Transkript
Fertilitätserhaltung
Ein zunehmend wichtiger Aspekt bei krebskranken Kindern und Jugendlichen
Schwerpunkt
Dank moderner Behandlungsmöglichkeiten konnte die Überlebensrate bei Kindern und Jugendlichen mit Krebs deutlich gesteigert werden. Dadurch rücken die Langzeitfolgen der Therapie, wie zum Beispiel die Sterilität, in den Vordergrund.
Von Tamara Diesch-Furlanetto
F ertilitätserhaltung spielt eine zunehmend wichtige Rolle in der Diskussion mit Kindern und Jugendlichen, welche an Krebs erkrankt sind. Dank multimodaler Therapien und Verbesserung der supportiven Massnahmen konnte in den Industrieländern die 5-Jahres-Gesamtüberlebensrate auf 80 Prozent angehoben werden (1). Ein Grossteil der Patienten erreicht somit das Erwachsenenalter. Infolgedessen rücken die Langzeitfolgen der Therapien auf die Pubertätsentwicklung beziehungsweise auf die Fertilität in den Vordergrund. Das kurze Zeitfenster für die Beratung beziehungsweise die Durchführung einer fertilitätserhaltenden Massnahme, vor dem Start einer Therapie, stellt jedoch eine medizinische Herausforderung dar.
Auswirkungen der onkologischen Therapie auf die Fertilität
Das Ausmass der Schädigung der Keimzellen bei krebskranken Kindern und Jugendlichen hängt von verschiedenen Faktoren ab: G Alter des Patienten zum Zeitpunkt der Diagnose:
Präpubertäre Mädchen und Knaben haben ein niedrigeres Risiko für eine spätere Beeinträchtigung der Fertilität (2). G Angewandte Chemotherapeutika: Vor allem alkylierende Substanzen wie Cyclophosphamid, welche im Rahmen einer Stammzelltransplantation appliziert werden, haben eine höhere Gonadotoxizität. G Strahlenfeld und -dosis: Bereits eine Bestrahlung im Beckenbereich mit 2 Gy führt bei den Mädchen zu einer quantitativen Reduktion der Eizellen um 50 Prozent. Beim Knaben reichen schon 4 Gy, um die Spermatogenese permanent zu schädigen. Patienten, welche eine Hochdosis-Chemotherapie, eine Ganzkörperbestrahlung (12 Gy) und eine Stammzelltransplantation erhalten, haben ein extrem hohes Risiko einer irreversiblen Schädigung der Keimzellen. Etwa ein Drittel der Mädchen und Knaben weist nach einer Radio- und/oder Chemotherapie eine Beeinträchtigung der Fertilität auf. Nach einer Stammzelltransplan-
tation kommt es sogar bei zirka zwei Drittel der Patien-
ten zu einer Fertilitätsverminderung. Durch die enge
Koppelung der Granulosazellen und der Oozyten wer-
den beim Mädchen sowohl die endokrine Funktion als
auch die Fertilität beeinträchtigt. Beim Knaben wird das
Keimepithel und somit die Spermatogenese gestört, die
endokrine Funktion des Hodens bleibt jedoch meist er-
halten.
Nebst der hormonellen Beeinträchtigung steht auch die
psychologische Belastung im Vordergrund. Verschiedene
Studien haben gezeigt, dass zirka 80 Prozent aller ehe-
maligen Patienten einen Kinderwunsch haben werden
(3). Eine Sterilität geht mit einer eingeschränkten
Lebensqualität der Patienten einher.
Diese leiden häufiger unter Bindungs- Zirka 80 Prozent der
ängsten, Depressionen oder einer ge- Patienten werden sich
störten Körperwahrnehmung.
später Kinder wünschen.
Problemstellung
Im Bereich der Reproduktionsmedizin wurden in den letzten Jahren grosse Fortschritte erzielt. Diese Möglichkeiten können jedoch nicht alle direkt bei den Kindern und Jugendlichen angewandt werden. Weiterhin müs-
DAS WICHTIGSTE IN KÜRZE
Q Junge Patienten mit einer Krebserkrankung sollten über mögliche Spätfolgen der Behandlung informiert werden.
Q Eine spätere Unfruchtbarkeit geht mit einer eingeschränkten Lebensqualität einher. Deshalb ist es wichtig, die verschiedenen fertilitätserhaltenden Massnahmen zu diskutieren, selbstverständlich unter Berücksichtigung des Alters und des Gesundheitszustandes des Patienten.
Q Experimentelle Methoden sollten nur im Rahmen von Studien bei Hochrisikopatienten angeboten werden.
Q All diese Aspekte können nur berücksichtigt werden, wenn eine enge Zusammenarbeit zwischen den betreuenden Fachärzten besteht.
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Schwerpunkt
Priorität hat die onkologische Behandlung.
