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SCHWERPUNKT
Sexualaufklärung bei Kleinkindern
Themen, Herausforderungen und Mythen
Wenn Eltern oder Fachpersonen in Einrichtungen wie Kita oder Kindergarten mit sexuell gefärbten kindlichen Handlungen konfrontiert werden, suchen sie auch bei Kinderärztinnen und Kinderärzten Rat. In diesem Artikel wird erläutert, was Sexualaufklärung für Kinder im Vorschulalter und die mit ihnen professionell Arbeitenden bedeutet.
Von Daniel Kunz
Eltern oder Fachpersonen beobachten beispielsweise, dass ein Kind wiederholt beim Spielen die Schenkel zusammenpresst und sich so offenbar sexuell erregt beziehungsweise einen Orgasmus provoziert. Oder es werden sexuell gefärbte Spiele beobachtet, wie «Dökterle» beziehungsweise «Vater-Mutter-Kind», bei denen sich Kinder voreinander entblössen und die erwachsenen Bezugspersonen irritieren. Befürchtungen, dass auf diese Weise geltende Regeln überschritten und durch Grenzverletzungen längerfristig Entwicklungsbeeinträchtigungen verursacht werden, rücken die kindliche Sexualität dann in den Fokus der Aufmerksamkeit. Die kindliche sexuelle Entwicklung hat viele Facetten wie Geschlechtsidentität, sexuelle Orientierung und geschlechtsbezogenes Rollenverhalten. Hierzu gehören auch die Entdeckung des eigenen Körpers im Zusammenhang mit Lust und Erregung sowie daraus folgend Nähe und Abgrenzung (1). Gleich- und gegengeschlechtliche explorative Doktorspiele lassen sich bei 30 bis 40 Prozent der Kleinkinder beobachten; dabei steht das blosse Anschauen im Vordergrund, und weiterführende Handlungen sind selten (2). Der vorliegende Aufsatz beschäftigt sich aus dieser Perspektive mit dem soziosexuellen Verhalten von Kleinkindern als Aufgabe professioneller Begleitung, insbesondere weil dies in Kita und Kindergarten wiederholt Fragen bei Eltern und Bezugspersonen hervorruft. Er ist ein Beitrag zur Beruhigung und Versachlichung, nicht zuletzt weil der pädagogische Umgang mit Kindern vor dem Schuleintritt auch stets mit starken Emotionen besetzt ist. Er leistet eine Begriffsklärung und die Einordnung des Gegenstands in normative Vorgaben sowie fachwissenschaftliche Abstützung. Anhand wissenschaftlicher Untersuchungsergebnisse wird erläutert, was Sexualaufklärung für Kinder im Vorschulalter und für die mit ihnen professionell Arbeitenden bedeutet. Vor diesem Hintergrund werden die speziellen Herausforderungen an die Pro-
fessionellen in der Sexualaufklärung mit der Zielgruppe zusammenfassend dargestellt und Schlussfolgerungen für die Praxis formuliert.
Sexualaufklärung aus fachlicher Sicht
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat 2011 eine Definition zu Inhalt und Ziel der Sexualaufklärung von Kindern und Jugendlichen veröffentlicht (3): Sexualaufklärung vermittelt Kindern und Jugendlichen schrittweise Informationen, Fähigkeiten und positive Werte und befähigt sie, ihre Sexualität zu verstehen und zu geniessen, sichere und erfüllende Beziehungen einzugehen sowie verantwortlich mit ihrer eigenen sexuellen Gesundheit und der ihres Partners umzugehen. Ihr vorrangiges Ziel bei Kindern und Jugendlichen besteht in der Förderung und dem Schutz der sexuellen Entwicklung. Diese Definition beschreibt umfassende Sexualaufklärung, das heisst fachlich fundierte pädagogische Vermittlung, die physische, psychische und soziale Aspekte der Sexualität berücksichtigt und sexualitätsbezogene Inhalte so in einen allgemeinen Lebenskontext setzt, dass sie für die Zielgruppe nachvollziehbar und verständlich werden. Zudem orientiert sie sich in Auswahl und Bearbeitung ihrer Themen an Lebensphasen, vermittelt nur alters- und entwicklungsadäquate Informationen und berücksichtigt in besonderem Masse Lebensrealität und Lebenssituation, ist also situationsadäquat und bedürfnisorientiert. Das hier zugrunde gelegte Verständnis umfassender Sexualaufklärung bedingt auch ein umfassendes Verständnis von Sexualität. Umfassend heisst hier vollständig und nicht partikular, wie beispielsweise durch die Vermittlung einer Sexualaufklärung mit rein körperlich-biologischer Konzeption, welche sich auf die menschliche Fortpflanzung und Entwicklung im Rahmen des Biologieunterrichts beschränkt. Oder eine Sexualaufklärung, die aus moralischen Gründen aus-
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Sexuelle Aufklärung orientiert sich situationsadäquat und bedürfnisorientiert an Lebensphasen.
