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SCHWERPUNKT
Leitlinie Nahrungsmittelallergien
Diagnose und Therapie bei IgE-vermittelten Nahrungsmittelallergien
Echte und vermeintliche Nahrungsmittelallergien sind in der Kinderarztpraxis ein häufiges Thema. Im Folgenden werden die für Praxispädiater wesentlichen Punkte einer umfangreichen Leitlinie zu Diagnose und Therapie bei IgE-vermittelten Nahrungsmittelallergien vorgestellt.
Zusammenfassung der Leitlinie der DGAKI*
W ie häufig Nahrungsmittelallergien tatsächlich sind, lässt sich nicht exakt beziffern. Nahrungsmittelallergien werden von Patienten (bzw. den Eltern) etwa sechsmal häufiger angegeben oder vermutet, als sich in einem Provokationstest tatsächlich bestätigen lässt. In einer 2004 durchgeführten Studie in Deutschland betrug die mittels doppelblind durchgeführter Provokationstests gesicherte Prävalenz von Nahrungsmittelallergien bei Kindern 4,2 Prozent und bei Erwachsenen 3,7 Prozent. Die häufigsten Auslöser einer Nahrungsmittelallergie im Kindesalter sind Milch, Ei, Soja, Weizen, Erd- und Baumnüsse. Während Kuhmilch-, Ei-, Weizen- und Sojaallergien in den ersten Lebensjahren mit der Zeit meist von selbst wieder verschwinden, persistieren häufig die Allergien gegen Erd- oder Baumnüsse, Fisch und Krebstiere. Bei Jugendlichen und Erwachsenen dominieren pollenassoziierte Nahrungsmittelallergene (z.B. Birkenpollen/Apfel) sowie Allergien gegen Gemüse, Weizen, Krebs- und Schalentiere, die entweder seit der Kindheit persistieren oder sich erst im Erwachsenenalter entwickelten; sekundäre, pollenassoziierte Nahrungsmittelallergien sind bei Erwachsenen häufiger als primäre Nahrungsmittelallergien.
Prävention im Kindesalter
Als präventive Massnahme wird das Stillen in den ersten vier Lebensmonaten empfohlen beziehungsweise spezielle Säuglingsnahrung für Risikokinder, falls nicht gestillt werden kann. Die Mutter sollte in Schwangerschaft und Stillzeit nicht auf bestimmte Lebensmittel verzichten. Die Beikost soll nicht verzögert eingeführt werden. Fisch braucht man nicht zu meiden, vielmehr sollten Mutter und Kind auch Fisch essen. Es gibt Hinweise darauf, dass eine mediterrane Ernährung mit viel Gemüse und Obst sowie der Konsum
von Milchfett atopischen Erkrankungen vorbeugen kann. Für Prä- und Probiotika konnte ein vorbeugender Effekt nur gegen das atopische Ekzem gezeigt werden, wobei wegen der Heterogenität der Produkte und der Studiendesigns keine speziellen Empfehlungen gegeben werden. Der Verdacht, dass Antibiotika oder Paracetamol atopische Erkrankungen begünstigen könnten, wurde bisher nicht in Studien bestätigt. Möglicherweise tragen Antazida zur Entwicklung von Nahrungsmittelallergien bei; Hinweise hierauf lieferten Tierversuche. Besondere Massnahmen zur Reduktion von Hausstaubmilben sind nicht nötig. Das Innenraumklima darf nicht zu feucht sein; regelmässiges Lüften ist wichtig, um Schimmelpilzen keine Chance zu geben. Ebenfalls zu vermeiden sind Tabakrauch (aktiv wie passiv) sowie Autoabgase. Bei Kindern ohne erhöhtes Allergierisiko dürfen alle Haustiere gehalten werden; bei Risikokindern sollte man keine Katze als neues Haustier anschaffen. Prinzipiell sollen alle im Kindesalter empfohlenen Impfungen unabhängig vom Allergierisiko des Kindes erfolgen.