Vor jeder onkologischen Behandlung sollte eine Beratung stattfinden.
sen bei den jungen Patienten ethische, religiöse, psychologische und rechtliche Aspekte berücksichtigt werden. Es gilt, sowohl die Interessen des Patienten als auch die der Eltern zu berücksichtigen, ohne die medizinischen Aspekte aus den Augen zu verlieren. Priorität hat die onkologische Behandlung, welche vor allem bei hämatologischen Erkrankungen nicht hinausgezögert werden kann. Somit bleibt für die Beratung und gegebenenfalls die Durchführung einer fertilitätserhaltenden Massnahme nur ein kurzes Zeitfenster von einigen Tagen. Unabhängig von der Erkrankung und der Therapie sollte vor jeder onkologischen Behandlung eine Beratung durch den behandelnden Kinderonkologen und/oder durch die Kollegen der Reproduktionsmedizin stattfinden, um dem Patienten und seinen Eltern die möglichen Auswirkungen der Therapie auf die Fertilität zu erklären. Je nach Risiko für eine Keimzellschädigung sollen mögliche fertilitätserhaltende Massnahmen sowie deren potenzielle Nebenwirkungen besprochen werden. Um eine optimale Beratung durchführen zu können, braucht es eine enge Zusammenarbeit zwischen Kinderonkologen, pädiatrischen Endokrinologen, Psychoonkologen und Reproduktionsmedizinern im Sinne eines interdisziplinären Netzwerkes. Die zur Verfügung stehenden fertilitätserhaltenden Massnahmen für Mädchen und Knaben unterscheiden sich, je nachdem, ob die Patienten zu Therapiebeginn prä- oder postpubertär sind. Die verschiedenen Möglichkeiten sind in der Tabelle aufgeführt. Abgesehen von der Transposition der Ovarien stehen alle im Folgenden beschriebenen Massnahmen in der Schweiz nicht im Leistungskatalog der Krankenkasse. Somit müssen die Kosten von den Patienten beziehungsweise deren Eltern übernommen werden. Die Kosten variieren je nach Massnahme zwischen 300 und 2000 Franken. In anderen europäischen Ländern, wie zum Beispiel in Frankreich, werden diese vom Gesundheitswesen übernommen.
Tabelle
Möglichkeiten fertilitätserhaltender Massnahmen
Mädchen etabliert
experimentell
präpubertär • Transposition der Ovarien
• Kryokonservierung von Ovarialgewebe
postpubertär • Transposition der Ovarien • Kryokonservierung von
Oozyten nach hormoneller Stimulation • Kryokonservierung von Ovarialgewebe • GnRHa (Effektivität umstritten) –
Knaben etabliert
experimentell
präpubertär • keine
• Kryokonservierung von Hodengewebe
postpubertär • Kryokonservierung von Spermien • TESE (testikuläre Spermienextraktion) –
Möglichkeiten der Fertilitätserhaltung bei Mädchen
Transposition der Ovarien Ist eine Bestrahlung des kleinen Beckens notwendig, können die Ovarien laparoskopisch aus dem Strahlenfeld verlegt werden. Bei einem grösseren Bestrahlungsfeld müssen die Eileiter zur besseren Mobilisation durchtrennt werden, was später mindestens eine In-vitro-Fertilisation erforderlich machen wird.
Ovarielle Stimulation und Kryokonservierung von befruchteten/unbefruchteten Eizellen Eine weitere Möglichkeit ist das Einfrieren von Eizellen. Dies benötigt jedoch eine zirka 14-tägige vorausgehende hormonelle Stimulation, um reife Eizellen zu gewinnen. Aufgrund der Dringlichkeit der onkologischen Therapie ist dies nicht immer möglich, zudem sind regelmässige vaginale Ultraschalluntersuchungen erforderlich, die für die Patientinnen belastend sein können.
Kryokonservierung von Ovarialgewebe Ovarialgewebe wurde erstmalig 2004 erfolgreich eingefroren. Seitdem wurden mehr als 80 Lebendgeburten nach Retransplantation beschrieben (4). Das Einfrieren von Ovarialgewebe ist eine fertilitätserhaltende Methode, welche kurzfristig (2–5 Tage) vor einer onkologischen Therapie durchgeführt werden kann. Sie kann unabhängig vom Zyklus geplant werden. Das entnommene Ovarialgewebe kann zu einem späteren Zeitpunkt (bei Kinderwunsch) retransplantiert werden. Diese Methode eignet sich insbesondere für präpubertäre Mädchen und junge Frauen, da bei ihnen die Eizellreserve in den Eierstöcken noch gross ist, sowie für Frauen mit einem nur kurzen Zeitfenster bis zum Beginn der zytotoxischen Therapie. Die Entnahme und Kryokonservierung von Ovarialgewebe gilt inzwischen als etablierte Technik (5). Die Retransplantation kann allerdings nur bei Krebsarten vorgenommen werden, bei welchen keine malignen Zellen im Ovar zu erwarten sind. Gut durchführbar ist diese Technik zum Beispiel beim Mammakarzinom und beim Osteosarkom. Nicht geeignet ist sie jedoch bei einer Leukämie. Bei präpubertären Mädchen ist die Kryokonservierung von Ovarialgewebe die einzige Methode der Fertilitätserhaltung, welche angeboten werden kann. Die Erfahrungen mit präpubertär kryokonserviertem Gewebe sind jedoch begrenzt (6–8). Es gibt bis anhin nur einen Fallbericht über eine Geburt nach Retransplantation von kryokonserviertem präpubertärem Ovarialgewebe.
