Transkript
SCHWERPUNKT
«Bekommt man vom Küssen Kinder?»
Die sexuelle Entwicklung aus kindlicher Sicht
Kindliche Sexualität unterscheidet sich von erwachsener Sexualität, so wie kindliches Denken, Fühlen und Werten sich von einer erwachsenen Ebene unterscheidet. Ganz anders als Erwachsene unterscheiden Kinder nicht zwischen verschiedenen Lustbereichen – ob sexuell oder nicht, alle sind gleichwertig. Insofern sollte man Kindern beispielsweise den Raum geben, sich zielgerichtet und explorativ berühren zu können, ihnen aber auch die sozialen Regeln deutlich machen, ohne dabei sexuell gefärbte Handlungen abzuwerten.
Von Bettina Weidinger und Wolfgang Kostenwein
Erwachsene können ausschliesslich erwachsen sexuell denken.
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Erinnerungen an die eigene (sexuelle) Kindheit sind für die meisten Menschen nur eingeschränkt möglich. Durch eine Bewertung, die später stattfindet, aber auch durch wiederholtes Erzählen, verändern sich diese Erinnerungen. Kindliche Sexualität unterscheidet sich von erwachsener Sexualität, so wie kindliches Denken, Fühlen und Werten sich von einer erwachsenen Ebene unterscheidet. Sexualität ist also nur ein kleiner, aber wichtiger Aspekt der gesamten menschlichen Entwicklung – und ist damit allen entwicklungsbedingten Veränderungen unterworfen. Für die erwachsene Erinnerung ergeben sich dadurch viele Schwierigkeiten: • Kindliche Sexualität unterscheidet sich entwicklungsbedingt im Erleben, Gestalten und Bewerten von erwachsener Sexualität. • Das menschliche Gehirn denkt tendenziell assoziativ: Gedanken, die schon häufiger gedacht wurden, Überlegungen, die schon häufiger angestellt wurden, kommen einem leichter in den Sinn als «Neues» oder «Fremdes». • Sexualität ist ein gesellschaftliches Tabuthema. Dies bedeutet, dass über jene sexuellen Themen, die nahezu alle Menschen betreffen, wie zum Beispiel die genitale Wahrnehmungsfähigkeit der Erregung, kaum gesprochen wird, parallel dazu aber sehr einfacher Zugang zu sexuellen Informationen besteht, von denen die meisten Menschen nicht betroffen sind, beispielsweise Informationen aus Sexfilmen, aber auch Informationen über grausame Formen plötzlicher sexueller Gewalt im öffentlichen Raum. • Über kindliche Sexualität als normalen, integralen Bestandteil menschlicher Entwicklung wird seltener gesprochen als über Kinder, die von sexueller Gewalt im Bezugssystem betroffen sind.
• Erwachsene können ausschliesslich erwachsen sexuell denken. Das erwachsene Gehirn kann sich durch die neuen Erfahrungen in der erwachsenen Sexualität nicht mehr an Kindliches erinnern, ähnlich, wie es als erwachsene Person nicht mehr möglich ist, die Raum- und Zeitdimension über einen längeren Zeitraum einfach aufzuheben.
All das zusammen führt zu einer banalen Schlussfolgerung: Sobald Erwachsene Kinder unter elf Jahren in einer eindeutigen sexuellen Handlung sehen, assoziiert das eigene Gehirn mangels eigener Erinnerungsfähigkeit und mangels einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema kindliche Sexualität sofort mit erwachsenen sexuellen Bildern. Diese sind im Kontext Kinder unbrauchbar. Das weiss auch das Gehirn. Und «rettet» die beobachtende Person mit einer Erklärung für diese Situation: Das Kind muss sexuelle Gewalt erfahren haben, wenn es «so etwas» tut (z.B. sich selbst am Genital berühren und sich dabei erregen), das Kind muss etwas gesehen haben, sonst käme es nicht auf diese Idee, das Kind will provozieren … Es gibt aber noch eine einfachere Lösungsoption: Die Subjektivität der Wahrnehmung ermöglicht es, dass das, was gesehen wird, einfach nicht gesehen wird. Überraschenderweise berichten Bezugspersonen manchmal davon, dass sie niemals in einer Wickelsituation beim Baby oder Kleinkind Erektionen beobachtet hätten. Diese «Erinnerung» wird als «Beweis» für das Fehlen kindlicher Sexualität herangezogen.
