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SCHWERPUNKT
Off-label-Gebrauch und Dosierung
Die Kunst der Arzneimitteltherapie bei Kindern – wie vermeidet man Medikationsfehler?
Die Arzneimitteltherapie bei Kindern ist eine der grössten Herausforderungen der Medizin. Fehlende Angaben in der Fachinformation, altersabhängige pharmakokinetische Besonderheiten, Dosisberechnungen, das Fehlen kindgerechter Arzneiformen und nicht zuletzt auch behördliche Auflagen beim Off-label-Gebrauch erschweren den medizinischen Alltag. Die hohe Komplexität führt zu vermehrten Medikationsfehlern und unerwünschten Wirkungen. In diesem Artikel werden mögliche Strategien zur Optimierung der pädiatrischen Arzneimitteltherapie aufgezeigt.
Von Priska Vonbach
D ie Arzneimitteltherapie bei Kindern erfordert vielfach zusätzliche Kenntnisse und behördlich nicht genehmigte Massnahmen. Oft sind Arzneimittel an Kindern ungenügend erforscht, es fehlen Angaben zu Dosierungen sowie geeignete Darreichungsformen. Diese Komplexität hat Folgen: Eine erhöhte Fehleranfälligkeit führt zu vermehrten unerwünschten Arzneimittelereignissen bei Kindern. Die Aufklärung von Eltern bei Therapien im Off-label-Bereich, das Überbrücken von Versorgungsengpässen bei Nichtverfügbarkeit pädiatrischer Arzneimittel und administrative Belange wie das Verfassen von Kostengutsprachegesuchen nehmen die Zeit der Kinderärzte ebenfalls in Anspruch.
Off-label- und Unlicensed-Gebrauch
Rund die Hälfte aller Verordnungen bei hospitalisierten Kindern erfolgt in der Schweiz im Unlicensedoder Off-label-Bereich. Oder anders gesagt: Rund 80 bis 100 Prozent aller Patienten in Schweizer Kinderspitälern werden mit mindestens einem Arzneimittel therapiert, bei welchem es sich um ein oft spezifisch für einen Patienten hergestelltes Arzneimittel (Formula-Arzneimittel) oder um ein Importprodukt handelt (unlicensed), oder aber um ein Arzneimittel, welches zwar in der Schweiz registriert ist, aber nicht gemäss Fachinformation (off label) angewendet wird (1, 2). Im ambulanten Bereich dürfte der Anteil der off label eingesetzten Arzneimittel etwas kleiner sein. Gemäss einer Studie aus Frankreich liegt er bei 40 Prozent aller Medikamentenabgaben (3). Zum Off-label-Gebrauch gehören nicht nur medikamentöse Therapien in einer nicht in der Fachinformation erwähnten Indikation, sondern auch der Einsatz bei Patienten einer anderen Altersgruppe, in einer anderen Dosierung oder nach einer nicht in der Fachin-
formation beschriebenen «Manipulation» des Arzneimittels. Aufgrund der für Kinder oft ungeeigneten Darreichungsformen hinsichtlich Galenik, Mengen, Konzentrationen und Volumina kommt es vor der Verabreichung häufig zu solchen Manipulationen, die Probleme nach sich ziehen können, wie folgende Beispiele zeigen.
Beispiel 1: Verdünnen von Injektionslösungen Die Dosierung von Morphin zur Beruhigung bei zyanotischen Krisen beträgt 0,1 mg/kg, das heisst für ein Neugeborenes mit einem Körpergewicht von 3 kg errechnet sich eine Dosierung von 0,3 mg, entsprechend 0,03 ml der unverdünnten Injektionslösung (10 mg/ml). Ein solches Volumen kann kaum exakt entnommen werden, sodass die Lösung zuvor verdünnt werden muss (z.B. 1 ml Morphinlösung mit 9 ml NaCl 0,9% oder Glukose 5% zu einer Konzentration von 1 mg/ml). Danach kann mit einer entsprechend skalierten kleinen Spritze das Volumen von 0,3 ml entnommen werden. Ein solcher Verdünnungsschritt ist nicht nur hinsichtlich korrekter Berechnung und korrekter Entnahme, sondern auch hinsichtlich Stabilität und allfälliger Aufbewahrung der Restlösung problematisch. Um diese Problematik zu minimieren, stellen viele Spitalapotheken den Pflegefachpersonen Listen mit zusätzlichen Informationen im Off-label-Bereich zum Verdünnen und zur Aufbewahrung nach Verdünnung zur Verfügung.
