Transkript
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Wann kommt das Pflichtlager?
Neues zum Impfstoffmangel in der Schweiz
Weil man sich nicht mehr darauf verlassen kann, dass die notwendigen Impfstoffe auch tatsächlich lieferbar sind, haben manche Praktiker einen zusätzlichen Kühlschrank angeschafft, um den Nachschub für ihre Patienten zu sichern. Eine echte Lösung des Problems ist dies freilich nicht. Am Schweizer Impfkongress wurde die Thematik diskutiert und der aktuelle Stand der Bemühungen um eine Lösung der Impfstoffkrise erläutert.
Einer der Ärzte, die sich einen zweiten Kühlschrank wegen des Impfstoffmangels angeschafft haben, ist Dr. med. Philipp Jenny. Er hat eine Praxis in Altstätten und ist darüber hinaus als Schularzt tätig. Nach wie vor führe der Impfstoffmangel zu einer Verunsicherung der Eltern, berichtete Jenny: «Es gibt viele Eltern, die sich zu einem Impfentscheid durchringen und überzeugt werden müssen. Sie wägen ab, welche Impfungen und Impfkombinationen sie möchten – und dann müssen sie plötzlich umdenken, weil der passende Impfstoff gerade nicht verfügbar ist. Da verfallen mühsam errungene Zugeständnisse rasch.» Um die Lage wenigstens für seine Praxis zu verbessern, hat Jenny seit geraumer Zeit selbst ein Impfstofflager. Doch seine Strategie der eigenen Lagerhaltung ist mit einem hohen Aufwand und auch einem Kostenrisiko verbunden. Sein Kühlschrank enthalte Impfstoffe für gut 14 000 Franken, sagte Jenny. Ein Stromausfall, technisches Versagen oder auch eine falsche Einschätzung des Bedarfs beim Einkauf der Impfstoffe kann teuer werden. Der pragmatische Vorschlag einer Ärztin aus dem Auditorium, die Ärzte könnten sich doch vielleicht zusammenschliessen und mit Impfstoff gegenseitig aushelfen, sei in der Praxis nicht realisierbar, so Jenny. Schon allein das strikte Einhalten der Kühlkette sei hier ein grosses Problem, und die Aufsichtsbehörden würden das Hin- und Herschicken von Impfdosen zwischen den Ärzten mit hoher Wahrscheinlichkeit verbieten. Dann müsse man halt die Patienten herumschicken, schlug eine andere Kongressteilnehmerin vor. Wie man sieht, sind die Ärztinnen und Ärzte recht kreativ, wenn es um pragmatische Lösungen für ein drängendes Problem geht. Die Kreativität bei anderen Beteiligten scheint hingegen weniger ausgeprägt zu sein. So schlug Jenny vor, die Verfügbarkeit von Impfstoffen aus dem Ausland – diese dürfen auf Antrag der Firmen anstelle der fehlenden Produkte zeitweise importiert werden – zu beschleunigen, indem man sich beispielsweise den zusätzlichen Beipackzettel in
drei Landessprachen spart. Da Impfstoffe von Fachleuten gespritzt würden, genüge doch ein Beipackzettel auf Englisch, oder?
Swissmedic handelt strikt nach Vorschrift
Die Vertreterin von Swissmedic, Dr. Susanne Wegenast, ging auf diesen Vorschlag nicht ein, sondern betonte die zentrale Bedeutung von Sicherheit und Qualität und dass man sich an die Vorgaben des Heilmittelgesetzes zu halten habe (Kasten 1). Eine Firma könne den vorübergehenden Vertrieb eines Produkts mit ausländischer Verpackung beantragen, was dann rasch bearbeitet würde. Im Übrigen könnten auch Medizinalpersonen bei Swissmedic den Import eines Medikaments beantragen. Bei Impfstoffen brauche es dafür zwar eine Extrabewilligung von Swissmedic, die jedoch ebenfalls rasch erteilt würde. Wei-
Kasten 1: Zulassungsverfahren für Impfstoffe in der Schweiz
Das Verfahren erfolgt in zwei Stufen: 1. Zulassung des Impfstoffs durch eine Heilmittelbehörde. 2. Freigabe jeder einzelnen Charge durch ein staatliches Prüflabor. • Falls die Charge eines in der EU beziehungsweise in Island, Liechtenstein oder Nor-
wegen (Länder, die zum Europäischen Wirtschaftraum EEA gehören) hergestellten Impfstoffes bereits durch ein staatlich zertifiziertes EU/EEA-Labor freigegeben wurde, gilt diese Freigabe auch für die Schweiz. • Wurden die Impfstoffe andernorts produziert, aber bereits durch ein EU/EEA-Labor freigegeben, prüft Swissmedic die Unterlagen und gibt die Charge erst danach auch für die Schweiz frei. Dieses Verfahren gilt für fast alle in der Pädiatrie gebräuchlichen Impfstoffe in der Schweiz. Nur bei Impfstoffen, die andernorts produziert und nicht von einem EU/EAA-Labor geprüft wurden, erfolgt die Chargenprüfung in einem Schweizer Labor. Dies gilt beispielsweise für Impfstoffe, die in Indien produziert und in der Schweiz verwendet werden.