Kindliche Sexualität – na und?
Es ist zulässig, zu der Auffassung zu kommen, dass es unwichtig ist, ob Kinder nun sexuelle Wesen sind oder nicht. Überlegt man sich die Konsequenzen unterschiedlicher Behauptungen, dann wird möglicherweise deutlich, dass die Ausgangslage der Betrachtung doch Wichtigkeit besitzen könnte.
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SCHWERPUNKT
Der Intimbereich des Kindes ist zu respektieren.
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Grundsätzlich brauchen Kinder Menschen in ihrer Umgebung, die mit ihnen respektvoll umgehen. Respekt vor dem Intimbereich des Kindes wird es aber nur dann in konsequenter Weise geben, wenn das Geschlechtsorgan des Kindes auch als etwas Intimes gesehen wird. Aussagen, die betonen, das Geschlechtsorgan des Kindes sei für das Kind «ein Körperteil wie jeder andere» oder «Erektionen bei Kindern sind kein Zeichen sexueller Funktionalität, sondern lediglich ein Blutstau im Genital», fördern einen sorglosen und damit respektlosen Umgang. Selbst wenn die Annahme einer kindlichen Sexualität nicht zutreffend wäre, würde diese Annahme sexualpädagogisch trotzdem sinnvoll erscheinen. Nur dann ist es möglich, das Geschlechtsorgan und den Analbereich des Kindes als Intimbereich zu sehen, der absoluten Respekt erfordert. Dieser Respekt wäre keinesfalls schädlich, die unbesorgte Respektlosigkeit beim Nichtbeachten einer (möglicherweise vorhandenen) kindlichen sexuellen Ebene aber schon.
Von Anfang an
Sexualpädagogik geht von unterschiedlichen Prämissen aus. Bei den Betrachtungen kindlicher Sexualität orientiert sich das Österreichische Institut für Sexualpädagogik und Sexualtherapien an dem Modell sexueller Gesundheit nach Sexocorporel (Desjardins) und verbindet dieses Theoriemodell mit 20 Jahren Erfahrung aus der sexualpädagogischen Arbeit mit Kindertagesstätten, Eltern, sozialpädagogischen Einrichtungen und der direkten Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Die sexualpädagogische Prämisse für die Betrachtung kindlicher Sexualität im Alter zwischen 0 und 10 Jahren: • Babys kommen mit einer gewissen «Grundausstat-
tung» an Lustbarkeit auf die Welt, dazu gehören die Fähigkeit, über den Mund, den Ausscheidungsvorgang und das Geschlechtsorgan Lust wahrzunehmen. • Lust definiert sich über eine Handlung, ein Erlebnis, eine Berührung, die positiv konnotiert ist und einen «Gewinn» spürbar machen lässt, der auf einer Gefühls- und Körperebene wahrnehmbar ist. Lustvolles Tun ist daher mehr, als etwas gerne machen. • Menschen können von Geburt an im und am Genital etwas wahrnehmen – diese Wahrnehmungsfähigkeit wird, so wie am ganzen Körper, durch die darauffolgende Entwicklung im Idealfall erweitert. • Menschen können von Geburt an über die muskuläre Anspannung eine Entspannung auslösen. Anspannung und Entspannung sind Körperaktionen, die parallel zu anderen Aktivitäten wie emotionale oder körperliche Wahrnehmung stattfinden. • Wahrnehmung, Körper und Denken werden als Einheit gesehen. • Sexualität ist integraler Bestandteil menschlicher Entwicklung. Sexualität wird daher nicht als «Extra»-Entwicklungsstrang gesehen, dessen Nichtbeachtung dazu führen könnte, dass Sexualität nicht er- und gelebt wird. Sexualität ist lediglich ein Entwicklungsaspekt. Korrekterweise könnte nur von einer menschlichen Entwicklung gesprochen werden. Diese eine Entwicklung
fördert oder limitiert die Etablierung von Fähigkeiten, und diese wiederum machen unterschiedliche Wahrnehmungen und Gestaltungen möglich. Wie bei allen anderen Themen menschlicher Lebensgestaltung ist auch beim sexuellen Entwicklungsaspekt die Formel sehr einfach: Je mehr Fähigkeiten, die für den sexuellen, menschlichen Lebensaspekt eine Rolle spielen, im Laufe der Entwicklung angesammelt werden können, desto stabiler kann die spätere, erwachsene Sexualität gelebt werden. Stabilität ist unter anderem die Voraussetzung dafür, zu spüren, was angenehm ist und was nicht. Sie ist Voraussetzung für einen wertschätzenden Umgang mit der eigenen Sexualität, aber auch in sexuellen Begegnungen mit anderen Personen.
