem zum Beispiel durch unmittelbares Stillen entgegen (15, 21). Emotionale Neutralität ist der bevorzugte emotionale Zustand eines Kleinkindes. Der primären Pflege wird daher besondere Bedeutung beigemessen, da so das Überleben gesichert ist und Gesundheit und Wachstum gefördert werden (15). In dem oben beschriebenen Kontext der nicht westlichen, urbanen Mittelschicht finden sich oftmals neue Muster von elterlichen Erziehungsverhalten, die eine Zwischenposition zwischen dem psychologisch autonomieorientierten und dem hierarchisch verbundenheitsorientierten Modell einnehmen. Merkmale beider Sozialisationsstile treten nebeneinander auf. So zeigt sich hier zum Beispiel eine zunehmende Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse, Wünsche und des Willens des Kindes. Auch «Face to face»-Interaktionen werden als bedeutsam bewertet. Gleichzeitig wird der Körperstimulation eine ähnliche Bedeutung beigemessen wie in verbundenheitsorientierten Kontexten (3).
Kulturspezifische motorische …
Durch ihre Erziehung und ihren Umgang mit dem Kind schaffen Eltern kulturspezifische Entwicklungsumgebungen für ihre Kinder, die mit unterschiedlichen Entwick-
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lungsverläufen einhergehen. Diese Entwicklungspfade können als kulturspezifische Lösungen universeller Entwicklungsaufgaben betrachtet werden (3, 22). Eine kulturvergleichende Studie verdeutlicht dies am Beispiel der motorischen Entwicklung: So konnten beispielsweise nahezu alle 6 Monate alten Kinder (98,6%) einer Stichprobe ländlicher kamerunischer Nso-Kinder (die Nso sind eine ethnische Gruppe, die im nordwestlichen Grasland Kameruns vorwiegend als Ackerbauern leben) ohne Unterstützung für mindestens 30 Sekunden frei sitzen. Im Vergleich dazu konnten dies lediglich 12 Prozent der deutschen Mittelschichtkinder gleichen Alters. Diese wiederum konnten sich mit 6 Monaten zu 54 Prozent vom Rücken auf den Bauch drehen, während dies lediglich 11 Prozent der ländlichen kamerunischen Kinder konnten (23). Diese Unterschiede in der motorischen Entwicklung lassen sich durch den spezifischen Entwicklungskontext erklären: In der westlichen Mittelschicht kann man oft beobachten, dass Kinder auf Decken liegen, durch Spielzeuge unterhalten werden und sich teilweise auch allein beschäftigen. Dabei erlernen sie mit Unterstützung der Bezugsperson das Drehen vom Rücken auf den Bauch und umgekehrt. Es ist eher unüblich, das Sitzen und Gehen gezielt zu trainieren. In vielen nicht westlichen, ländlichen Kontexten werden die Kinder hingegen sehr häufig am Körper von Bezugspersonen getragen. Die Momente, in denen sie alleine liegen, sind eher selten. Dafür gibt es hier oftmals Trainingsmassnahmen, mit denen den Kindern das freie Sitzen und Gehen beigebracht wird. Diese Fähigkeiten ermöglichen es den Kindern, sich vor Gefahren zu schützen und recht früh bei alltäglichen Tätigkeiten helfen zu können (24).
… und psychologische Entwicklungspfade
Aber auch im Bereich der Selbstkonzeptentwicklung im zweiten Lebensjahr zeigen sich kulturelle Unterschiede. So entwickeln Kinder aus der Mittelschicht früher eine Vorstellung darüber, ein eigenständiges, zielgerichtet handelndes und von anderen losgelöstes Individuum zu sein, als Kinder ländlicher, traditioneller Gemeinschaften. Dies konnte anhand des Spiegelselbsterkennungstests gezeigt werden. Dabei wurden Kinder zuvor unbemerkt mit einem roten Rouge-Punkt im Gesicht versehen. Wenn durch das kindliche Verhalten deutlich wird, dass es sich im Spiegel erkennt und den roten Punkt im eigenen Gesicht bemerkt, dient das als Indikator für ein bereits entwickeltes Selbstkonzept. Im Spiegelselbsterkennungstest erkennen sich mit 18 Monaten 46 Prozent der Mittelschichtkinder aus Berlin und Neu-Delhi; aber nur 11 beziehungsweise 9 Prozent der indischen und kamerunischen Kleinkinder aus traditionellen dörflichen Kontexten (25). Kinder aus ländlichen, nicht westlichen Kontexten wiederum zeigen mehr Gehorsam und erfüllen im Alter von 18 Monaten kleine Aufgaben und Bitten der Eltern häufiger als Kinder aus der westlichen Mittelschicht (20). Auch die Entwicklung der Selbstregulation unterscheidet sich je nach kulturellem Kontext, wie der «Marshmallow-Test» zeigt. Bei dieser Aufgabe werden Kinder im Vorschulalter vor die Wahl gestellt, eine angebotene
Süssigkeit sofort zu verzehren oder auf die Rückkehr der Versuchsleitung zu warten und dann noch eine zweite Süssigkeit dazuzubekommen. Diese Form des Belohnungsaufschubs gelang einem Grossteil (70%) der vierjährigen Nso-Kinder aus dem ländlichen Kamerun gut. In der Vergleichsgruppe gleichaltriger deutscher Mittelschichtskinder konnte hingegen nur zirka ein Drittel der Kinder auf die zweite Süssigkeit warten (26). Die Erziehung im ländlichen Kamerun, in der verbundenheitsorientierte Erziehungsziele verfolgt werden und Kinder es somit gewohnt sind, sich äusseren Gegebenheiten anzupassen und zum Wohl der Gemeinschaft eigene Bedürfnisse zurückzustellen, fördert also eher Kompetenzen, die einen erfolgreichen Aufschub der Belohnung ermöglichen. Der eher kindzentrierte Erziehungsstil westlicher Mittelschichtsfamilien, bei der die kindliche Selbstwahrnehmung als unabhängiges, selbstbestimmtes Individuum unterstützt wird, erschwert es Kindern, solche Wartesituationen auszuhalten (26).