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tere Massnahmen könne Swissmedic nicht veranlassen. Sie wies ausserdem darauf hin, dass die Firmen den Import von sich aus beantragen müssen und von Swissmedic nicht dazu gezwungen werden können.
Kinderärzte fordern Lösungen
Er höre von den Behörden und Herstellern immer nur, warum es keine Lösungen gebe, kritisierte Prof. Christoph Berger, Universitätskinderspital Zürich und Präsident der Eidgenössischen Kommission für Impffragen (EKIF): «Verstecken Sie sich nicht hinter den Problemen, die Sie haben, sondern arbeiten Sie mit uns zusammen, um Lösungen zu finden!» Es sei zwar schon korrekt, dass auch Ärzte Impfstoffe importieren dürften, aber dann müsse der Pädiater die Bewilligung bezahlen und die Eltern den Impfstoff, weil das in diesem Fall nicht von der Krankenversicherung übernommen werde, sagte Berger. Insofern sei das kein akzeptabler Lösungsansatz, sondern allenfalls eine Notfalllösung. An die Firmen appellierte Berger, Zulassungs- und Importanträge rechtzeitig zu stellen. Swissmedic wiederum solle mehr als einen Impfstoff zulassen, wenn es mehrere vergleichbare gebe, denn dann würde der Mangel schon weniger wahrscheinlich als bei nur einem zugelassenen Produkt. Mit dieser Forderung stiess Berger bei Wegenast und einer weiteren Swissmedic-Mitarbeiterin, die sich aus dem Auditorium zu Wort meldete, jedoch auf strikte Ablehnung. Sie betonten, dass für die Zulassung von Impfstoffen dasselbe wie für alle Medikamente gelte: Die Nutzen-Risiko-Beurteilung müsse positiv sein, neue Impfstoffe müssten besser oder gleich gut und sicher sein wie die verfügbaren und eben auch das ganze Zulassungsprozedere durchlaufen.
Kasten 2: Diese Impfstoffe kommen ins Pflichtlager
ATC-Code Impfstoff J07AG Haemophilus-influenzae-B-Impfstoffe J07AH07 Meningokokkus C J07AH08 Meningokokken A, C, Y, W-135,
tetravalent J07AJ Pertussis-Impfstoffe J07AL02 Pneumokokken J07AM Tetanus-Impfstoffe J07BC Hepatitis-Impfstoffe J07BD Masern-Impfstoffe J07BF Poliomyelitis-Impfstoffe (Kombina-
tionen mit Di/Te/Per oder Hib unter J07CA) J07BG Tollwut-Impfstoffe J07BK01 Varicella J07BM Papillomvirus-Impfstoffe J07CA bakterielle und virale Impfstoffe, kombiniert
Lagerpflichtig ist, wer diese Produkte unter diesen ATC-Codes in der Schweiz auf den Markt bringt. Quelle: Präsentation von Dr. U. Haudenschild am Schweizer Impfkongress 2016
Kann ein Pflichtlager das Problem lösen?