Entwicklung der Körperwahrnehmung
Die Entwicklung von Basiskompetenzen findet im Alter zwischen 0 und 10 Jahren statt. Dies gilt auch für jene Kompetenzen, die für die Gestaltung der eigenen Sexualität benötigt werden. Zwar kann grundsätzlich in jedem Alter dazugelernt und das eigene Fähigkeitspotenzial erweitert werden, dies bedarf aber ab dem Jugendalter einer bewussten Entscheidung. In den ersten 10 Lebensjahren «passiert» die Ansammlung von Fähigkeiten einfach. Menschen kommen mit einer Spürfähigkeit am Körper und am Geschlechtsorgan auf die Welt. Diese «Körperspürfähigkeit» inklusive der Spürfähigkeit am Geschlechtsorgan ist mit der Geburt noch nicht differenziert vorhanden. Es braucht einige Entwicklungsjahre, damit diese Fähigkeit etabliert, erweitert und differenziert wird. Kinder lernen also erst, Feinheiten im Wahrnehmen von Berührungen unterscheiden zu können. Das, was sie für das Erlernen und Erweitern dieser Basisfähigkeit brauchen, ist denkbar einfach: motorische und sensorische Reize, Bewegungs- und Berührungsreize. Jene Reize, die sich Kinder ganz von allein holen würden, wenn man sie lassen würde. Erst ausreichend motorische und sensorische Inputs etablieren die Wahrnehmungsfähigkeit der Körpergrenzen durch das «Wissen», wo der Körper anfängt und wo er aufhört. Die Fähigkeit, die eigenen Körpergrenzen zu spüren, ist Voraussetzung, um spüren zu können, inwieweit eine Annäherung an eine andere Person für einen selbst und auch für die andere Person angenehm ist oder auch wie man sich im Raum bewegt, ohne an Tische, Sessel, Vasen, Türstöcke zu stossen. Nähe-/Distanzregelung, Raumorientierung und das Zulassen oder Ablehnen von Berührungen basieren daher nicht auf einer rein kognitiven Auseinandersetzung mit diesen Themen, sondern auf der Fähigkeit, zu spüren, was passend ist und was nicht. Erwachsene bedienen sich dieser Fähigkeit hunderte Male am Tag. Müsste diese Fähigkeit durch bewusste, kognitive Auseinandersetzung gelöst werden, wäre dies extrem anstrengend. Die Etablierung einer differenzierten Spürfähigkeit ist also Voraussetzung für die Nähe-/Distanzregelung, für die Raumorientierung und vor allem für die Entscheidung, ob (sexuelle) Berührungen angenehm sind oder nicht.
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Erfreulicherweise tun Kinder alles, was notwendig ist, um die Wahrnehmungsfähigkeit im und am Körper zu erweitern: Sie bewegen sich und holen sich durch unterschiedliche Spiele, aber auch indem sie sich selbst berühren, motorische und sensorische Reize. Ganz speziell gilt dies auch für den Bereich des Geschlechtsorgans. Durch das Hüpfen am Hüpfpferd, das Springen am Trampolin, das Schaukeln bekommt das Geschlechtsorgan diese wichtigen Reizinformationen. Dies bedeutet: • Bewegungsförderung und die Förderung durch die
Konfrontation mit sensorischen Reizen sind Teil jeder Sexualerziehung. • Kinder, die sich viel frei bewegen dürfen und mit sensorischen Reizen konfrontiert werden wie auch sich selbst berühren dürfen, etablieren eine differenzierte Wahrnehmungsfähigkeit am ganzen Körper – auch am Geschlechtsorgan. • Die Exploration des eigenen Körpers ist ein wichtiger sensorischer Input. Sanfte, wilde und manchmal gewaltvoll anmutende Selbstberührungen von Kindern sind daher nur Teil eines wichtigen Entwicklungsschrittes.