Beispiel 2: Suspendieren von (zermörserten) Tabletten und Entnahme eines Aliquots Diese Art der Manipulation kommt immer wieder zum Einsatz, wenn keine alternative galenische Form für die orale Applikation bei Kleinkindern zur Verfügung
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Suspendieren von Tabletten und Entnehmen eines Aliquots kann gefährlich sein.
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SCHWERPUNKT
Die behördlichen Vorgaben sind in der Praxis kaum umsetzbar.
steht. Sie sollte jedoch möglichst vermieden werden, da die Dosierung höchst ungenau ist – sogar für Tabletten, die sich gemäss Fachinformation dispergieren lassen. Eine Untersuchung zeigt, dass mit dieser Methode zwischen 23 und 188 Prozent der gewünschten Dosis verabreicht wird (4). Grundsätzlich muss vor dem Teilen oder Zermörsern von Tabletten geklärt werden, ob dies die Stabilität des Wirkstoffs überhaupt zulässt. Zum Beispiel kann das Zermörsern einer Tablette mit magensaftresistentem Überzug zu einem Zerfall des Wirkstoffes nach Applikation kommen. Um diese Manipulation zu umgehen, soll geprüft werden, ob es eine im Ausland zugelassene Alternative gibt (z.B. Digoxin: Lenoxin®-Liquidum-Lösung aus Deutschland; Metronidazol: Flagyl®-Suspension aus Frankreich). Wird ein Arzneimittel aus dem Ausland importiert, so sollte die Kostenübernahme durch die Versicherung anhand eines Kostengutsprachegesuches geklärt werden. Eine andere Möglichkeit kann auch die Herstellung einer oralen Lösung/Suspension oder einer
Tabelle 1: Gesetzliche Vorgaben für den Label-, Off-label- und Unlicensed-Gebrauch von Arzneimitteln in der Schweiz
Gesetze
Zulassungsstatus des Arzneimittels Einsatz gemäss Fachinformation
Garantie der Sicherheit, Qualität und Wirksamkeit
Einsatz des Arzneimittels Verantwortung
Pflichten
Kostenübernahme
Zulassungs-
Off-label-
Unlicensed-Gebrauch
gemässer (Label-) Gebrauch
Import-
Formula-
Gebrauch
Arzneimittel
Arzneimittel
Heilmittelgesetz HMG Art. 26
HMG Art. 20
HMG Art. 9
(HMG)
Abs. 1
Arzneimittel-
Abs. 2
bewilligungs-
verordnung
(AMBV)
Art. 36 Abs. 2
in der Schweiz
in der Schweiz im Ausland
von der Zulas-
zugelassen
zugelassen
zugelassen
sung befreit
innerhalb von
ausserhalb der innerhalb oder keine
Schweizer
Schweizer
ausserhalb der Fachinformation
Fachinformation Fachinformation ausländischen vorhanden
Fachinformation
Sicherheit,
Sicherheit,
Label-/Off-label- Sicherheit,
Qualität und
Qualität und
Gebrauch je nach Qualität und
Wirksamkeit
Wirksamkeit
Land unterschied- Wirksamkeit
geprüft und
weder geprüft, lich (nationale weder geprüft,
garantiert
noch garantiert bzw. EU-Zulas- noch garantiert
(Swissmedic)
sungsbehörde)
gemäss
Einsatz auf Basis eines einzelnen, namentlich bekannten
Fachinformation Patienten
Verantwortung
Verantwortung liegt beim Arzt resp. Apotheker bezüglich
liegt beim
Ausführung der Verordnung (inkl. Herstellung); ärztliche
Zulassungsinhaber und pharmazeutische Sorgfaltspflicht
keine speziellen, Informations-, Dokumentations- und Datenaufbewah-
zusätzlichen Pflichten rungspflicht bei Arzt und Apotheker hinsichtlich Off-label-
für Arzt/Apotheker und Unlicensed-Gebrauch
(schriftliche Einverständniserklärung bei Import-Arznei-
mitteln mit Swissmedic-Bewilligung)
Kostenübernahme keine Kosten- keine Kosten- Kostenüber-
gemäss SL
übernahme-
übernahme
nahme gemäss
pflicht
(Kostengut-
Arzneimittel-
sprachegesuch) liste mit Tarif
Der Begriff «Label» stammt aus dem Englischen und bedeutet eigentlich «Etikett»; er bezieht sich im Zusammhang mit Arzneimitteln auf die gemäss Fachinformation zugelassenen Indikationen und Anwendungsvorschriften.
niedrig dosierten Kapsel (deren Inhalt vor Applikation entnommen und suspendiert wird) durch eine (Spital-) Apotheke sein. Es muss dazu jedoch eine Rezeptur gefunden werden, die Stabilität beziehungsweise Haltbarkeit muss ebenso geklärt werden. Beide Varianten (Import und Herstellung) haben in der Regel den Nachteil, dass das Arzneimittel nicht gleich zur Verfügung steht, sondern zuerst importiert oder hergestellt werden muss.
