Transkript
SCHWERPUNKT
Ingestion eines Fremdkörpers wochenlang übersehen
Ingestionen von Fremdkörpern sind ein häufiges Problem in der Kinderarztpraxis. Viele der Patienten zeigen jedoch nur eine transiente oder eine auf den ersten Blick in die Irre führende Symptomatik.
Von Anne-Katrin Harb und Raoul I. Furlano
Die Anamnese ist und bleibt das wichtigste Werkzeug des Arztes.
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I ngestionen von Fremdkörpern stellen in der Pädiatrie ein häufiges Problem dar. Betroffen sind vor allem junge Kinder im Alter zwischen 6 Monaten und 3 Jahren sowie, auch noch im späteren Alter, neurologisch auffällige Kinder (1). Eine spontane, komplikationslose Passage des Gastrointestinaltraktes ist glücklicherweise meist zu beobachten. Lediglich in zirka 20 Prozent der Fälle ist eine endoskopische Entfernung notwendig (2). Todesfälle sind in grossen pädiatrischen Studien nicht beschrieben, es finden sich jedoch einzelne Fallberichte in der Literatur (1). In den meisten Fällen handelt es sich um Fremdkörper im Essen: Münzen, Batterien, Spielzeug oder auch spitze Gegenstände wie Nadeln. Die häufigsten Komplikationen werden durch das Verschlucken von Fremdkörpern im Essen oder von Münzen und Batterien beobachtet. Je nach Art des Fremdkörpers sowie dessen Lage kann es zu verschiedenen Komplikationen kommen. Gefürchtet ist insbesondere die Perforation. Ein letaler Ausgang ist im Rahmen einer Fistelbildung zwischen Ösophagus und A. brachiocephalica beschrieben (3). Die meisten Konsultationen erfolgen wegen der Beobachtung des Ereignisses durch die Eltern. Viele der Patienten zeigen jedoch nur eine transiente Symptomatik oder sind asymptomatisch (1). Bei Symptomen wie retrosternalen oder abdominalen Schmerzen, Würgen, Erbrechen, Hämatemesis, vermehrtem Speichelfluss, Dysphagie, Nahrungsverweigerung, Meläna oder peritonitischer Bauchdecke ist jedenfalls an eine Fremdkörperingestion zu denken (4).
Der Fall
Ein 21 Monate alter Knabe wurde mit der Frage nach Fremdkörperaspiration bei akuter Tracheobronchitis mit inspiratorisch und exspiratorisch karchelnden Rasselgeräuschen vom Kinderarzt auf die Notfallstation des Universitätskinderspitals beider Basel zugewiesen. Bei Aufnahme präsentierte sich der Knabe in gutem Allgemeinzustand mit leicht karchelnder Atmung.
Ein in- und exspiratorischer Stridor konnte während forcierter Atmung vernommen werden. Intermittierend hatte der Knabe zudem heiseren Husten. Im zeitnah durchgeführten Röntgen des Thorax (a.p.) zeigte sich ein röntgendichter Fremdkörper in Projektion auf die distalen Halsweichteile beziehungsweise die obere Thoraxapertur, womit der Verdacht einer Fremdkörperingestion mit einem im Ösophaguseingang steckenden, zirka 2 cm im Durchmesser betragenden Fremdkörper gestellt wurde. In der Anamnese konnte eruiert werden, dass es bereits vor fünf Wochen zu einem Ereignis gekommen war, bei dem der Junge mit einem Trichter im Mund gespielt und plötzlich zu Würgen begonnen habe. Eine Fremdkörperingestion konnte nicht beobachtet werden. Jedoch verweigerte der Junge anschliessend feste Nahrung, welche er rezidivierend mit Schleim beim Anbieten heraufwürgte. Lediglich Flüssignahrung und Brei wurden toleriert. Im Verlauf kam es weiterhin zu persistierenden Hustenanfällen mit Abgang von Schleim. Es erfolgten Konsultationen beim Kinderarzt sowie bei einem Facharzt für HNO. Die Symptomatik imponierte den Ärzten stets wie ein Luftwegsinfekt und wurde daher von den jeweils beurteilenden Ärzten mit Ventolin und mukolytischen Arzneimitteln behandelt. Über eine Woche vor Zuweisung auf die Notfallstation erfolgte zudem eine