Transkript
Enuresis und funktionelle Harninkontinenz
SCHWERPUNKT
Einnässen am Tag und/oder in der Nacht ist bei Kindern im Vorschulalter nicht selten. Während eine kontinuierliche Harninkontinenz oft organisch bedingt ist, handelt es sich bei intermittierender Inkontinenz meist um funktionelle Störungen. Auch wenn keine organische Ursache vorliegt, ist dies keineswegs «harmlos», denn die Lebensqualität der betroffenen Kinder und Eltern ist davon in vergleichbarem Mass beeinträchtigt wie beispielsweise bei Asthma oder Diabetes Typ 1. In diesem Artikel werden die wichtigsten Punkte zur Abklärung und Therapie bei funktioneller Harninkontinenz und Enuresis erläutert.
Zusammenfassung der Leitlinie der DGKJP und DGKJ*
Die Klassifizierung verschiedener Formen der funktionellen Harninkontinenz ist therapeutisch relevant (Abbildung). Im Wesentlichen unterscheidet man die Harninkontinenz im Schlaf (Enuresis mit oder ohne Blasenfunktionsstörung) von derjenigen am Tag, wobei das Einnässen während des Mittagsschlafs ebenfalls als Enuresis gilt. Die wichtigsten Formen von Blasenfunktionsstörungen bei funktioneller Harninkontinenz am Tag sind die überaktive Harnblase/Dranginkontinenz (overactive bladder, OAB), der Miktionsaufschub, die dyskoordinierte Miktion und die unteraktive Blase. Bei funktioneller Harninkontinenz und Enuresis ist zu bedenken, dass sie bis zu einem Alter von 5 Jahren physiologisch sein können. Wenn organische Ursachen ausgeschlossen werden können, sollte eine Harninkontinenz bis zu diesem Alter nur in Ausnahmefällen als medizinisches Problem mit den entsprechenden diagnostischen und therapeutischen Konsequenzen betrachtet werden. Überdies soll eine funktionelle Harninkontinenz oder Enuresis erst dann als «Störung» bezeichnet werden, wenn sie mindestens einmal pro Monat über eine Dauer von drei Monaten aufgetreten ist. Aufhorchen sollte man jedoch, wenn ein Kind bereits trocken war und plötzlich wieder einnässt. Psychiatrische Komorbiditäten oder besondere Situationen psychischer Belastung sind häufiger mit sekundärer Harninkontinenz assoziiert und sollten entsprechend abgeklärt werden.
Basisdiagnostik
Die Anamnese ist von entscheidender Bedeutung, denn sie gibt Aufschluss darüber, unter welcher Form der Harninkontinenz das Kind leidet. Bei der funktionellen Harninkontinenz sind Misch- und Übergangsformen nicht selten. Auch ist bei Enuresis auf allfällige
Abbildung: Klassifizierung verschiedener Harninkontinenzformen
funktionelle Harninkontinenz zu achten. Eine nicht monosymptomatische Enuresis nocturna (Non-MEN) findet sich vor allem bei Kindern mit überaktiver Blase und verminderter Blasenkapazität (häufig mehrere Einnässereignisse in der Nacht) sowie bei habituellem Miktionsaufschub. Die Non-MEN wird immer wieder übersehen, wenn die Kinder tagsüber trocken sind. Hilfreich sind entsprechende Anamnesefragebögen sowie ein «Blasentagebuch» für mindestens 48 Stunden mit Erfassung der Miktions- und Trinkmengen sowie ein 14-Tage-Protokoll zur Häufigkeit von Harninkontinenz, Stuhlgang, Stuhlschmieren oder Enkopresis (Strichliste). Verschiedene Anamnesefragebögen und ein 48-Stunden-Blasenprotokoll zum Ausfüllen
* DGKJP: Deutsche Gesellschaft für Kinderund Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. DGKJ: Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin.
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für die Eltern sind im Anhang der deutschen Leitlinie verfügbar (siehe Quelle und Download). Als Tipp für die Praxis werden in Kasten 1 exemplarisch einige der Anamnesefragen zur Abklärung der Harninkontinenzform eines Schweizer Kinderspitals vorgestellt. Wie bereits erwähnt, ist auch die Abklärung psychischer Symptome wichtig, vor allem bei Kindern, die tagsüber einnässen und bei denen Verdacht auf eine psychische Störung besteht. Zur Basisdiagnostik gehört neben der sorgfältigen Anamnese die Urinuntersuchung (HWI?), eine Rest-
Kasten: Praxistipps zur Anamnese
Timing → MEN, Non-MEN, funktionelle Harninkontinenz? Jemals trocken? Nachts? Am Tage? In welchem Alter und wie lange? Wie oft zur Toilette am Tag?