Ovarialsuppression durch GnRH-Agonisten Die Wirksamkeit bei Adoleszenten ist fraglich, sodass sie als alleinige Massnahme nicht eingesetzt werden sollte (5).
Möglichkeiten der Fertilitätserhaltung bei Knaben
Kryokonservierung von Spermien Für postpubertäre Knaben gibt es die Möglichkeit, Spermien einzufrieren. Dies ist eine seit Dekaden etablierte Methode, welche rasch und ohne Zeitverzögerung durchgeführt werden kann. Im Beratungsgespräch mit den Jugendlichen braucht es dabei Fingerspitzengefühl.
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Je nach Alter findet das Gespräch ohne Eltern statt. Wichtig ist, nebst der körperlichen Reife die geistige Reife des Jugendlichen zu berücksichtigen, damit er nicht mit der Situation überfordert wird. Alternativ zur Masturbation können die Spermien auch mittels Elektrostimulation in Narkose gewonnen werden.
Testikuläre Spermienextraktion (TESE) Falls zum Zeitpunkt der Erkrankung eine Azoospermie vorliegt oder die Betroffenen nicht mehr in der Lage sind zu ejakulieren, besteht die Möglichkeit der sogenannten testikulären Spermienextraktion (TESE). Im Rahmen eines kleinen chirurgischen Eingriffes wird eine kleine Menge Hodengewebe aus dem Hoden extrahiert und zusammen mit den darin enthaltenen Samenzellen kryokonserviert. Für präpubertäre Knaben gibt es bis anhin keine etablierten Methoden zur Fertilitätserhaltung, da bei ihnen die Spermatogenese noch nicht begonnen hat. Unter Studienbedingungen wird eine Kryokonservierung von unreifem Hodengewebe angeboten mit anschliessender Reimplantation von Spermatogonien beziehungweise Hodengewebe. Diese Methode funktioniert bis anhin nur im Tiermodell.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Tamara Diesch-Furlanetto Spezialärztin Pädiatrische Hämatologie/Onkologie Universitäts-Kinderspital beider Basel Spitalstrasse 33 4031 Basel E-Mail: Tamara.Diesch@ukbb.ch
Interessenlage: Die Autorin deklariert keine potenziellen Interessenkonflikte.
Literatur: 1. Robison LL et al.: Survivors of childhood and adolescent cancer: life-long risks and responsibilities. Nat Rev Cancer 2014; 14(1): 61–70. 2. Reinmuth S et al.: Impact of chemotherapy and radiotherapy in childhood on fertility in adulthood: the FeCt-survey of childhood cancer survivors in Germany. J Cancer Res Clin Oncol 2013; 139(12): 2071–2078 3. Schover LR: Psychosocial aspects of infertility and decisions about reproduction in young cancer survivors: a review. Med Pediatr Oncol 1999; 33(1): 53–59. 4. Jadoul P et al.: Efficacy of ovarian tissue cryopreservation for fertility preservation: lessons learned from 545 cases. Hum Reprod 2017; 32(5): 1046–1054. 5. Deutsche Gesellschaft für Gyäkologie und Geburtshilfe (DGGG), Deutsche Gesellschaft für Reproduktionsmedizin, Deutsche Gesellschaft für Urologie e.V. (DGU): Fertilitätserhalt bei onkologischen Erkrankungen. Leitlinie S2k, AWMF Registriernummer 014/082, Stand: 9/2017. Verfügbar unter: www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/015-082.html 6. Poirot C et al.: Induction of puberty by autograft of cryopreserved ovarian tissue. Lancet 2012; 379(9815): 588. 7. Demeestere I et al.: Live birth after autograft of ovarian tissue cryopreserved during childhood. Hum Reprod 2015; 30(9): 2107–2109. 8. Anderson RA et al.: Induction of puberty by autograft of cryopreserved ovarian tissue in a patient previously treated for Ewing sarcoma. Eur J Cancer 2013; 49(13): 2960–2961.
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