Selbstvorstellung in einer Notfallpraxis. Die Symptomatik mit persistierendem Husten, leichter Atemnot und karchelnder Atmung wurde bei bestem Allgemeinzustand erneut als viraler Infekt der Atemwege beurteilt und die Therapie mit VentolinInhalationen fortgeführt. In Kenntnis der möglichen letalen Komplikation wird in einer der endoskopischen Entfernung vorhergehenden CT-Untersuchung bei diesem Knaben eine Fistelung in Richtung der Gefässe ausgeschlossen. Anschliessend wird eine 10-Rappen-Münze mittels Münzenzange aus einer entstandenen Schleimhauttasche des Ösophagus ohne Verletzung der Mukosa
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SCHWERPUNKT
oder entstehender Nachblutung entfernt. Die Möglichkeit einer tracheoösophagealen Fistel wird mit anschliessendem Einblasen von Luft über ein eingeführtes Bronchoskop praktisch ausgeschlossen. Postinterventionell dient eine angenähte Nasen-MagenSonde noch zur vorübergehenden Schienung und Verhinderung einer möglichen Stenosierung des Ösophagus bei den durch die lange impaktierte Münze hervorgerufenen Schleimhauttaschen und -läsionen. 4 Tage später erfolgt die Entlassung, nach weiteren 2 Tagen eine Kontrollendoskopie, welche lediglich noch zwei zirka 3 mm grosse Pseudopolypen als Residuen zeigt.
Was lernen wir aus diesem Fall?
Die genaue Anamneseerhebung bezüglich Beobachtung einer möglicher Fremdkörperingestion stellt den Grundpfeiler in der Diagnostik dar. Dies vor allem auch in Fällen asymptomatischer Kinder. Neben der klinischen Untersuchung kann mit der dritten Säule, der Bildgebung, die Verdachtsdiagnose erhärtet, jedoch keinesfalls ausgeschlossen werden (1). Besonders in diesem Fall ist das Vorhandensein von zwei wichtigen Säulen der Diagnostik zu erwähnen – die vorhandene positive Anamnese bezüglich möglicher Fremdkörperingestion sowie die Symptomatik des Patienten. Auch die Symptome eines scheinbar banalen pädiatrischen Krankheitsbildes können in Verbindung mit einigen wenigen konkreten Fragen in der Anamnese die Richtung der Diagnostik zu selteneren beziehungsweise schwerwiegenderen Differenzialdiagnosen lenken.
In diesem Fall kam es im Rahmen mehrfacher Konsultationen durch verschiedene Ärzte zu einer Verzögerung der Diagnosestellung von über fünf Wochen. Gerade die Verzögerung der Diagnosestellung stellt einen hohen Risikofaktor für das Auftreten von Komplikationen dar. Studien haben gezeigt, dass ein liegender Fremdkörper von über 24 Stunden der wichtigste Risikofaktor für das Auftreten schwerer Komplikationen, wie Verletzung der Ösophagusschleimhaut, Blutung, Striktur oder Obstruktion ist (1). Im Nachhinein ist man immer schlauer – vor allem aber wenn man aus Fehlern lernt.
Korrespondenzadresse: PD Dr. med. Raoul I. Furlano Leiter pädiatrische Gastroenterologie Universitäts-Kinderspital beider Basel Spitalstrasse 33 4056 Basel E-Mail: raoul.furlano@ukbb.ch
Literatur: 1. Gilger MA et al.: Foreign bodies of the esophagus and gastrointestinal tract in children. UpToDate®; topic last updated: Mar 16, 2017; www.uptodate.com 2. Tringali A et al.: Pediatric gastrointestinal endoscopy: European Society of Gastrointestinal Endoscopy (ESGE) and European Society for Paediatric Gastroenterology Hepatology and Nutrition (ESPGHAN) Guideline Executive summary. Endoscopy 2017; 49 (1): 83–91. 3. Gregori D et al.: Ingested foreign bodies causing complications and requiring hospitalization in European children: Results from the ESFBI study. Pediatr Int 2010; 52 (1): 26–32. 4. Furlano R et al.: Fremdkörper-Ingestion im Kindes- und Jugendalter. Paediatrica 2016; 27 (4): 25–26.
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