Sphinkter-/Entleerungsstörung → dyskoordinierte Miktion? → unteraktive Blase? Harnstrahl: Kräftig? In einem Zug? Schwach? Stotternd? Ständig träufelnd? Miktion: Mit Bauchpresse? Schnell und vollständig? Kommt nicht sofort in Gang (initiales Warten)? Stressinkontinenz, z.B. beim Husten, Niesen oder Hüpfen)?
Sensibilität/Speicherstörung → überaktive Blase? → Miktionsaufschub? Plötzlicher starker Harndrang? Kann Harndrang nicht unterdrücken? Muss zur Toilette rennen? Haltemanöver wie Zusammenpressen der Beine oder Fersensitz? Wird der Urinabgang wahrgenommen? Unwillkürlicher Urinabgang?
Quelle: Die Fragen wurden exemplarisch aus dem Anamnesefragebogen eines Schweizer Kinderspitals ausgewählt.
Tabelle 1: Richtwerte für die Befunde der Basisuntersuchung
Miktionsfrequenz Restharn Blasenkapazität
nächtliche Polyurie Polyurie
vermindert: ≤ 3 Miktionen pro Tag vermehrt: ≥ 8 Miktionen pro Tag Grenzwert ≤ 6 Jahre: > 20 ml Grenzwert ≥ 7 Jahre: > 10 ml mehrfache Bestimmungen bis 5 Minuten nach der Miktion erforderlich (Alter des Kindes in Jahren + 1) x 30 = Blasenkapazität in ml Formel anwendbar bis 12. Lebensjahr normal: 65–150% des zu erwartenden (errechneten) Miktionsvolumens kleine Kapazität: < 65% grosse Kapazität: > 150% nächtliche Urinausscheidung >130% der für das Alter zu erwartenden Blasenkapazität Urinmenge > 4 ml/kgKG/h oder > 1200 ml/m2KOF/Tag
KG: Körpergewicht; KOF: Körperoberfläche
harnbestimmung, die behutsame Untersuchung von Anus und Genitale sowie die Sonografie von Nieren und Harnwegen, um organische Ursachen auszuschliessen. Richtwerte und Leitsymptome sind in den Tabellen 1 und 2 zusammengefasst. Eine Übersicht, um welche Form der funktionellen Harninkontinenz es sich bei bestimmten Symptomen und Befunden handelt, bietet Tabelle 3. Auf die Abklärungen eines breiten Spektrums potenzieller organischer Harninkontinenzursachen (anatomisch, neurologisch etc.) wird in dieser Zusammenfassung nicht näher eingegangen; detaillierte Ausführungen hierzu finden sich in der Leitlinie (s. Quelle und Download). Erwähnt werden sollen an dieser Stelle einige wichtige Leitsymptome, die in Tabelle 4 zusammengefasst sind.
Prioritäten setzen
Bevor man mit einer Therapie bei einer funktionellen Harninkontinenz und/oder Enuresis beginnt, sollen manifeste komorbide Störungen angegangen werden. An erster Stelle stehen hier Obstipation und/oder Stuhlinkontinenz. Häufig führt eine erfolgreiche Obstipationsbehandlung auch zu einer Normalisierung der Blasenfunktion. Klinisch relevante psychische Störungen müssen zusätzlich behandelt werden. Bei symptomatischen Harnwegsinfekten mit Blasendysfunktion ist eine Antibiotikaprophylaxe zu erwägen (Resistrogramm!), die jedoch nicht länger als 6 Monate andauern sollte. Bei der Behandlung der Harninkontinenz geht es zunächst um die Inkontinenz im Wachzustand. Falls eine Enuresis mit Tagessymptomen besteht, werden zuerst Letztere behandelt und erst danach die Enuresis.
Allgemeine Therapiemassnahmen
Alle Kinder mit funktioneller Harninkontinenz und/ oder Enuresis sollen mit der sogenannten «StandardUrotherapie» behandelt werden. Man darf sich davon einen recht guten Erfolg versprechen: Zirka 40 Prozent der Kinder werden damit geheilt, bei weiteren 40 Prozent kommt es zu einer deutlichen Besserung der Symptome. Die Standard-Urotherapie umfasst fünf Punkte: • Information und Entmystifizierung • Instruktionen zum optimalen Miktionsverhalten • Instruktionen zum Trink- und Ernährungsverhalten • Dokumentation von Symptomatik und Miktionsver-
halten (Kalender) • regelmässige Betreuung und Unterstützung. Die Kinder sollen ihre Blase bei Harndrang möglichst rasch entleeren, in Ruhe und entspannter Haltung (kindgerechter Toilettensitz, Aufstellen der Füsse ggf. mit Fussbank ermöglichen). Bei altersgemässer Trinkmenge und Blasenkapazität sind 5 bis 7 Miktionen pro Tag normal. Das Trinken am Abend strikt zu verbieten, ist kontraproduktiv, ebenso wie unwirksame Medikamente, Vorwürfe oder gar Strafen. Viele Kinder trinken wegen ihrer Harninkontinenz zu wenig. Sie sollten jedoch regelmässig, über den Tag verteilt ausreichend trinken (1000–1500 ml pro Tag, je nach Alter, Ernährung und Aktivität). Bewährt hat sich die «7-Becher-Regel», das
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heisst über den Tag hinweg 7 Becher mit je nach Alter 150 bis 200 ml zu trinken, die letzte Portion etwa 2 Stunden vor dem Schlafengehen. Ebenfalls bewährt hat sich die Regel, dass Trinken und Miktion zusammengehören, mit Ausnahme der Miktion vor dem Schlafengehen.
