Transkript
SCHWERPUNKT
Behandlungsbedürftige Skoliose als Zufallsbefund
Eine nur zufällig entdeckte Skoliose gibt zu denken: Könnte man solche Fälle durch ein konsequenteres Screeningprogramm vermeiden? Was spricht dafür, was dagegen?
Von Kathrin Studer, Harald Lengnick, Harry Klima und Erika Payne
D ie Prävalenz der Adoleszentenskoliose mit einem Cobb-Winkel von über 10 Grad beträgt 2 bis 3 Prozent (1). Mädchen sind 1,5bis 3-mal häufiger betroffen als Jungen. Es bestehen Theorien zur Entstehung einer Skoliose, zum Beispiel aufgrund von hormonellem oder muskulärem Ungleichgewicht und asymmetrischem Wirbelkörperwachstum. Eine genetische Komponente bei familiärer Häufung ist hingegen wahrscheinlicher. Zurzeit wird der Vorneigetest als beste Screeningmethode zur Beurteilung eines thorakalen Rippenpakets oder eines lumbalen Lendenwulstes mit Skoliometermessung nach Bunnell empfohlen (2, 3). Weder das optimale Alter noch die erforderliche Häufigkeit für ein Wirbelsäulenscreening sind bekannt. Der Höhepunkt des Wachstumsschubs findet bei 95 Prozent der Mädchen zwischen dem 10. und 14. Lebensjahr statt (im letzten Jahr vor Einsetzen der Menarche ist das Längenwachstum deutlich grösser als in den Jahren davor und danach) und bei 95 Prozent der Jungen zwischen dem 12. und 16. Lebensjahr (4). Es wird kontrovers diskutiert, ob ein universelles Skoliosescreening tatsächlich einen Nutzen bringt.
Skoliosescreening: Ja oder Nein?
Die Diagnose dieser Adoleszentenskoliose stellt in unserem Fallbeispiel trotz des radiologischen und therapiebedürftigen Ausmasses mit Einleitung einer Korsettbehandlung einen Zufallsbefund dar. Könnte man solche Fälle durch ein konsequenteres Screeningprogramm vermeiden? Die klinischen Möglichkeiten zur Erkennung einer Skoliose sind begrenzt. Der Vorneigetest mit Messung eines Rippenpakets oder eines Lendenwulstes mit dem Skoliometer gilt als bestes Mittel zum Erfassen einer Skoliose in der alltäglichen Sprechstunde (2). Gemäss Studienlage hätte solch ein Programm keinen Nutzen (6, 7). Im Bericht der U.S. Preventive Services Task Force wird ein generalisiertes Skoliosescreeningprogramm darum nicht empfohlen (5). In einer Studie von Luk et al. mit der Analyse von 115 000 Schülern wird die Sensitivität der klinischen
Fallbericht
Eine 14-jährige Patientin stellte sich beim Hausarzt aufgrund von persistierenden lumbalen Schmerzen nach einem Sturz auf das Sakrum vor. In der klinischen Untersuchung zeigte sich im Stand eine leichte Beckenverschiebung nach rechts sowie eine leichte Taillenasymmetrie. Bei Inklination zeigte das Skoliometer geringe pathologische Werte, minimal rechts thorakal angehoben 3 Grad und lumbal links 2 Grad, also kein stark auffallendes Rippenpaket. Aufgrund der minimalen Befunde wäre eigentlich kein Röntgenbild indiziert. Es wurde aber wegen der persistierenden Schmerzen durchgeführt. Umso erstaunlicher war der Befund: Im Röntgenbild zeigte sich eine deutliche thorakolumbale Skoliose (Abbildung 1).
Der Cobb-Winkel betrug bei thorakaler rechtskonvexer Hauptkrümmung 20 Grad, die Gegenangulation lumbal linkskonvex 9 Grad. Bei Risser-Stadium 2 bis 3 sowie der Diagnose noch vor der Menarche und damit noch sehr deutlichem Rest-Wachstumspotenzial wurde eine Korsetttherapie mit begleitender Physiotherapie nach Schroth empfohlen (Abbildung 2). Das Korsett bewirkte bei primärer klinischer und radiologischer Kontrolle eine zufriedenstellende Skoliosekorrektur. Auch im Verlauf (1 Jahr nach Behandlungsbeginn) zeigte sich ein erfreulicher klinischer und radiologischer Befund.