Gründe für den häufigen Off-label-Gebrauch
Die Gründe für den hohen Off-label-Anteil in der Pädiatrie sind vielfältig. Die Durchführung von Studien bei Kindern war bis vor etwa 20 Jahren aus rechtlicher Sicht schwierig. Die Situation verbesserte sich dank der EU-Richtlinie 2001/20/EG und der Verordnung über Kinderarzneimittel (2006/1901/EC) laufend. Arzneimittelhersteller müssen heute bei einer Neuzulassung eines Wirkstoffes einen pädiatrischen Studienplan (PIP: paediatric investigation plan) einreichen, der aufzeigt, welche Studien bei Kindern durchgeführt und welche Massnahmen hinsichtlich pädiatrischer Arzneiformulierungen ergriffen werden. Dies hat zu einem erheblichen Anstieg von klinischen Studie bei Kindern geführt. Von dieser positiven Entwicklung sind jedoch Wirkstoffe, die seit langem in der Pädiatrie etabliert sind, kaum betroffen. Für die Hersteller fehlen die finanziellen Anreize. Hohe Entwicklungskosten werden gegen einen kleinen Markt abgewogen. Zwar versucht die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) mit der «paediatric marketing authorisation» (PUMA) einen Anreiz für neue Indikationen und Formulierungen exklusiv für die pädiatrische Population zu schaffen, leider jedoch mit geringem Erfolg. In der Schweiz werden ab 2018 bei der Teilinkraftsetzung des revidierten Heilmittelgesetzes analog zur europäischen Gesetzgebung ebenfalls Anreize für die Pharmaindustrie für die Entwicklung von Arzneimitteln für Kinder eingeführt.
Gesetzliche Vorgaben für den Off-label-Gebrauch
Beim Off-label-Einsatz eines Arzneimittels sind die gesetzlichen Vorgaben im Heilmittelgesetz festgelegt. Da die Sicherheit, Qualität und Wirksamkeit bezüglich des Off-label-Gebrauchs von den Behörden weder geprüft noch garantiert ist, liegt die Verantwortung für den Einsatz des Arzneimittels beim Arzt sowie beim Apotheker bezüglich Ausführung der Verordnung, inklusive allfälliger Herstellung. Tabelle 1 gibt einen Überblick über die gesetzlichen Vorgaben beim Label-, Off-label- und Unlicensed-Gebrauch von Arzneimitteln. Kommt es bei jeder zweiten Verordnung bei Kindern zu einem Off-label- oder Unlicensed-Gebrauch, so wird schnell klar, dass die behördlichen Vorgaben für die verantwortlichen Fachpersonen in der Praxis kaum umsetzbar sind. Die Aufklärungspflicht gegenüber den Eltern würde derart viel Zeit in Anspruch nehmen und wohl häufig zu Unsicherheiten bis hin zu gefährlichen Therapieverweigerungen führen, dass eine strikte Umsetzung geradezu unethische Folgen
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SCHWERPUNKT
hätte. Eine Unterscheidung von Therapien im «Standard-» oder «experimentellen» Bereich, wie es die SAMW empfiehlt (5), wäre für die Arzneimitteltherapie von Kindern und den Umgang mit «Standardtherapien» im Off-label-Bereich ungleich sinnvoller.