Gezielte Erregung
Die neugierige, kindliche Erkundung des eigenen Körpers und auch des eigenen Geschlechtsorgans bezeichnen viele Erwachsene als «normal». Als irritierend und verstörend wird hingegen erlebt, wenn sich das Kind, das vielleicht noch nicht einmal zur Schule geht, zielgerichtet am Geschlechtsorgan reibt oder berührt und dies sichtbar geniesst. Es gibt Behauptungen, Kinder würden sich nicht zielgerichtet erregen. Kinder wissen und spüren aber, dass das Berühren des Geschlechtsorgans ein anderes Gefühl erzeugt als das Berühren der Nase. Bereits ganz kleine Kinder mit 2 oder 3 Jahren berühren sich daher auch zielgerichtet am Genital, um ein positives Gefühl, das sie kennen, wieder herzustellen. Zusätzlich gibt es die Forschungsreise mit den Händen, das Zupfen am Körper, das Rubbeln, das einen neugierigen, explorativen Charakter hat. Und manchmal entsteht aus der Erforschung auch Erregung. Ebenso kann die Handlung zielgerichtet sein, um besser einschlafen zu können oder um eine langweilige Situation zu überbrücken. Die erwachsene Irritation ist nachvollziehbar. Der «Auftrag» an die Erwachsenen ist einfach: Kindern den Raum geben, sich zielgerichtet und explorativ be-
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SCHWERPUNKT
Kindliche Erregung hat nichts mit erwachsener Sexualität zu tun.
Die Entwicklung der «Körperspürfähigkeit» ist von zentraler Bedeutung.
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rühren zu können, ihnen aber auch die sozialen Regeln deutlich machen. Es ist nicht nur in Ordnung, wenn sich Kinder berühren, es ist auch notwendig, um eine differenzierte Spürfähigkeit zu entwickeln. Aber es passt nun mal nicht überall – und dies braucht Anleitung. Anleitung, die moralisierend oder abwertend geschieht, vermittelt zusätzlich zur sozialen Regel eine sexualfeindliche und negative Haltung. Die Entwicklung einer wertschätzenden Sexualität braucht auch wertschätzende Anleitungen, selbst dann, wenn aus erwachsener Sicht die Situation gerade unangenehm oder unpassend ist: • Sexualerziehung bedeutet, Kindern den Raum für
intime Berührungen zu geben. • Sexualerziehung ist das wertschätzende Anleiten
von sozialen Regeln im Kontext Sexualität. Völlig klar ist, dass kindliche Erregung nichts mit erwachsener Sexualität zu tun hat. Erwachsene müssen im Kontakt mit Kindern daher die unterschiedlichen Ebenen deutlich machen. Auch dann, wenn Kinder neugierig das Geschlechtsorgan der Erwachsenen berühren wollen, braucht es eine klare und respektvolle Abgrenzung. Sind die Kinder bereits in der Schule, haben sie die sozialen Regeln im Kontext Sexualität meist verstanden. Das Interesse an der erwachsenen Sexualität drücken 8- bis 9-jährige Kinder manchmal dadurch aus, indem sie Bezugspersonen intime Fragen stellen: «Hast du schon mal einen Penis in den Mund genommen?», «Was machst du mit deiner Freundin?» Intime Fragen an Erwachsene sind sogenannte codierte Fragen. Die Codierung steht für das Interesse an der erwachsenen Sexualität. Um die Intimität zu wahren und die Trennung der Ebenen zu wahren, ist es notwendig, deutlich zu machen: «Über meine eigene Sexualität erzähle ich nichts. Ich frage dich auch nichts über deine Sexualität. Aber ich kann dir ganz allgemein etwas darüber sagen, was erwachsene Sexualität sein kann.» Die Trennung der Ebenen ist daher nicht nur bei kleinen Kindern, sondern immer eine Notwendigkeit, um den Respekt vor der Intimität des Kindes zu wahren: Sexualerziehung ist die respektvolle Trennung der kindlichen und der erwachsenen sexuellen Ebene.