Das Pflichtlager für unbedingt notwendige Waren liegt in der Verantwort des Bundesamts für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL). Ein Pflichtlager sei ein staatlich verordnetes, aber kein «Staatslager», erläuterte der Leiter des BWL-Bereichs Ernährung und Heilmittel, Dr. Ulrich Haudenschild. Der Pflichtlagerhalter, das heisst der Hersteller oder der Importeur, ist Eigentümer der Güter und hat das Lager auch zu finanzieren. Das Lager muss sich auf Schweizer Zollgebiet befinden. Haudenschild betonte, dass das BWL nur für die Sicherstellung der Versorgung in Notfällen zuständig sei, nicht jedoch für die kontinuierliche Versorgung. Konkret lautet der gesetzliche Auftrag: «Der Bund stellt die Versorgung der Schweiz mit lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen bei schweren Mangellagen infolge von Marktstörungen oder machtpolitischer Bedrohung sicher, wenn die
Wirtschaft eine Versorgungsstörung nicht aus eigener Kraft bewältigen kann.» Als erste Massnahme ist seit Oktober 2015 die Meldepflicht in Kraft. Die Hersteller bestimmter Impfstoffe und Heilmittel müssen den Behörden Versorgungsengpässe melden. Bis November 2016 gab es 70 Meldungen, 22 davon betrafen Impfstoffe, so Haudenschild. Das Landesversorgungsgesetz ist zurzeit in Revision und wird voraussichtlich Mitte 2017 in der neuen Version in Kraft treten. Die gesetzliche Grundlage des Pflichtlagers wird darin neu formuliert: «Reichen die freiwilligen Massnahmen der Wirtschaft nicht aus, so kann der Bundesrat Unternehmen, die für die wirtschaftliche Landesversorgung von besonderer Bedeutung sind, verpflichten, Vorkehrungen zur Sicherstellung ihrer Produktions-, Verarbeitungs- und Lieferbereitschaft zu treffen, insbesondere technische und administrative Massnahmen vorzubereiten.» Das neue Gesetz gebe dem BWL somit mehr Spielraum als vorher, vor allem im präventiven Bereich, sagte Haudenschild. Verantwortlich für die Ausgestaltung des Pflichtlagers für Heilmittel und Impfstoffe sind etwa 40 Experten aus dem Kreis der Hersteller, aus Produktion, Import und Distribution sowie Vertreter von Kantonen und Spitälern. Vollamtlich damit befasst sind nur etwa 10 Prozent der Mitglieder des BWL-Bereichs Heilmittel. Ihre Aufgabe sei es, «den Dialog zwischen den Partnern anzustossen und praxistaugliche Lösungen zu suchen», so Haudenschild. Praxistauglich bedeute hierbei auf der einen Seite, den Bedarf zu berücksichtigen, auf der anderen Seite aber auch die Möglichkeiten der Lieferanten. So müsse man zum Beispiel bei den Lagervorschriften Rücksicht auf die kurzen Haltbarkeitsfristen der Impfstoffe nehmen. Wie das Pflichtlager für Impfstoffe konkret ausgestaltet sein wird, weiss man noch nicht. Was bereits feststeht, sind die Impfstoffe, die ins Pflichtlager kommen sollen (Kasten 2). Ziel ist zurzeit, Vorräte für vier Monate aufzubauen. Dabei müsse jedoch abgewägt werden, ob das für alle Impfstoffe möglich sei, schränkte Haudenschild ein. Die Impfstoffe werden nicht eingelagert und nach Ablauf der Haltbarkeit weggeworfen, sondern das Pflichtlager ist ein «rollierendes» Lager, will heissen: Die Produkte werden mit einer gewissen Frist vor Ablauf des Haltbarkeitsdatums wieder in den Markt zurückgeführt, damit sie bestimmungsgemäss verbraucht werden können. Ein Problem werde sein, dass bestimmte Produkte zurzeit kaum oder gar nicht erhältlich seien, sagte Haudenschild. Man habe erste Abklärungen mit den Lieferanten getroffen und könne darum davon ausgehen, dass einzelne Produkte Ende 2017 im Vier-Monats-Umfang vorhanden sein werden. Bei anderen Produkten hingegen werde das nicht der Fall sein: «Es ist im Moment definitiv nicht möglich, zu sagen, bis wann wir den Vier-Monats-Vorrat sicher erreicht haben werden.»
Was sagen die Firmen?