Von der Pharmakokinetik zur Dosierung
Abraham Jacobi (1830–1919), ein Pionier der Kinderheilkunde, hatte die Besonderheiten bezüglich Pharmakokinetik und Pharmakodynamik beim Kind bereits im 19. Jahrhundert treffend zusammengefasst: «Pediatrics does not deal with miniature men and women, with reduced doses and the same class of disease in smaller bodies, but (…) has its own independent range of horizon.» Die pharmakokinetischen Besonderheiten beim Kind beeinflussen direkt die Verfügbarkeit eines Wirkstoffes und somit die Dosierung. Zum Beispiel wird die Bioverfügbarkeit und Stabilität eines oral verabreichten Wirkstoffes vom pH-Wert des Magens beeinflusst, der sich in den ersten zwei Lebensjahren verändert, womit die Voraussagbarkeit über die Resorption nach oraler Applikation mit grossen Unsicherheiten behaftet ist. Bei Frühgeborenen vor der 28. Schwangerschaftswoche ist die Epidermis der Haut nicht ausgereift, weshalb es zu höheren perkutanen Resorptionsraten und zu toxischen Erscheinungen kommen kann (z.B. nach Applikation von glukokortikoidhaltigen Salben). Auch die Expression und Aktivität der metabolisierenden Leberenzyme ist in der Kindheit variabel und kann je nach Zytochrom von verminderter bis zu schnellerer Metabolisierung, verglichen mit Erwachsenen, reichen. Entsprechend verlängert oder verkürzt sich die Halbwertszeit eines Wirkstoffes. Speziell bei Früh- und Neugeborenen führen höhere Anteile bezüglich Gesamtkörperwasser und des Extrazellulärvolumens sowie eine «durchlässigere» Blut-Hirn-Schranke zu verändertem Distributionsverhalten von Arzneimitteln. Bei Wirkstoffen, welche in erster Linie über die Niere ausgeschieden werden, ist bei Früh- und Neugeborenen zudem aufgrund der physiologischen Unreife der Niere mit einer (teilweise erheblich) verlängerten Halbwertszeit zu rechnen. Aufgrund der pharmakokinetischen Besonderheiten werden Kinder in verschiedene Altersgruppen eingeteilt (siehe Tabelle 2). Die Behörden verlangen für die entsprechende Zulassung Studien in der jeweiligen Altersgruppe, um aufgrund der pharmakokinetischen Daten, der Wirksamkeit und Verträglichkeit die passende Dosierung festlegen zu können.
bei Kindern und sollte nach Möglichkeit mit elektronischen Hilfsmitteln unterstützt werden. Das Kinderspital Zürich hat eine Datenbank mit pädiatrischen Dosierungen entwickelt und stellt dieses Wissen über eine Website mit integriertem Kalkulator medizinischen Fachpersonen in drei Sprachen (Deutsch, Französisch und Englisch) unter www.kinderdosierungen.ch zur Verfügung. Liegt eine Dosierungsangabe vor, welche sich meist auf das Körpergewicht oder die Körperoberfläche bezieht, so muss der Arzt zunächst die Dosierung für das jeweilige Kind berechnen. Anschliessend wird bei flüssigen Arzneiformen in einem weiteren Rechenschritt anhand der erforderlicher Substanzmenge und Konzentration das zu verabreichende Volumen oder die Anzahl Tropfen ermittelt. Oder der Arzt muss eine Rundung auf eine geeignete Einzeldosis vornehmen respektive eine passende Einzeldosis finden. Eine Falle für den Arzt oder auch den Apotheker kann die Angabe einer Dosierung in «mg/Tag verteilt auf 3 Gaben» sein. Interpretiert er die Tagesdosis als Einzeldosis, so kommt es zu Überdosierungen. Gemäss Verordnungsrichtlinien des Kinderspitals (14) darf deshalb ein Arzneimittel ausschliesslich in der Form «50 mg/Dosis, 3 × täglich» verordnet werden. Nicht erlaubt sind Angaben wie «150 mg in 3 Gaben». Selbstverständlich kommen weitere Überlegungen hinzu. Kann das Kind das Arzneimittel überhaupt schlucken oder muss eine orale flüssige Arzneiform verabreicht werden? Ist das Kind allenfalls adipös? Wie verteilt sich dann der Wirkstoff und wie muss allenfalls die Dosierung angepasst werden? Hat das Kind eine Nieren- oder Leberinsuffizienz und mit welchen Folgen für die Arzneimitteltherapie? Wie sieht es mit allfälligen Interaktionen bei Komedikation aus?
Unerwünschte Arzneimittelwirkungen
Wie bereits erwähnt, ist bei Kindern wegen der komplexen Anforderungen der Arzneimitteltherapie nicht nur mit mehr Medikationsfehlern zu rechnen, sondern auch mit mehr unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW). Die Inzidenz der UAW bei hospitalisierten Kindern liegt gemäss einer kürzlich veröffentlichten Übersicht bei 16 Prozent (7). Als einer der Risikofaktoren wird der Zulassungsstatus genannt. Wird ein Arzneimittel off label eingesetzt, ist das Risiko für eine UAW mehr als doppelt so hoch als bei einem zulassungsgemässen Gebrauch (8). UAW lassen sich teilweise nicht vermeiden, insbesondere solche, die dosisunabhängig auftreten, wie zum
Die Verordnung der korrekten Dosierung ist der fehleranfälligste Prozess der Arzneimitteltherapie bei Kindern.