Lusterweiterung
Entwicklung bedeutet auch das Erweitern der Lustfähigkeiten. Ausgehend von den drei lustvollen Grundfähigkeiten (Ausscheidung, genitale Erregungsfähigkeit, orales Aufnehmen) entwickeln Kinder bereits in den ersten Lebensmonaten viele neue Lustbarkeiten. Anders als Erwachsene haben Kinder die Fähigkeit, im Hier und Jetzt zu sein, kombiniert mit einer grossen Begeisterungsfähigkeit. Alles ist interessant: der Kieselstein, der Bagger, die Blätter im Wind. Für die Etablierung und die Erweiterung dieser Lustfähigkeiten brauchen Kinder Gelegenheiten, um sich mit vielen unterschiedlichen Dingen aktiv beschäftigen zu können. Kinder, die ständig daran gehindert werden sich für oder mit etwas zu begeistern, Kinder, die aufgrund von vernachlässigenden oder gewaltvollen Bedingungen häufig in Anspannung und Aussenorientierung verharren, können nur wenige Lustfähigkeiten entwickeln. Kinder, die eine Beeinträchtigung haben,
sind darauf angewiesen, dass ihnen das Umfeld viele Möglichkeiten für ein lustvolles Erleben bietet: schaukeln, in der Wiese sitzen, mit Papier rascheln, ... Ist es, aus welchen Gründen auch immer, nicht möglich, dass die drei «Lustgeschenkspäckchen», die mit der Geburt mitgegeben werden, durch viele andere Lustfähigkeiten erweitert werden, könnte es sein, dass sich ein Verhalten etabliert, das von der Gesellschaft als «auffällig» bezeichnet wird: ein sexuell auffälliges Verhalten, das manchmal begleitet wird mit einem als auffällig wahrgenommenen Ess- und Ausscheidungsverhalten. Wann auch immer die Fragestellung der sexuellen Auffälligkeit zur Sprache gebracht wird, ist es zielführend, zu überlegen, welche Lustfähigkeiten die betroffene Person entwickeln konnte. Stellt sich heraus, dass tatsächlich eine grosse Limitierung im lustvollen Zugang besteht, dann muss, parallel zu klaren, wertschätzend vermittelten sozialen Regeln, die Unterstützung bei der Erweiterung von Lustfähigkeit im Vordergrund stehen: Sexualerziehung ist die Unterstützung bei der Etablierung von vielen Lustfähigkeiten wie Tanzen, Singen, Springen, Malen, Schwimmen, ...
Gleichwertigkeit der Lust
Werden Kinder nicht daran gehindert, entwickeln sie diese vielen Lustfähigkeiten ganz von allein. Ganz anders als Erwachsene unterscheiden vor allem Kinder unter 6 Jahren kaum zwischen den einzelnen Lustbereichen. Gleichwertigkeit im Lustzugang bedeutet, dass vieles, das als lustvoll erlebt wird, auf einer gemeinsamen «Stufe» steht. Dies gilt auch für die Berührung des eigenen Geschlechtsorgans. Sandspielen ist genauso wichtig und lustvoll wie die Möglichkeit der eigenen genitalen Erregung. Für Erwachsene ist das ein undenkbarer Zugang. Diese Gleichwertigkeit forciert auch die Unbekümmertheit im Umgang mit sozialen Regeln und führt dazu, dass sehr spontan und mitten im Spiel eine andere lustvolle Tätigkeit aktiviert werden kann. Soziale Umgangsformen werden ebenfalls in allen (Lust-)Bereichen angewendet. Da kaum unterschieden wird, gibt es auch für das Anwenden erlernter Beziehungstools keine Reihenfolge. Erst mit Schuleintritt begreifen Kinder die sozialen Regeln so gut, dass sie fähig sind, ihr Verhalten diesen Regeln recht konsistent unterzuordnen. Im Kindergarten kann es aber zu Situationen kommen, die für Bezugspersonen schwer einzuordnen sind. Ist «Erpressung» in einer Kindergartengruppe «en vogue», dann wird diese («dann bist du nicht mehr meine beste Freundin/mein bester Freund») nicht nur in der Sandkiste oder beim Kaufladenspiel angewendet, sondern auch dann, wenn Lust darauf entsteht, jemand anderen am Geschlechtsorgan zu berühren. Durch das Gleichwertigkeitsprinzip und das Hier-undjetzt-Prinzip wenden Kinder ihre Fähigkeiten überall an. Es ist daher ein (sexual-)pädagogischer Auftrag, die Kinder bei ihren Aktivitäten immer wieder darauf aufmerksam zu machen, welche anderen Umgangs- und Verhandlungsformen möglich sind. Auch hier benöti-
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SCHWERPUNKT
gen Kinder eine angemessene Begleitung und keine negative Bewertung oder eine abwertende Haltung.