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Ausdrucksformen kindlicher Sexualität unterscheiden sich grundlegend von der Sexualität Erwachsener.
schliesslich auf Abstinenz und Treue fokussiert und psychische wie körperliche Aspekte ausblendet oder gar alles meidet, was mit Sexualaufklärung in Verbindung gebracht wird und so die psychischen Aspekte von Orientierung und Sicherheit negiert. Zudem ist ein umfassendes Verständnis von Sexualität in allen Lebensphasen ein bedeutsamer Faktor für den Erhalt und die Förderung sexueller Gesundheit (4, 5). Aus dieser Perspektive stellt sich die Frage, wie und inwiefern das Thema Sexualität Kleinkinder überhaupt betrifft. In der Auseinandersetzung mit dieser Konzeption müssen sich Erwachsene bewusst machen, dass sie bei der Bewertung des soziosexuellen Verhaltens von Kindern nicht von ihrer eigenen Perspektive einer Erwachsenensexualität ausgehen dürfen (6). Sachlich richtiger und emotional weniger überfrachtet wäre es, hier von Ausdrucksformen kindlicher Sexualität zu sprechen, denn das beobachtbare soziosexuelle Verhalten unterscheidet sich qualitativ grundlegend von der Sexualität Erwachsener. Die Verwendung dieses Begriffs könnte ausserordentlich hilfreich sein, um die im Arbeitsalltag notwendige Unterscheidung nachvollziehbarer zu machen und zu verdeutlichen. Die Andersartigkeit soll eine allgemeine Übersicht in der Tabelle verdeutlichen, die einige wichtige Unterschiede darstellt, aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt (7).
Themen der Sexualaufklärung im Vorschulalter
Die Ausdrucksformen kindlicher Sexualität und die unterschiedliche Bedeutung von Sexualität in den Lebensphasen bilden sich auch in den von WHO und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) formulierten Standards für Sexualaufklärung ab, die eine Empfehlung für die pädagogische Begleitung darstellen (8). Für das im vorliegenden Aufsatz angesprochene soziosexuelle Verhalten in Einrichtungen sind insbesondere zwei Themen von Interesse: • der menschliche Körper und seine Entwicklung
sowie • Sexualität, Gesundheit und Wohlbefinden. Mit Blick auf den Entwicklungsstand der Kinder von 0 bis 6 Jahren bedeutet dies, dass die Aufklärung Möglichkeiten erhalten soll, ein positives Körper- und
Tabelle Unterscheidung von Ausdrucksformen der kindlichen Sexualität und der Erwachsenensexualität
Ausdrucksformen kindlicher Sexualität spontan, neugierig, spielerisch nicht auf zukünftige Handlungen gerichtet egozentrisches Schaffen von Wohlgefühl, z.B. beim Kuscheln und Schmusen Neugier und Erkundungsverhalten, sogenannte Doktorspiele sexualitätsbezogene Handlungen nicht als sexuelles Agieren wahrgenommen
Erwachsenensexualität zielgerichtet, hauptsächlich genital Erotik durch Aufschieben der Erfüllung häufig beziehungsorientiert
Abstraktionsvermögen hinsichtlich Sexualität und ihrer Folgen sexuelle Handlungen als Erfüllung des Begehrens
Selbstbild beziehungsweise Selbstwertgefühl zu entwickeln sowie Körperteile benennen zu können. Hierher gehört auch, dass die Kinder gute und schlechte Körperwahrnehmungen zu unterscheiden lernen, eine Wertschätzung für den eigenen Körper erwerben und bei unerwünschten Berührungen Nein sagen und Hilfe holen können.