Abbildung 1: Initiale Röntgenkontrolle, Skoliose als Zufallsbefund
Abbildung 2: Kontrolle der Korrektur im Korsett
5/17
7
SCHWERPUNKT
Diagnostik für Kurven mit einem Cobb-Winkel über 20 Grad mit 88,1 Prozent und die Sensitivität für die Behandlung mit 80 Prozent angegeben (8). Von den untersuchten Kindern wurden 2,8 Prozent zum Röntgen überwiesen (8). Im Gegensatz dazu wurde in einer anderen Studie von Yawn et al. (9) nach einem Screening von 2242 Kindern ein Anteil von 4,1 Prozent zur weiteren Diagnostik überwiesen. Der Prädiktivwert für eine behandlungsbedürftige Skoliose war sehr tief: 448 Kinder mussten untersucht werden, um 1 Kind zu finden, das tatsächlich einer Behandlung bedurfte. Für die klinische Diagnostik von Kurven mit einem Cobb-Winkel über 20 Grad wurde eine Sensitivität von 64 Prozent (95%-Konfidenzintervall: 45–83%) angegeben. Die Sensitivität für das Erkennen der Behandlungsbedürftigkeit wurde mit 56 Prozent (95%-Konfidenzintervall: 23–88%) angegeben (9), das heisst, von 100 Adoleszenten, welche eine Behandlung brauchten, würden demnach 44 nicht erkannt.
Was lehrt uns dieser Fall?
Unsere Jugendliche gehörte zu denjenigen Patienten, die im Vorfeld nie aufgefallen sind und demnach auch durch solch ein Screening nicht entdeckt worden wä-
ren. In unserem Fall hatte die Patientin seit längerer Zeit lumbale Schmerzen, die in Ausnahmefällen auch einmal auf eine Skoliose zurückgehen können. Bei Vorstellung führte man die Symptomatik auf den Sturz zurück. In der klinischen Untersuchung war unsere Patientin weitgehend unauffällig. Die Werte von 2 und 3 Grad mit dem Skoliometer können leicht übersehen werden. Eine routinemässige Röntgendiagnostik einzuleiten, ist bei diesem klinischen Mass nicht üblich, weil der Vorneigetest bei nur 2 bis 3 Grad auch falsch positiv sein und zu unnötiger Röntgendiagnostik mit nicht zu unterschätzender Strahlenbelastung führen kann. Gemäss Empfehlungen ist ein Röntgenbild erst ab 5 bis 7 Grad indiziert (1, 10). Die radiologische Abklärung der Wirbelsäule in unserem Fallbeispiel erfolgte primär aufgrund der anhaltenden Schmerzsymptomatik. Nur 5 Prozent der Patienten mit einem Cobb-Winkel über 10 Grad entwickeln eine Verschlechterung ihrer Skoliose bis hin zu über 30 Grad (1). Es ist nicht vorhersehbar, bei welchem Patienten dies eintreten wird und bei welchem nicht. Darum müssen wir alle Patienten mit wenig auffälligen Verläufen bis zum Wachstumsende kontrollieren. Eine frühe Erkennung und Therapieeinleitung, sei es durch spezielle Physio-
KOMMENTAR Skoliosen rechtzeitig entdecken
Idiopathische Adoleszentenskoliosen werden nicht selten erst in fortgeschrittenen Stadien erkannt. Von den operationsbedürftigen Patientinnen sehen wir an unserer Klinik mehr als die Hälfte mit einem Cobbwinkel von mehr als 50 Grad bei Erstzuweisung! Dafür gibt es mehrere Gründe: • In der Regel verursachen auch schwere Krümmungen keine Schmerzen, am ehes-
ten noch die lumbalen. • Im Stehen sind sie schlecht zu erkennen, es sei denn, es liegt eine starke Taillen-