Kinder im Schulalter
Kinder im Schulalter erweitern die sexuellen Basisfähigkeiten der Körperwahrnehmung, der Körperkompetenz, der Beziehungsgestaltungsfähigkeiten und der Wissensebene dauernd. Anders als Kindergartenkinder kennen sie bereits die sozialen Regeln und äussern sich daher auch in Bezug zur sexuellen Orientierung oder zum Zukunftsplan «Kinder bekommen und heiraten». Kindergartenkinder interessieren sich ganz allgemein und auch sexuell für alle (!) Menschen. Schulkinder tun dies meist auch – dies zeigen zumindest die Äusserungen von 6- bis 10-jährigen Kindern. Nach aussen hin werden die gesellschaftlich vorgegebenen Normen aber bereits eingehalten – immerhin gibt es auch einen gewissen Stolz, die sozialen Vorgaben verstanden zu haben. Zu den Themen der Bewegungsförderung, der Unterstützung in der allgemeinen Lusterweiterung kommt das Wissen hinzu. Schulkinder können Informationen verarbeiten, sie brauchen daher auch Wissen über ihren eigenen Körper. Ärzte und Ärztinnen können hier eine wichtige Rolle übernehmen. Die körperliche Entwicklung ganz allgemein, aber auch in Bezug auf den sexuellen Körper, die Körperpflege, das Verhalten auf der Toilette können Gesprächsinhalte mit Kindern sein. Mythen und Fehlinformationen von anderen Personen oder aus Medien haben weniger Chancen, wenn klare und verständliche Erklärungen gegeben werden. Zusätzlich zum ärztlichen und elterlichen Gespräch können Bücher über den Körper die Kinder unterstützen, etwas über sich zu erfahren. Körperbücher sollten auch die Entwicklung des sexuellen Körpers behandeln, um eine umfassende Information zu geben. Die Autonomieentwicklung wird von Geburt an unterstützt, indem immer wieder wichtige Kompetenzbereiche in die Eigenverantwortung des Kindes gelegt werden. Bereits im Kindergarten können sich Kinder auf der Toilette selbst abwischen und kommen beim Waschen mit wenig Unterstützung zurecht. Spätestens mit dem Schuleintritt sollten Kinder sich allein, ohne elterliche Hilfe, waschen. Kinder mit einer Beeinträchtigung brauchen möglicherweise weiterhin Unterstützung – aber auch hier ist es wichtig, zu überlegen, wie viel an Kompetenzübertragung möglich ist: • Kompetenzübertragung beim Waschen und Pfle-
gen vermittelt dem Kind: Du bist für deinen Körper selbst zuständig. Nur du darfst über deinen Körper bestimmen.
Herausfordernde Situationen
Die meisten Kinder durchlaufen ihre sexuelle Entwicklung recht unspektakulär. Gibt es unkontrollierte Räume, ausreichend Möglichkeit zum Bewegen und Spüren – all dies in einem Umfeld, das eine positive Haltung dem Körper und der Sexualität gegenüber hat und soziale Regeln wertschätzend und klar vermittelt –, haben Kinder die besten Voraussetzungen für eine sexuelle Entwicklung, in der Fähigkeiten auf unterschiedlichsten Ebenen gesammelt werden.