Anamnese lenkt die Suche nach Sensibilisierungen
Die detallierte Anamnese ist die Basis der Diagnose von Nahrungsmittelallergien. Nahrungsmittelallergene bewirken auch bei perkutaner, inhalativer oder parenteraler Exposition allergische Symptome. Die Symptome einer IgE-vermittelten Nahrungsmittelallergie sind somit vielfältig und können je nach Organ unterschiedlich ausgeprägt sein. Für die Diagnose einer Nahrungsmittelallergie sollte • eine klare und reproduzierbare Assoziation der Be-
schwerden mit bestimmten Lebensmitteln beste-
Keine spezielle Diät für Schwangere und Stillende.
Gegebenenfalls Spezialmilchen für Risikokinder in den ersten vier Monaten.
* DGAKI: Deutsche Gesellschaft für Allergologie und klinische Immunologie
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SCHWERPUNKT
Keine Impfungen auslassen.
Kein ungezieltes Screening nach Allergenen.
hen (Anamnese, ggf. Ernährungs-/Symptomtagebuch, Frage nach beschwerdefreien Zeiten) • eine Besserung bei Karenz eintreten • eine spezifische Sensibilisierung nachweisbar sein (Pricktest oder spezifische IgE). Hierbei ist zu beachten, dass nur die Hälfte der nachweisbaren Sensibilisierungen tatsächlich klinisch relevant ist. Da der Nachweis einer Sensibilisierung, sei es im Pricktest oder per IgE, deren klinische Relevanz nicht beweist, ist dieser Befund allein kein Grund für eine Eliminationsdiät. Nur wenn Anamnese und Symptomatik tatsächlich mit dem Befund gemäss Pricktest oder IgE-Messung übereinstimmen, kann eine Nahrungsmittelallergie diagnostiziert oder ausgeschlossen werden. Ein ungezieltes Screening ist weder per Hauttest noch per IgE-Messung sinnvoll und wird nicht empfohlen. Der Pricktest ist das bevorzugte Hauttestverfahren bei Nahrungsmittelallergien. Scratch-, Reib-, Intrakutanund geschlossene Epikutantests (z.B. Atopie-PatchTest) werden zur Routinediagnostik einer Nahrungsmittelallergie nicht empfohlen. Sinnvolle Indikationen zur IgE-Messung sind: • begründeter Verdacht oder gezielter Ausschluss einer IgE-vermittelten Nahrungsmittelallergie • bedrohliche Reaktionen auf Nahrungsmittel • Hauttest nicht möglich oder sinnvoll (z.B. Nahrungsmittel ungeeignet für Hauttest, Urticaria factitia, generalisierte Hauterkrankungen, Medikamente, die den Hauttest beeinträchtigen können [z.B. Antihistaminika, manche Antidepressiva]) • Alter des Probanden (bei Säuglingen oder Kleinkindern bevorzugt IgE-Bestimmung). Ein negativer Befund gemäss Pricktest oder IgE-Messung schliesst eine klinisch relevante IgE-vermittelte
Nahrungsmittelallergie zwar häufig, aber nicht absolut sicher aus. Falls mehrere Tests durchgeführt werden, die zu unterschiedlichen Befunden führen, ist das positive Ergebnis eher richtig als das (falsch) negative. Bei intermittiernder Verträglichkeit bestimmter Nahrungsmittel kann es sich um eine Allergie handeln, die von Augmentationsfaktoren abhängig ist. Die bekanntesten sind körperliche Anstrengung und nicht steroidale Entzündungshemmer (NSAID). Auch akute Infektionen, Fieber, Alkohol oder allergische Beschwerden in der Pollensaison wurden als Augmentationsfaktoren für Nahrungsmittelallergien beschrieben. Augmentationsfaktoren müssen insbesondere bei Provokationstests beachtet werden. Fehlen sie während des Provokationstests, kann dies zu falschnegativen Befunden führen.