Rechtliche Rahmenbedingungen und die Politik
Neben der Klärung des Begriffs einer Sexualaufklärung im Vorschulalter bestehen für pädagogisch Tätige durch normative Vorgaben definierte Rahmenbedingungen, die ihnen ein professionelles Handeln ermöglichen oder beschränken und ihnen die notwendige Handlungssicherheit gewährleisten. Diese normativen Vorgaben sind im Bundesgerichtsentscheid in Bezug auf Dispensation von Sexualkunde im Kindergarten umrissen (9): • Die Hauptverantwortung der Sexualerziehung für
Kindergartenkinder und Primarschüler liegt bei den Eltern beziehungsweise bei den Erziehungsberechtigten. • Der Eingriff in das Erziehungsrecht der Eltern durch die Vermittlung von Sexualaufklärung in Kindergarten und Grundschule ist gerechtfertigt, da die Prävention von sexuellen Übergriffen sowie der Schutz der Gesundheit der Kinder von relevantem öffentlichem Interesse sind. Vor dem Hintergrund der später zurückgezogenen Volksinitiative «Schutz vor Sexualisierung in Kindergarten und Primarschule» hat der Bundesrat etwa zur gleichen Zeit eine Botschaft zu dieser Initiative verfasst (10). Die Initiative hatte zum Ziel, Sexualerziehung ausschliesslich zur Elternsache zu erklären, die obligatorische Sexualkunde in der Schule auf das 12. Lebensjahr festzulegen und diese auf den Biologieunterricht und damit auf die Vermittlung rein biologisch-medizinischer Fakten zu beschränken. Zudem sollte die Prävention von sexuellem Missbrauch ab dem Kindergarten ohne sexualkundliche Bezüge umgesetzt werden. Inhaltlich nahm der Bundesrat die normative Vorgabe des Bundesgerichts auf und bekräftigte das öffentliche Interesse, allen Kindern Schutzmassnahmen vor sexualisierter Gewalt zur Verfügung zu stellen. Zudem skizzierte er noch einmal die Zielsetzung, nach der schulische Programme zur Prävention von sexualisierter Gewalt an Kindern zum Ziel haben, deren Wissen und Selbstschutzfähigkeiten zu erhöhen, damit potenzielle Gefährdungssituationen gemieden werden und Kinder sich besser schützen können. Zudem machte der Bundesrat deutlich, dass eine Prävention von sexuellem Missbrauch ohne altersgerechte Vermittlung von Wissen und Kompetenzen über sexualkundliche Grundbegriffe nicht möglich ist und so keine nachhaltige Prävention erfolgen kann (11).
Fachwissenschaftlich abgestützte Daten
Die Konzeption einer umfassenden Sexualaufklärung sowie deren normative und politische Legitimation, auch im Zusammenhang mit der Prävention von se-
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xuellem Missbrauch, begründen Untersuchungen zu Opfererfahrungen im Lebenslauf. Die Optimus-Studie von 2012 zeigt eindrücklich, dass Opfererfahrungen in allen Lebensphasen zwischen früher Kindheit und Adoleszenz möglich sind (12). Vor diesem Hintergrund ist es plausibel, wenn die Prävention von sexualisierter Gewalt früh einsetzt und entsprechende Kompetenzen aufbauend vermittelt. So wird den unterschiedlichen Lebensrealitäten der Kinder und Jugendlichen mit Blick auf ihr Bedürfnis nach Sicherheit und Orientierung Rechnung getragen. Eine weitere wissenschaftliche Abstützung bilden Analysen zur Wirksamkeit von