Dr. Ivo Vojtek, GlaxoSmithKline, erläuterte am Symposium die aus Firmensicht entscheidenden Faktoren, die zum aktuellen Impfstoffmangel beitragen. Ein
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gewichtiger Punkt sei die komplexe, langwierige Herstellung von Impfstoffen, sodass ein Herstellungszyklus rund zwei Jahre dauere. 70 Prozent der Produktionsdauer entfielen hierbei auf Qualitätsprüfungen und Freigabeverfahren. Noch dazu erliessen verschiedene Länder verschiedene Vorschriften, die es alle zu beachten gelte. Die Nachfrage nach Impfstoffen steige zwar weltweit, sei aber schwankend, sodass der Bedarf im Voraus schwierig abzuschätzen sei. Auf der anderen Seite gebe es nur noch eine begrenzte Anzahl von Impfstoffherstellern, sodass bei Ausfall einer Produktionsstätte keine andere einspringen könne. Überdies brauche es wegen der langwierigen Zertifizierungen viel Zeit, bis neue Produktionsstätten die Arbeit aufnehmen könnten. So habe GlaxoSmithKline vor acht Jahren beschlossen, eine neue Anlage zu bauen. Diese sei zwar schon lange fertig, werde aber immer noch validiert, sodass sie voraussichtlich erst 2018 in Betrieb gehen könne. Auch mit bestehenden Anlagen sei es schwierig, kurzfristig auf unerwartete Engpässe in der Impfstoffproduktion zu reagieren, erläuterte Vojtek. Selbst wenn man die Kapazität einer laufenden Produktion rasch hochfahren könne, dauere es lange, bis der Impfstoff auf den Markt komme, weil erneut dreifache, sequenzielle Qualitätsprüfungen und Freigabeverfahren für jeden neuen Batch gefordert würden – das dauere viele Monate. Hier gelte es zu überlegen, ob die Nutzung von Synergien beziehungsweise simultanes anstelle des sequenziellen Testens diese Frist verkürzen könnte. Ein weiterer Punkt sei auch das bereits erwähnte Problem der länderspezifischen Verpackung. Man müsse ein Jahr im Voraus festlegen, wohin der Impfstoff geliefert werde, was die Flexibilität erheblich einenge. Es wäre wünschenswert, eine internationale Harmonisie-
rung der Verpackungsvorschriften zu erreichen, sagte Vojtek. Die Frage, ob Impfstoffe den Firmen zu wenig lukrativ seien oder der kleine Schweizer Markt nicht attraktiv genug sei, verneinte Vojtek. Allerdings sei es schon so, dass man ein sogenanntes Tendersetting (der Staat kauft die Impfstoffe zentral) bevorzugen würde, weil dies eine höhere Planungssicherheit bedeute. Sein Kollege, Dr. Sven Seitz, Leiter Impfstoffe Schweiz bei Pfizer AG, war hier anderer Ansicht. Er meldete sich aus dem Auditorium zu Wort und sprach sich dafür aus, mehr Konkurrenz zu ermöglichen und alternative Impfstoffe in der Schweiz zuzulassen, um Impfstoffmangel zu vermeiden.
Impfstoffmangel wegen unternehmerischer Fehlentscheidungen?
Einen weiteren Grund für den derzeitigen Impfstoffmangel erläuterte ein anderer Firmenvertreter gegenüber PÄDIATRIE in der Kongresspause: Die Unternehmen hätten seiner Ansicht nach schlicht die Entwicklung des Impfstoffmarktes falsch eingeschätzt. Vor einigen Jahren sei man noch davon ausgegangen, dass Anbieter in der Dritten Welt in die Impfstoffherstellung einsteigen würden. Man konzentrierte sich folglich auf profitablere Sparten und wollte den Impfstoffmarkt anderen Herstellern überlassen. Diese aber stiegen gar nicht so massiv wie erwartet ein – und so kam es zu der heutigen Situation, dass bestimmte Impfstoffe weltweit stark nachgefragt werden, aber zu wenige Hersteller diese zurzeit liefern können.
Renate Bonifer
Quelle: Symposium Impfstoff-Engpässe. Schweizer Impfkongress, Basel, 10. November 2016.
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