Ungeeignete diagnostische Verfahren
Zum einen sind dies aus verschiedenen Gründen fragwürdige Verfahren wie Bioresonanz, Elektroakupunktur, Haaranalyse, Iridologie, Kinesiologie und der zytotoxische Lebensmitteltest (ALCAT-Test). Zum anderen handelt es sich um Tests mit realen Messdaten, die jedoch irreführend interpretiert werden. Hierzu zählen die Bestimmung von IgG- oder IgAAntikörpern sowie Lymphozytentransformationstests mit Nahrungsmitteln. Nahrungsspezifische IgG- oder IgA-Antikörper sind eine physiologische Reaktion auf Fremdprotein und belegen lediglich, dass wiederholt Kontakt mit dem Nahrungsmittel bestand. Die Proliferation von Lymphozyten nach Nahrungsmittelkontakt und entsprechende IgG/IgA können bei Allergikern zwar erhöht sein, beide Tests sind jedoch bei Weitem nicht spezifisch genug für eine individuelle Diagnostik. Darum wird von diesen Tests abgeraten.
Tabelle: Nahrungsmittelallergien: Manifestationen und Differenzialdiagnosen
IgE-vermittelt: • akute Urtikaria/Angioödem • Rhinokonjunktivitis, Asthma bronchiale • Anaphylaxie • sekundäre Kreuzallergie (vorwiegend pollenassoziiert) • gastrointestinale allergische Sofortreaktion
gemischt IgE- und zellvermittelt: • atopisches Ekzem/Dermatitis • eosinophilenassoziierte Erkrankungen des Gastrointestinaltrakts
zellvermittelt: • nahrungsmittelinduzierte Proktitis/Proktokolitis • nahrungsmittelinduziertes Enterokolitissyndrom • nahrungsmittelinduzierte Enteropathie • Zöliakie
nicht allergisch • Kohlenhydratmalassimilation/-absorption (Laktose, Fruktose, Sorbit;
selten: Saccharose, Glukose-Galaktose)
Diagnostische Eliminationsdiät und Provokationstest
Eine diagnostische Eliminationsdiät sollte nie länger als 2 Wochen dauern. Nur für nicht durch IgE vermittelte Reaktionen (Tabelle) können maximal 3 bis 4 Wochen sinnvoll sein. Zudem gibt es Hinweis darauf, dass eine längerfristige Eliminationsdiät das Risiko für Soforttypreaktionen beim erneuten Kontakt erhöht. Mit einem detailliert und vollständig (!) geführten Ernährungs-/Symptomtagebuch kann die Diagnose bestätigt oder widerlegt werden. Im Anschluss an eine diagnostische Eliminationsdiät sollte ein Provokationstest unter ärztlicher Aufsicht erfolgen. In der Regel sind kontrollierte orale Provokationsstests notwendig, um die Diagnose einer Nahrungsmittelallergie zu sichern; die Beschreibung, wie diese durchzuführen sind, würde den Rahmen dieser Zusammenfassung sprengen, sodass auf die Originalpublikation verwiesen wird.
Differenzialdiagnosen nicht vergessen
Nicht jede Nahrungsmittelunverträglichkeit ist eine Allergie. Nahrungsmittel können unterschiedliche Erkrankungen über unterschiedliche pathophysiologische Mechanismen auslösen (Tabelle). Sie müssen
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SCHWERPUNKT
Diagnostische Eliminationsdiät nicht länger als zwei Wochen durchführen.
Karenzgebot von Zeit zu Zeit überprüfen.
von einer IgE-vermittelten Allergie abgegrenzt werden, um geeignete therapeutische Massnahmen zu veranlassen. Bei Verdacht auf eine nicht durch IgEvermittelte gastrointestinale Unverträglichkeit sollte ein (pädiatrischer) Gastroenterologe in die Diagnostik mit einbezogen werden.
Akuttherapie
Für das Vorgehen bei einer akuten allergischen Reaktion auf Nahrungsmittel ist die richtige Einschätzung des Risikos für schwere Reaktionen sehr wichtig. Ein höheres Risiko besteht bei früheren anaphylaktischen Reaktionen, schwerem und/oder nicht kontrolliertem Asthma bronchiale sowie bei bestimmten Grunderkrankungen (z.B. Mastozytose). Bei schweren allergischen Reaktionen gegen Nahrungsmittel ist intramuskuläres Adrenalin die erste Wahl. Patienten mit hohem Risiko sollen mit einem Adrenalinautoinjektor ausgestattet und entsprechend instruiert sein (Instruktion auch für Angehörige, Lehrer usw., Anaphylaxiepass). Bei akuten, nicht lebensbedrohlichen Symptomen, insbesondere bei urtikariellen und Schleimhautreaktionen, können Antihistaminika genügen. Antihistaminika sollen aber nicht prophylaktisch genommen werden, weil die vorbeugende Gabe frühe Symptome der Anaphylaxie verschleiern und somit die notwendige Adrenalininjektion verzögern kann.