Pädiatrische Dosierungen
Dosierungen bei Kindern sind nicht nur aufgrund der pharmakokinetischen Besonderheiten ein komplexes Thema. Die «korrekte» Dosierung eines Arzneimittels ist vielfach dem Pädiater überlassen, das heisst, er muss sich diese Informationen aus verschiedenen Quellen zusammensuchen. Oft ist schwierig abschätzbar, welche Evidenz hinter einer Angabe steckt. Zudem ist die Verordnung der korrekten Dosierung der fehleranfälligste Prozess der Arzneimitteltherapie
Tabelle 2: Altersgruppen gemäss Europäischer Arzneimittel-Agentur (EMA) (13)
Frühgeborene
Neugeborene Säuglinge und Kleinkinder Kinder Adoleszente
Neugeborene, Geburt vor der 37. vollendeten Schwangerschaftswoche 0 bis 27 Tage 28 Tage bis 23 Monate 2 bis 11 Jahre 12 bis 17 Jahre
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SCHWERPUNKT
Beispiel ein Stevens-Johnson-Syndrom oder eine toxische epidermale Nekrolyse unter Sulfonamiden, anderen Antibiotika, Antiepileptika oder auch nicht steroidalen Antirheumatika. Es kann bei Symptomen ohne klare Diagnosestellung jedoch lebensrettend sein, wenn die medizinischen Fachpersonen eine mögliche UAW in Betracht ziehen. Ebenso wichtig ist es, Patienten und Eltern über bekannte UAW in einem angemessenen Mass aufzuklären, damit sie erste Anzeichen als solche wahrnehmen und Massnahmen ergreifen können.
Medikationsfehler vermeiden
Über den gesamten Medikationsprozess kam es ge-
mäss einer Untersuchung von Kaushal et al. bei
5,7 Prozent aller Verordnungen bei hospitalisierten
Kindern zu einem Fehler; rund drei Viertel aller Fehler
erfolgten bei der ärztlichen Verordnung, wobei in
28 Prozent der Fälle eine falsche Dosierung verordnet
wurde (6). Bei mehr als der Hälfte (55%) aller hospita-
lisierten Kinder kam es während des Spitalaufenthalts
zu mindestens einem Medikationsfehler (6), bei er-
wachsenen Patienten betrug der
Tabelle 3: Evidenzbasierte Massnahmen zur Reduktion von Medikationsfehlern
Anteil nur 6 Prozent (9). Bei den komplexesten pädiatrischen Patienten auf der Intensivstation lag die Fehlerrate bei Verordnungen
bei 14 Prozent, die Hälfte davon
• elektronische Hilfsmittel
betraf die Dosierung (10).
• Durchführung von Doppelkontrollen
Welche evidenzbasierten Mass-
• Critical Incident Reporting System (CIRS) • Standardisierungen (inkl. Checklisten) • Reduktion von Unterbrechungen • Schulung von Gesundheitsfachpersonen • Involvierung/Schulung von Patienten • Optimierung der Logistik • Einführung von Farbcodierungen
nahmen bekannt sind, um Medikationsfehler zu vermeiden, ist in Tabelle 3 zusammengefasst (11). Eine Kombination der Massnahmen ist sinnvoll. Ein wichtiger Erfolgsfaktor für die Umsetzung derartiger Massnahmen ist nicht zuletzt die Unterstützung durch
gemäss Meyer-Massetti C et al., 2012 (11)
die Führungsebene einer Institution.
In einer Studie von Fortescue et al.
(12) wurde bei hospitalisierten Kindern untersucht, wel-
che Massnahme den grössten Effekt hinsichtlich der
Reduktion von Medikationsfehlern hat. Die Präsenz ei-
nes klinischen Pharmazeuten zum Monitoring der Arz-
neimitteltherapie von der Verordnung bis zur Verabrei-
chung hätte zu einer Vermeidung von 81 Prozent aller
Fehler geführt.