Implikationen für die Praxis früher Hilfen
Migration bedeutet oftmals einen Wechsel in einen anderen ökosozialen Kontext, in dem sich sowohl die elterlichen Vorstellungen von Erziehung (3) als auch gesellschaftliche Konzepte guter Lern- und Entwicklungsumgebungen von denen des Herkunftskontextes unterscheiden können (27).
Zum Beispiel kann die Förderung von Selbstständigkeit im frühpädagogischen Alltag als mangelndes Bemühen um das physische Wohl des Kindes missverstanden werden oder freies Spiel als nutzloser Zeitvertreib.
Zugewanderte Familien treffen also im Bereich der frühen Hilfe auf Vorstellungen von Erziehung, Entwicklung, aber auch von Bildung, die sich von ihren Vorstellungen zum Teil deutlich unterscheiden oder sogar widersprüchlich sein können. Besonders verbundenheitsorientierte Familien erleben im autonomieorientierten westlichen System oft starke Gegensätze zu ihrer Familienkultur (28). Aber auch Kindern zugewanderter Familien wird in besonderem Masse Flexibilität abverlangt. Oftmals wechseln Kinder, die ausser Haus betreut werden, täglich zwischen Familien- und Einrichtungskultur hin und her (29). Treffen zugewanderte Eltern und Akteure des Bereichs der frühen Hilfen, wie zum Beispiel frühpädagogische Fachkräfte, Hebammen oder Kinderärzte, mit ihren jeweiligen Vorstellungen von guter Erziehung und Entwicklung aufeinander, kann es leicht zu Missverständnissen oder Fehlinterpretationen auf beiden Seiten kommen. Die kulturell divergierenden Erziehungsvorstellungen manifestieren sich oft in ganz alltäglichen Situationen: So wird beispielsweise im westlichen Mittelschichtkontext dem kindlichen Frei- oder Symbolspiel, insbesondere im frühpädagogischen Feld, grosse Bedeutung beigemessen, da auf diese Weise autonomieorientierte Erziehungsziele wie Selbstständigkeit, Entscheidungsfähigkeit, Kreativität und Fantasie gefördert werden. Eltern
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aus verbundenheitsorientierten Kontexten hingegen bewerten diese Spielformen häufig als wenig bildungsförderlich oder als blossen Zeitvertreib (30). Vielmehr befürworten sie daher in der ausserhäuslichen Betreuung stark strukturierte, angeleitete Spiel- und Lernsituationen, bei denen ein kompetenter Erwachsener die kindliche Lernentwicklung steuert (31). Auch das Aufgabenverständnis bezüglich einer frühpädagogischen Fachkraft kann divergieren. So äusserten Mütter mit türkischem und russischem Migrationshintergrund die Erwartung, dass Frühpädagogen vorrangig den Fokus auf das physische Wohlergehen und die körperliche Unversehrtheit des Kindes richten sollten. Die Frühpädagogen selbst betrachten hingegen die Vermittlung von Selbstständigkeit als ihre vorrangige Aufgabe. Hier kann es leicht zu Missverständnisse kommen: Die Förderung von Selbstständigkeit im frühpädagogischen Alltag, wie zum Beispiel das eigenständige Anziehen, kann als mangelndes Bemühen um das physische Wohl des Kindes verstanden werden (31). Zugewanderten Eltern fällt es oft schwer, die Erziehungsansätze des Aufnahmekontexts nachzuvollziehen. Gerade das Bildungssystem des Aufnahmelandes ist für sie fremd und nicht leicht durchschaubar (29). Vertretern des frühen Hilfssystems hingegen fehlt oft der Einblick in die kulturelle Lebenswelt und in die Werteorientierung der Familien, um deren Sicht- und Handlungsweisen nachvollziehen zu können (28). Das erschwert die Einschätzung von Entwicklungsständen oder der Güte elterlichen Erziehungsverhaltens und birgt das Risiko der Vernachlässigung des jeweiligen familiären kulturellen Rahmens. Eine kultursensitive Herangehensweise bedeutet also, ein Bewusstsein für die Unterschiedlichkeit von Erziehungsvorstellungen zu entwickeln, sich sowohl mit der eigenen als auch der anderen kulturellen Orientierung auseinanderzusetzen und sich von diesen Überlegungen in der Zusammenarbeit mit den Familien leiten zu lassen (32).
Korrespondenzadresse: Dipl.-Psych. Dr. Laura Bossong Fortbildungsinstitut KompassKindheit Wörthstrasse 8 D-49082 Osnabrück E-Mail: lbossong@uni-osnabrueck.de
Interessenlage: Die Autorin deklariert, dass keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag bestehen.
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