asymmetrie (thorakolumbale Skoliosen) oder ein ausgeprägter Schulterhochstand vor. Im Alltag steht man so gut wie nie gleichbelastet auf zwei Beinen wie beim orthopädischen Status und wird nicht direkt von hinten gesehen, geschweige denn beim Vornüberbücken beobachtet, das heisst, man muss gezielt danach suchen. • Perimenarchal kann es zu einer schnellen Zunahme kommen. • In der Regel handelt es sich um gesunde Adoleszente, die von ihren Kinder- und Hausärzten nach dem zehnten Lebensjahr nicht mehr so oft gesehen werden. • Pathogenetisch liegt ein vermehrtes ventrales Wirbelsäulenwachstum vor (1, 2), das heisst, es kommt zur Abflachung (Lordosierung) der natürlichen Brustkyphose, was prima vista als aufrecht und rückengesund wahrgenommen wird, ganz im Gegensatz zur meist harmlosen Haltungsproblematik mit Rundrücken bei Adoleszenten, welche von den beunruhigten Eltern zugewiesen werden. • In der Pubertät ändert die Selbstwahrnehmung, und die Patientinnen und Patienten werden auch von ihren Eltern nicht mehr oft mit entblösstem Oberkörper gesehen. Man ist nicht mehr zusammen im Badezimmer am Morgen und auch nicht mehr in der Badi im Sommer. • Der Mensch ist physiologischerweise nicht symmetrisch gebaut und weist eine natürliche Wirbelrotation, Thoraxasymmetrie und einen Rippenbuckel bis zu 4 Grad auf (3). Wie im Artikel korrekt dargelegt, ist das flächendeckende Screening, vor allem angesichts der sehr individuellen zeitlichen Reifung, umstritten. Keine Methode wird 100 Prozent Sensitivität erreichen. Medizin bleibt die Kunst des Abwägens von Wahrscheinlichkeiten, basiert auf Erfahrung, Wissen und Vernunft. Am erfolgversprechendsten sind daher wohl eine Kombination von erfahrenen, geschulten Fachleuten, gezielter Untersuchung von Patienten mit hohem Risikoprofil und eine sensibilisierte Bevölkerung. Auf die Skoliosedetektion umgemünzt heisst das:
1. Schulung der Kinder- und Hausärzte, wie man einen Rippenbuckel und Lendenwulst korrekt untersucht und dokumentiert. Das ist keine Hexerei, aber es gibt einige wichtige Details: Der Test braucht sehr wenig Zeit und sollte zwischen 10 und 16 Jahren routinemässig durchgeführt werden. Dazu braucht es unbedingt als einfaches und zuverlässiges Instrument ein Skoliometer! Bei Rippenbuckel/ Lendenwulst > 5 Grad sollte die Zuweisung in eine spezialisierte, kinderorthopädische Einrichtung und im Zweifelsfall eine Röntgenuntersuchung erfolgen, bevorzugt mit einem strahlungsarmen Verfahren zum Beispiel mit dem EOS-Verfahren (4).
2. Schlanke, gross gewachsene Mädchen sowie Kinder aus Familien mit Skoliose sollten 2- bis 3-mal pro Jahr gesehen werden (5).
3. Die Skoliose-Selbsthilfegruppe der Schweiz (www.skoliose-schweiz.ch) hat in den letzten Jahren grosse Anstrengungen unternommen, Betroffene zu unterstützen und die Bevölkerung zu sensibiliseren, zum Beispiel mit Aufklärungsspots zum Vorneigetest. Zudem kann man auf deren Homepage ein Positionspapier zur Skoliose herunterladen, in dem viel Wissenswertes auf verständliche Art und Weise vermittelt wird.
Prof. Carol C. Hasler Chefarzt Orthopädie Universitäts-Kinderspital beider Basel
Literatur: 1. Guo X et al.: Relative anterior spinal overgrowth in adolescent idiopathic scoliosis-result of disproportionate endochondral-membranous bone growth? Summary of an electronic focus group debate of the IBSE. Eu Spine J 2005; 14(9): 862–873. 2. Schlosser TP et al.: Anterior overgrowth in primary curves, compensatory curves and junctional segments in adolescent idiopathic scoliosis. PloS one 2016; 11(7): e0160267. 3. Kouwenhoven JW et al.: Analysis of preexistent vertebral rotation in the normal spine. Spine 2006; 31 (13): 1467–1472. 4. Newton PO et al.: New EOS imaging protocol allows a substantial reduction in radiation exposure for scoliosis patients. Spine deformity 2016; 4 (2): 138–144. 5. Grauers A et al.: Genetics and pathogenesis of idiopathic scoliosis. Scoliosis Spinal Dis 2016; 11: 45.