Ein grosser Effekt wird auch der Einführung der elek-
tronischen Verordnung (computerized physician order
Korrespondenzadresse: Dr. phil. nat. Priska Vonbach Projektleiterin «kinderdosierungen.ch 2.0» Kinderspital Zürich – Eleonorenstiftung Steinwiesstrasse 75 8032 Zürich E-Mail: priska.vonbach@kispi.uzh.ch
entry [CPOE]) mit klinischen Entscheidungshilfen (clinical decision support system [CDSS]) (Reduktion um 73%) sowie der Optimierung der Kommunikation innerhalb des Behandlungsteams (Reduktion um 76%) zugeschrieben. Die drei Strategien 1. elektronische Verordnung mit klinischen Entschei-
dungshilfen (CPOE mit CDSS), 2. klinische Pharmazeuten auf den Stationen und 3. verbesserte Kommunikation zwischen Ärzten, Pfle-
genden und Pharmazeuten werden als essenziell für die Reduktion von Medikati-
Literatur auf www.ch-paediatrie.ch abrufbar.
onsfehlern bezeichnet und als oberste Prioritäten für Kinderspitäler empfohlen.
Last but not least gibt es eine weitere Strategie, Medikationsfehler und unerwünschte Wirkungen zu minimieren, die im Alltag immer wieder zu kurz kommt: Das Arzneimittel, welches nicht gegeben werden muss, ist immer noch das Beste: Weniger ist oft mehr. Ein regelmässiges Hinterfragen der bestehenden Medikationsliste und ein allfälliges Stoppen überflüssiger Medikamente ist ebenso wichtig wie eine Neuverordnung aufgrund einer neu gestellten Diagnose.
E-Medication
Die Einführung und Nutzung elektronischer Hilfsmittel sind eine evidenzbasierte Strategie, um Medikationsfehler zu vermeiden (11) und kann, wie erwähnt, in Kombination mit klinischen Entscheidungshilfen in der Pädiatrie zu einer Fehlerreduktion um 73 Prozent führen (12). Allein die Einführung eines Dosischecks könnte einen Drittel der Fehler im gesamten Medikationsprozess eliminieren. Bereits der schnelle und einfache Zugriff auf die notwendige Information ist für die medizinischen Fachpersonen ein Gewinn. Apps für mobile Endgeräte sind zwar in Mode, deren tatsächliche Nutzung in der Praxis wird aber wohl eher überbewertet (15). Zudem fördert der niederschwellige, oft kostenlose Zugang einen teilweise unreflektierten Einsatz. Als Risiken bei der Nutzung medizinischer Apps werden des Weiteren die oft fehlende Transparenz der Datenherkunft, der Autorenschaft sowie fehlende Interoperabilität und das Nichtexistieren von Qualitätsstandards genannt (16). Vor der Nutzung einer medizinischen App (und auch sonstigen Informationsquellen) ist es trotz Aufwand ratsam, die Validität der Daten zu prüfen sowie die Stärken und Schwächen der App zu kennen. Sollen elektronische Datenbanken wesentlich zur Fehlerreduktion beitragen, müssen die Informationen prozessintegriert bei der elektronischen Verordnung (Arzt) oder bei der Dokumentation der Abgabe (Apotheker) zur Verfügung stehen. Im besten Fall wandern die Daten in die Datenbank eines klinischen Entscheidungshilfesystems (CDSS), welches dem Arzt und auch dem Apotheker eine Entscheidungshilfe anbietet und/oder als Alarmsystem in Hintergrund funktioniert und sich nur dann meldet, wenn es ein Problem gibt (z.B. eine zu hohe Dosierung). Das bereits oben erwähnte Tool des Kinderspitals Zürich (www.kinderdosierungen.ch) verfügt bereits über ein solches CDSS für die Berechnung von Dosierungen. In den kommenden Monaten wird dieses Tool weiterentwickelt, sodass es den medizinischen Fachpersonen im stationären wie auch ambulanten Bereich voraussichtlich ab Frühjahr 2018 als prozessintegrierbare Applikation zur Verfügung stehen wird. eMedication gibt Anlass zur Hoffnung hinsichtlich Vermeidung von Fehlern bei der Verordnung, bei der Zubereitung und bei der Abgabe von Medikamenten, insbesondere in der Pädiatrie. Die Validität der medizinischen Informationen und Entscheidungshilfen sowie auch die Performance und Benutzerfreundlichkeit der E-Medication-Tools müssen dabei einen qualitativ hohen Standard erfüllen, um eine Optimierung der Arzneimittelsicherheit bei Kindern auch tatsächlich zu erreichen.
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