Dennoch gibt es Situationen, in denen sich Kinder in ihrer Sexualität scheinbar auffällig zeigen; und nicht immer ist klar, welche Interventionen möglich sind. So gibt es Kinder im Kindergarten wie auch in den ersten Schulstufen, die sich durch wiederholtes Wippen, Wetzen und Berühren in Erregung versetzen. Damit sind diese Kinder manchmal so sehr vom Unterricht abgelenkt, dass sie sich nicht mehr ausreichend konzentrieren können. Das Einfordern der sozialen Regel funktioniert nicht – die Kinder stimmen zwar zu, verhalten sich dann aber doch ganz anders. Werden die Kinder im sonstigen Verhalten ebenso als «auffällig» und «schwierig» wahrgenommen und zeigt sich das familiäre Umfeld wenig unterstützend, braucht es jedenfalls eine umfassende Abklärung der Situation. Dazu gehört eine allgemeine Abklärung in Richtung Vernachlässigung und allgemeine Gewalt. Es ist nicht unbedingt sexuelle Gewalt, die im Hintergrund einer «sexuellen Verhaltensauffälligkeit» eines Kindes steht. Vernachlässigung, psychische und physische Gewalt limitieren die Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern. Dies hat jedenfalls auch Auswirkung auf die sexuelle Ebene. Für manche Kinder, die in schwierigen sozialen Situationen leben, ist die Erregung die einzige Möglichkeit, sich selbst spüren zu können – aus Ermangelung anderer gelernter Spürfähigkeiten. Selbstverständlich ist es notwendig, einer möglichen Gefährdung durch sexuelle Gewalt nachzugehen, es ist aber ebenfalls notwendig, das kindliche Verhalten in einem Gesamtkontext der vorangegangenen Entwicklungsmöglichkeiten zu sehen. Häufig ist das familiäre Umfeld dieser sich «dauernd erregenden» Kinder aber unterstützend und positiv; und es gibt keine Notwendigkeit, die Kinder- und Jugendhilfe zuzuschalten. Bei diesen Kindern kann die Bewegungsfähigkeit von Oberkörper und Becken limitiert sein. Häufig sind die Kinder grundsätzlich oder in bestimmten Situationen (z.B. bei Konzentration in der Schule) in einer (zu) hohen muskulären Anspannung, die auch im Beckenboden spürbar ist. Durch das Wetzen wird versucht, diese Anspannung loszuwerden. Und da es dabei einen «Erregungsgewinn» gibt, etabliert sich eine Art Automatismus, welcher Konzentration, Stillsitzen, Wippen und Erregen kombiniert. Nicht selten werden auch Schwierigkeiten beim Harnlassen oder beim Spüren des Harndranges beschrieben. Kinder können mit unterschiedlichen Interventionsmöglichkeiten unterstützt werden: Durch das Anwenden eines kleinen Sitzballs, der auf den Sessel gelegt wird, durch häufiges Aufstehen, durch das Rollen der Füsse auf einem Igelball während des Sitzens, durch die Förderung der Beweglichkeit des Beckens beim Trampolinspringen, Schaukeln, Schwimmen, Klettern oder ganz gezielt durch Ergo- oder Physiotherapie. Fachgruppen, die ein umfassendes Wissen über den Beckenboden haben, können bei diesen Fragestellungen unterstützend wirken.
Bekommt man vom Küssen Kinder?
Wie süss wäre diese Frage, wenn sie wirklich gestellt würde. Viele Kinder wissen mit zirka 7 Jahren, wie
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Altersgemässe Kompetenzübertragung beim Waschen und Pflegen ist wichtig.
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SCHWERPUNKT
Kinder entstehen – und das meist nicht von den eigenen Eltern. Dieses Teilwissen über Sexualität wird manchmal wieder vergessen und bekommt dann Relevanz, wenn sich die erwachsene Sexualität im kognitiven Zugang bei den Kindern sehr langsam etabliert, das beginnt mit 10 Jahren. Spätestens in diesem Alter beginnen Kinder zu unterscheiden, mit wem sie über Sexualität sprechen. Sie betrachten die Sexualität nicht mehr im Sinne der Gleichwertigkeit der Lust, sondern als «Extra»-Thema. Sobald sich Kinder auch auf einer kognitiven Ebene mit Sexualität auseinandersetzen, brauchen sie auch Informationen zu diesem Themengebiet. Fragen stellen Kinder den Erwachsenen aber nur dann, wenn sie gelernt haben, dass Sexualität ein besprechbares und positives Thema ist.
10-Jährige, die aufgrund ihrer Körperkompetenz zu einer differenzierten Wahrnehmung fähig sind, die auf der Beziehungsebene viele Gestaltungsmöglichkeiten gelernt haben, die das Ja und das Nein inkludieren und die erfahren haben, dass es in Ordnung ist, Fragen über Sexualität zu stellen, sind gut gewappnet, wenn es als Jugendliche darum geht, Informationen im Mediendschungel richtig zu deuten.
Korrespondenzadresse: Bettina Weidinger und Wolfgang Kostenwein Leitungsteam Österreichisches Institut für Sexualpädagogik, Wien E-Mail: team@sexualpaedagogik.at Internet: www.sexualpaedagogik.at
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