8 5/17
SCHWERPUNKT
therapie (11) oder auch durch Korsetttherapie (12), kann die Zunahme der Deformität aufhalten. Unser Beispiel dokumentiert einen seltenen Fall und sollte deshalb nicht zu einer Überreaktion mit vermehrter Röntgendiagnostik führen. Dennoch sollte man bei Mädchen zwischen 10 und 14 Jahren und Jungen zwischen 12 und 16 Jahren im Rahmen einer Vorstellung in der haus- oder kinderärztlichen Sprechstunde immer den Rücken klinisch beurteilen. Hierbei sollte auf Beinlängendifferenz, Schulterhochstand, Taillenasymmetrie mit Beckenprominenz, Rippenpaket oder Lendenwulst beim Vorneigetest wie auch das Lot geachtet werden. Bestehen hier Auffälligkeiten sollte der Adoleszente engmaschig kontrolliert und grosszügig zur kinderorthopädischen Beurteilung zugewiesen werden.
Schlussfolgerungen
• Die Adoleszentenskoliose ist ein ernsthaftes Krankheitsbild. Besonderes Augenmerk gilt Mädchen zwischen 10 und 14 Jahren, insbesondere bei familiärer Belastung.
• Trotz gewissenhafter haus- oder kinderärztlicher Untersuchung können manche Patienten mit äusserst diskreter Klinik bei asymptomatischem Verlauf unerkannt bleiben.
• Der Nutzen eines Screeningprogramms zur Vermeidung verzögerter Diagnostik und dann meist fortgeschrittener Deformität wurde bisher nicht bestätigt (5–7).
• Eine gezielte Untersuchung der Wirbelsäule im 10. und 12. Lebensjahr für Mädchen beziehungsweise 13. und 14. Lebensjahr für Jungen ist in der hausärztlichen Praxis aber empfehlenswert (13).
• Bei Auftreten von Rückenschmerzen sollte in dieser Patientengruppe eine Abklärung im Hinblick auf eine Skoliose oder andere Wirbelsäulenpathologien grosszügig durchgeführt werden.
Literatur: 1. Negrini S, Aulisa AG, Aulisa L et al.: 2011 SOSORT guidelines: Orthopaedic and rehabilitation treatment of idiopathic scoliosis during growth. Scoliosis 2012; 7: 3. 2. Labelle H, Richards SB, De Kleuver M et al.: Screening for adolescent idiopathic scoliosis: an information statement by the scoliosis research society international task force. Scoliosis 2013; 8: 17. 3. Bunnell WP: An objective criterion for scoliosis screening. J Bone Joint Surg Am Vol 1984; 66: 1381–1387. 4. Gerver WJ, De Bruin R: Relationship between height, sitting height and subischial leg length in Dutch children: presentation of normal values. Acta Paediatr 1995; 84: 532–535. 5. Force USPST: Final recommendation statement: idiopathic scoliosis in adolescents: screening. June 2004. www.uspreventiveservicetaskforce.org/Page/Document/RecommendationStatementFinal/idiopathic-scoliosis-in-adolescents-screening. accessed 2015 Aug 30. 6. Bunge EM, Juttmann RE, van Biezen FC et al.: Estimating the effectiveness of screening for scoliosis: a case-control study. Pediatrics 2008; 121: 9–14.
7. Deurloo JA, Verkerk PH: To screen or not to screen for adolescent idiopathic scoliosis? A review of the literature. Public Health 2015; 129: 1267–1272. 8. Luk KD, Lee CF, Cheung KM et al.: Clinical effectiveness of school screening for adolescent idiopathic scoliosis: a large population-based retrospective cohort study. Spine 2010; 35: 1607–1614. 9. Yawn BP, Yawn RA, Hodge D et al.: A population-based study of school scoliosis screening. JAMA 1999; 282: 1427–1432. 10. Hefti F: Kinderorthopädie in der Praxis. Springer Verlag, 3. Auflage. 11. Monticone M, Ambrosini E, Cazzaniga D et al.: Active self-correction and task-oriented exercises reduce spinal deformity and improve quality of life in subjects with mild adolescent idiopathic scoliosis. Results of a randomised controlled trial. Eur Spine J 2014; 23: 1204–1214. 12. Katz DE, Herring JA, Browne RH et al.: Brace wear control of curve progression in adolescent idiopathic scoliosis. J Bone Joint Surg Am Vol 2010; 92: 1343–1352. 13. Hresko MT, Talwalkar V, Schwend R et al.: Early detection of idiopathic scoliosis in adolescents. J Bone Joint Surg Am Vol 2016; 98:e67.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Kathrin Studer Kinderorthopädie Ostschweizer Kinderspital Claudiusstrasse 6 9006 St. Gallen E-Mail: kathrin.studer@kispisg.ch
5/17
9