Programmen zur Prävention von sexuellem Missbrauch (13). Sie belegen, dass diese ohne entsprechende alters- und entwicklungsadäquate Sexualaufklärung nicht ausreichend für den Schutz der sexuellen Integrität von Heranwachsenden sind, denn eine Prävention von sexuellem Missbrauch, die nicht in eine Sexualaufklärung eingebettet ist und sich nur auf «Nein-Sagen, Weglaufen und Hilfeholen» beschränkt, vermittelt Kindern eine für sie nicht näher bestimmbare Situation und unscharfe Kriterien zum Erkennen des Missbrauchs. In solchen Fällen fehlt ohne Sexualaufklärung daher spezifisches Kontextwissen, um sich adäquat zu schützen. Sexualaufklärung vermittelt Kindern also unter anderem achtsam, was sexueller Missbrauch ist. Sie erreicht, dass dieser durch sexualitätsbezogene Informationen erfassbar und für Kinder zu erkennen ist. Sie erreicht dies, indem sie beispielsweise • die Geschlechtsorgane konkret und korrekt be-
zeichnet • angemessene und nicht angemessene Verhaltens-
weisen unter Kindern darstellt • eine deutliche Abgrenzung dieser Verhaltenswei-
sen gegenüber Erwachsenen vornimmt • deutlich vermittelt, dass Erwachsene wissen, dass
sie keine sexuellen Berührungen mit Kindern haben dürfen. Institutionalisierte Sexualaufklärung im Vorschulalter ist also aus dieser Perspektive eine Sozialisationshilfe, die einen Beitrag leistet, Kinder im sicheren Zusammenleben zu unterstützen und in der Persönlichkeitsentwicklung, ihrer Selbstachtung und sozialen Verantwortung zu stärken.
Bedeutung für die professionelle Begleitung
In der Sexualaufklärung mit Kindern im Vorschulalter ist fachliche Auseinandersetzung besonders bedeutsam, damit Professionelle eine realistische Einschätzung dieser Arbeit und ihrer Reichweite erhalten. Das schützt vor Überidentifikation und Rettungsfantasien, beispielsweise dass die Sexualaufklärung mit Kleinkindern gleichbedeutend mit der Arbeit an einer später erfüllten Erwachsenensexualität sei, wie körperorientierte Psychotherapieverfahren oft implizieren. Zudem können professionell Tätige ihre Vorurteile und Berührungsängste gegenüber dem Thema abbauen. Konkret bedeutet dies: • fachliche Auseinandersetzung mit einem individuell
und gesellschaftlich konflikthaften Thema
• Abgrenzung soziosexuellen Verhaltens von Kindern zur Erwachsenensexualität
• Auseinandersetzung mit der Thematisierung, das heisst, wann und wie mit Kindern über sexualitätsbezogene Inhalte gesprochen wird
• Reflexion über Sprache, das heisst Bewusstsein und Fähigkeit, das Sprechen über sexualitätsbezogene Themen so zu gestalten, dass es unterschiedliche Zielgruppen erreicht
• Vermittlung einer Nähe-Distanz-Regulierung, das heisst Darstellung und Praxis angemessener und nicht angemessener Verhaltensweisen unter Kindern und zwischen Kindern und Erwachsenen
• Anwendung erprobter altersadäquater Methoden und Materialien (14).
Unter diesen fachlichen Voraussetzungen sollte es möglich sein, Sexualaufklärung als etwas Selbstverständliches – wie andere Lebensthemen auch – in die pädagogische Begleitung von Vorschulkindern zu integrieren, wie es in der Schweiz bereits an vielen Orten geschieht.