Karenz ist die wichtigste Massnahme
Nach wie vor ist die Karenz der auslösenden Nahrungsmittel die wichtigste therapeutische Massnahme bei Nahrungsmittelallergien. Bei Kuhmilchallergie im Säuglingsalter wird eine Ersatznahrung gegeben (Extensivhydrolysat oder ASFormula, je nach Schwere der Symptome), falls Stillen nicht möglich oder nicht ausreichend ist. Sojaformula wird für Säuglinge unter 12 Monaten nicht empfohlen. Partiell hydrolisierte Säuglingsnahrungen sind bei Kuhmilchallergie nicht geeignet, ebenso wenig Schafoder Ziegenmilch. Stillende Mütter sollten vorübergehend auf bestimmte Nahrungsmittel verzichten, wenn der Verdacht besteht, dass diese Nahrungsmittel beim Säugling Beschwerden auslösen.
Karenzgebot regelmässig überprüfen
Wie eingangs erwähnt, besteht bei Nahrungsmittelallergien im Kindesalter eine hohe Selbstheilungstendenz. Darum ist ein Karenzgebot regelmässig zu überprüfen.
Bei einer Allergie auf Kuhmilch oder Hühnerei sollte man bei Kleinkindern mittels oraler Provokation alle 6 bis 12 Monate überprüfen, ob das Lebensmittel mittlerweile toleriert wird. Bei älteren Kindern beträgt das Intervall 12 bis 18 Monate. Bei Nahrungsmittelallergien mit ungünstiger Prognose (z.B. Erdnüsse, Baumnüsse) ist das Intervall individuell zu wählen (mindestens 5 Jahre); eine Reevaluation mittels Provokationstest kommt bei solchen Allergien insbesondere dann infrage, wenn das Allergen aus Versehen konsumiert wurde und keine allergische Reaktion auftrat.
Was bringen Dauermedikation oder SIT?
Die Studienergebnisse bezüglich einer Dauertherapie mit Mastzellstabilisatoren (Cromoglycinsäure, Ketotifen) sind widersprüchlich, sodass keine allgemeine Therapieempfehlung gegeben wird. Es scheint so zu sein, dass intestinale Symptome einer Nahrungsmittelallergie durch Cromoglycinsäure gedämpft werden, während dies für kutane und extraintestinale Symptomatik nicht zutrifft. Zu Budesonid gibt es keine randomisierten Studien bei IgE-vermittelter Nahrungsmittelallergie. Trotzdem sind die Leitlinienautoren der Ansicht, dass sowohl Cromoglycinsäure als auch Budesonid bei ausschliesslich gastrointestinalen Symptomen gegebenenfalls individuell erwogen werden können. Derzeit ist keine spezifische Immuntherapie (SIT) bei Nahrungsmittelallergie zugelassen. Spezifische orale, sublinguale (SLIT) oder subkutane (SCIT) Immuntherapien sollten bei einer primären Nahrungsmittelallergie nur in kontrollierten Studien versucht werden. Das Gleiche gilt für eine orale SIT mit dem Pollenallergen bei pollenassoziierter Nahrungsmittelallergie. Eine SCIT oder SLIT gegen das Pollenallergen bei einer pollenassoziierten Nahrungsmittelallergie sollten nur dann erwogen werden, wenn gleichzeitig pollenbedingte Atemwegsbeschwerden bestehen.
Die Zusammenfassung dieser Leitlinie erfolgte durch Dr. Renate Bonifer, Redaktorin PÄDIATRIE.
Quelle und Download: Worm M et al.: Leitlinie zum Management IgE-vermittelter Nahrungsmittelallergien. Allergo J Int 2015; 24: 256–293. AWMF-Leitlinien-Register-Nr.: 061-031; Download unter: www.awmf.org
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