Herausforderungen für Ansprechpersonen
Pädagogisch Tätige sehen sich in ihren Bemühungen um eine alters- und entwicklungsadäquate Sexualaufklärung für Vorschulkinder verschiedenen von aussen an sie herangetragenen Herausforderungen gegenüber, denen sie argumentativ begegnen. In diesem Kontext können auch Kinderärzte und Kinderärztinnen Ansprechpersonen sein. So ist bereits der Begriff Sexualaufklärung individuell sehr unterschiedlich gefüllt. Die Herausforderung besteht darin, sich hier ein umfassendes Verständnis zu erarbeiten und auch andere Konzeptionen zu kennen, um ihnen argumentativ – wie oben dargestellt – zu begegnen. Eine weitere Herausforderung ist die Auseinandersetzung mit der Präventionskritik, die einer Sexualaufklärung für Kleinkinder kritisch gegenübersteht, weil sie deren Wirkung für nicht nachweisbar hält (15, 16). Zudem wird das Konzept einer frühkindlichen Sexualität in jüngerer Zeit wieder von anerkannter wissenschaftlicher Seite in Zweifel gezogen (17, 18). Die Auseinandersetzung mit beidem kann jedoch hilfreich sein, um handlungssicher gegenüber Dritten fachliche Positionen professionell zu vertreten. Die bedeutendste Herausforderung besteht jedoch in der Auseinandersetzung mit der These «Frühsexualisierung der Kinder durch Sexualaufklärung». Sie wird von zwei unterschiedlichen Gruppen besorgter Eltern vertreten. Die erste Gruppe steht einer frühkindlichen Sexualaufklärung kritisch gegenüber, weil sie in ihr eine verfrühte Vorbereitung der Kinder auf eine als übersexualisiert wahrgenommene Zeit und Gesellschaft sieht. Die zweite Gruppe kommt aus freikirchlichen Kreisen und steht vor dem Hintergrund einer wortgetreuen Bibelauslegung wissenschaftlichen Erkenntnissen und ihren Anwendungen grundsätzlich skeptisch gegenüber. Da Sexualität unter biblischer Perspektive mit Sünde und Schuld belegt ist, halten diese Eltern es für entscheidend, die «Unschuld» ihrer Kinder so lange wie möglich zu erhalten, selbst wenn
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Ohne Sexualaufklärung fehlt das Wissen, um sich vor Missbrauch zu schützen.
Sexualaufklärung führt nicht zu verfrühten oder vermehrten sexuellen Handlungen im Sinn der Erwachsenensexualität.
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Sexualaufklärung mit Kindern im Vorschulalter sollte zu einer Selbstverständlichkeit werden.
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dies bedeutet, dass diese keinen Zugang zur Prävention von sexuellem Missbrauch im Kontext einer Sexualaufklärung haben. Beide Sichtweisen machen sich auch national-konservative Kreise regelmässig zu eigen.
Umgang mit Mythen
An diesem Punkt in der Sexualaufklärung von Kindern im Vorschulalter sind regelmässig altbekannte Mythen anzutreffen, denen es zu begegnen gilt. Die damaligen und heutigen Gegnerinnen und Gegner sehen in einer Sexualaufklärung im Vorschulalter eine «Früh- oder Zwangssexualisierung» der Kinder mit vorzeitiger Triebhaftigkeit und moralischer Zerrüttung. Dies sind unter anderen Namen dieselben Kampfbegriffe und gleichen Befürchtungen, die bereits die konservativ bürgerliche Bewegung der Sechzigerjahre gegenüber Sexualaufklärung formulierte. Dass diese Wirkung von Sexualaufklärung nicht eingetroffen ist, zeigen verschiedene Untersuchungen: • So belegen verschiedene Studien zu Jugendsexua-
lität in der Schweiz in jüngerer Zeit, dass hier das Durchschnittsalter für den ersten Geschlechtsverkehr von Jugendlichen seit 40 Jahren unverändert im 17. Lebensjahr liegt (19). • Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt eine repräsentative Studie zu Jugendsexualität in Deutschland (20), derzufolge Jugendliche im Vergleich zu früheren Erhebungen seltener früh sexuell aktiv werden und besser denn je verhüten – auch schon beim ersten Mal. • Diese Ergebnisse werden durch eine amerikanische Studie von 2016 gestützt, wonach junge Leute heute mehr über Sexualität wissen und auch mehr Möglichkeiten haben, sie zu leben – diese jedoch nicht im höheren Umfang wahrnehmen als die ihnen vorangegangenen Generationen (21). Problematisch sind Zweifel aus fachwissenschaftlichen Kreisen, die Freuds Erkenntnisse zur psychosexuellen Entwicklung heute wieder anzweifeln. Diese lassen sich lediglich theoretisch begründen und stehen im Widerspruch zu einer umfassenden Sichtweise auf Sexualität, wie sie sich in alltäglichen Beobachtungen der pädagogisch Tätigen in Kita und Kindergarten widerspiegelt, beispielsweise in sexuell gefärbten Spielen unter Kindern, Körpererkundungsspielen und Autostimulation.
Präventionskritik und ihre Entkräftung
Präventionskritische Fachpersonen ziehen zudem die Möglichkeit des Nachweises der Wirksamkeit der Sexualaufklärung in Zweifel. In der Tat ist es aufgrund der vielen Variablen hier schwierig, eine Linearkausalität abzuleiten. Doch auch ohne diese scheint die Sexualaufklärung sehr wohl hilfreich und nützlich zu sein, wie folgende Beispiele zeigen: • Die Evaluation des schulpsychologischen Dienstes
des Kantons Uri von 2016 hat nach zehnjährigem Einsatz von «Mein Körper gehört mir» einen Wissenszuwachs belegt. Demnach spricht das Projekt nach wie vor Kinder, Eltern und Lehrpersonen in gleicher Weise an, sensibilisiert sie für das Thema
sexuelle Gewalt und stärkt sie im Umgang mit der Thematik (22). • Ein besonderer Fall der deutlich sichtbaren Zunahme von Selbstschutzkompetenzen als Wirkung von Sexualaufklärung war in jüngerer Zeit der Beitrag, den das sexualpädagogische Manual «Herzfroh» in der Aufdeckung eines der grössten Fälle sexualisierter Übergriffe in Schweizer Heimen im Jahr 2011 hatte (23).
Schlussfolgerungen für die professionelle Begleitung
Vor dem Hintergrund der hier dargestellten fachlichen und normativen Fakten sollte die Sexualaufklärung mit Kindern im Vorschulalter zu einer Selbstverständlichkeit werden, zu der auch Kinderärztinnen und Kinderärzte beitragen können. Die inhaltlichen, konzeptionellen und strukturellen Themen, die dabei eine Rolle spielen, sind oben dargestellt worden. Wenn Kinderärztinnen und Kinderärzte in ihrer Praxis von Eltern und Fachpersonen auf auffälliges soziosexuelles Verhalten von Kleinkindern angesprochen werden, sollten sie grundsätzlich auf die Notwendigkeit einer alters- und entwicklungsadäquaten Sexualaufklärung zur Förderung der kindlichen Entwicklung und zum Schutz der sexuellen Integrität hinweisen und dass hierzu erprobte Programme existieren (24). Auf Ebene der beruflichen Kompetenzen sollte eine Klärung des Begriffs umfassende Sexualaufklärung für Kinder im Vorschulalter am Beginn stehen und mit regelmässigen Schulungen der professionell Tätigen in den Bereichen Kita und Kindergarten ergänzt werden. Dort sollten wissenschaftlich fundierte Einschätzungen der Bedeutung von Ausdrucksformen kindlicher Sexualität vermittelt und befähigt werden, situationsadäquat mit soziosexuellem Verhalten umzugehen; dasselbe gilt für alle anderen Fachpersonen in der Arbeit mit Kleinkindern. Auf struktureller Ebene müssten diese Anstrengungen mit der Vorlage eines pädagogischen Konzepts zur Prävention sexuellen Missbrauchs einschliesslich einer Sexualaufklärung begleitet und die Eltern noch nachhaltiger als bis anhin in die institutionelle Sexualaufklärung einbezogen werden. Wünschenswert sind besondere Anstrengungen in der weiterführenden Forschung hinsichtlich der Wirksamkeit und des Nutzens von Sexualaufklärung bei Kleinkindern, um mit belastbaren aktuellen Daten eine wissensbasierte Praxis zu fördern.
Korrespondenzadresse: Prof. Daniel Kunz Sozialarbeiter MSW und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut Studiengangleiter und Dozent MAS Sexuelle Gesundheit Werftestrasse 1 6002 Luzern E-Mail: daniel.kunz@hslu.ch www.hslu.ch/m132
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Literatur: 1. Schuhrke B: Kindliche Ausdrucksformen von Sexualität. Zum aktuellen Wissensstand und dessen Relevanz für Eltern und Institutionen bei der Sexualaufklärung. Z Sexualforsch 2015; 28; 161–170. 2. Volbert R: Sexuelles Verhalten von Kindern. In Amman G, Wipplinger R (Hrsg.): Sexueller Missbrauch. Überblick zu Forschung, Beratung und Therapie. Tübingen, dgvt, 2005; 453. 3. WHO und BZgA: Standards für die Sexualaufklärung in Europa. Köln, 2011; 22. Siehe auch https://publikationen.sexualaufklaerung.de/index.php?docid=228. 4. Sexuelle Gesundheit Schweiz: Für die Bildung zur sexuellen Gesundheit in der Schweiz. Bern, 2010. 5. Buse K, Hildebrand, M, Hawkes S: A farewell to abstinence and fidelity? Lancet 2006; 4: 599–600. 6. WHO und BZgA: 2011; 25. 7. WHO und BZgA: 2011; 25–29. 8. WHO und BZgA: 2011; 42–43. 9. Bundesgerichtsentscheid vom 15. November 2014 (BGE 2C_132/2014, 2C_133/2014). 10. Schweizer Bundesrat: 14.092 Botschaft zur Volksinitiative «Schutz vor Sexualisierung in Kindergarten und Primarschule» vom 28.11.2014. Gefunden unter www.admin.ch/opc/de/federal-gazette/2015/713.pdf. 11. Schweizer Bundesrat: 14.092 Botschaft zur Volksinitiative «Schutz vor Sexualisierung in Kindergarten und Primarschule» vom 28.11.2014., Seite: 721 und 727. 12. Optimus-Studie: Sexuelle Übergriffe an Kindern und Jugendlichen in der Schweiz. Formen, Verbreitung und Tatumstände. Zürich, UBS Optimus Foundation, 2012; 60. 13. Damrow KM: Was macht Prävention erfolgreich? Zur Kritik klassischer Präventionsansätze und deren Überwindung. BZgA Forum Sexualaufklärung und Familienplanung 2010; 3: 25–29. 14a. Bieri M: Eltern Lehre. Baby-Kleinkind. Oberhofen, Zytglogge 2012. 14b. Enders U, Villier I, Wolters D: Sina und Tim. Ein Bilderbuch über Zärtlichkeit und Doktorspiele. Köln, Zartbitter 2017. 15. Oelkers J: Sexualpädagogik und öffentliche Schule. Vortrag im Hotel Schweizerhof Zürich am 1.9.2012. Gefunden unter www.ife.uzh.ch/de/research/emeriti/oelkersjuergen/vortraegeprofoelkers.html 16. Guggenbühl A: Die Wirkung der Sexualkunde wird überschätzt. Zürich, Tages-Anzeiger vom 3.3.2015. 17. Oelkers J: Sexualpädagogik und öffentliche Schule. Vortrag im Hotel Schweizerhof Zürich am 1.9.2012. 18. Largo RH, Czernin M: Jugendjahre. Kinder durch die Pubertät begleiten. München, Piper 2013; 50–51. 19. Kunz D, Freigang F: Datengestützte Beantwortung von Fragen bzw. Identifizierung von Forschungslücken zu Themen von Beziehung, Sexualität und sexueller Gesundheit in der Schweiz. Luzern, Hochschule Luzern, Soziale Arbeit 2016; 5. 20. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA): Jugendsexualität 2006. Repräsentative Wiederholungsbefragung von 14- bis 17-Jährigen und ihren Eltern. Köln, 2007. 21. Twenge JM, Shermann RA, Wells BE: Sexual inactivity during young adulthood is more common among U.S. millennials and iGen: age, period and cohort effects on having no sexual partners after age 18. Arch Sex Behav 2017; 46 (2): 433–440. 22. Schulpsychologischer Dienst des Kantons Uri: Evaluationsbericht der Präventionskampagne «Mein Körper gehört mir!», 2016. Gefunden unter www.kinderschutz.ch/de/evaluationen.html. 23. Tschan W: Sexualisierte Gewalt. Praxishandbuch zur Prävention von sexuellen Grenzverletzungen bei Menschen mit Behinderungen. Bern, Huber 2012; 55. 24. Sexuelle Gesundheit Schweiz: Sexualaufklärung bei Kleinkindern. Forschungsstand und Good Practice von Programmen der Sexualaufklärung für Eltern und Institutionen 2016. Gefunden unter www.sante-sexuelle.ch/shop/de/fuer-fachpersonen.
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