Das Führen eines kindgerechten Kalenders (evtl. vom Kind selbst gestalten lassen) mit den «trockenen» und «nassen» Tagen (z.B. Sonne/Wolken) kann die Motivation des Kindes steigern, seine Blasensignale stärker zu beachten. Die Eltern sollten ihre Kinder für trockene Nächte und Tage loben, das Einnässen aber auf keinen Fall bestrafen.
Tabelle 2: Wichtige Leitsymptome bei Harninkontinenz
Harnspeicherstörung Harninkontinenz/Enuresis, Polliakisurie, imperativer Harn-
drang, Haltemanöver, Miktionsaufschub, Abweichen der Mik-
tionsfrequenz von der Norm
Harnentleerungs- verzögertes Ingangkommen der Miktion, Miktion mit Bauch-
störung
presse, abgeschwächter Harnstrahl, stotternde (Stakkato-)
Miktion, unterbrochene Miktion
Enuresis mono-
Enuresis ohne Hinweise für eine Blasendysfunktion,
symptomatisch
erschwerte Weckbarkeit (Tiefschläfer), familiäre (genetische)
(MEN)
Veranlagung, nächtliche Polyurie
Enuresis nicht
Enuresis mit Blasendysfunktion, mit oder ohne
monosymptomatisch Harninkontinenz tagsüber
(Non-MEN)
Doppelniere*
ständiges Harnträufeln in unterschiedlicher Intensität
vaginaler Influx
Nachträufeln/Inkontinenz nach Miktion
Harnwegsinfekt
sekundäre Harninkontinenz, Pollakisurie, Harndrang,
Schmerzen bei Miktion, unangenehmer Uringeruch
Diabetes mellitus, Polyurie: Urinausscheidung > 4 ml/kgKG/h oder
Diabetes insipi-
> 1200 ml/m2KOF/Tag
dus centralis/renalis, regelmässiges nächtliches Trinkbedürfnis
polyurische Nieren-
erkrankung,
habituelle Polydipsie
* mit ektop mündendem Anteil der oberen Doppelnierenanlage (nur bei Mädchen). KG: Körpergewicht; KOF: Körperoberfläche.
Tabelle 3: Symptome und Befunde funktioneller Blasenfunktionsstörungen
Harndrang
Haltemanöver Miktionsbeginn
überaktive Blase und Dranginkontinenz imperativ, Haltemanöver ja –
Miktionsaufschub normal bis imperativ ausgeprägt –
Miktionsvolumen klein bis normal Miktionsfrequenz hoch (abhängig von
Trinkmenge) Blasenkapazität häufig vermindert Blasenwand meist normal,
selten wenig verdickt Uroflowmetrie Glocke oder Tower
(eingipflig)
gross selten bis normal häufig erhöht normal oder verdickt Glocke oder Tower (eingipflig)
Restharn Sonstiges
nein möglich Enuresis häufig und – oft mehrmals im Schlaf
dyskoordinierte Miktion normal bis imperativ ja verzögert
normal bis gross selten bis normal – verdickt
Stakkatomiktion
ja –
unteraktive Blase –
– verzögert, Miktion mit Bauchpresse – unterschiedlich
– normal oder verdickt unterbrochene Miktion (fraktioniert), abgeflachte (Plateau-)Kurve ja –
Therapie bei überaktiver Harnblase
Bei überaktiver Harnblase (OAB) soll zunächst eine Standard-Urotherapie für mindestens 4 Wochen durchgeführt werden. Das Kind soll bei Harndrang sofort zur Toilette gehen (auch in der Schule) sowie Toilettengänge und Einnässen in einem Kalender aufschreiben. Es ist nicht sinnvoll, den Urin möglichst lange einzuhalten, um die Blasenkapazität zu steigern, weil dies das Risiko für eine dyskoordinierte Miktion erhöht. Falls die konservative Therapie nicht erfolgreich ist, kommen Anticholinergika infrage, wobei die Standard-Urotherapie immer begleitend weiterlaufen soll. Wie wichtig die begleitende Urotherapie ist, zeigte sich in einer plazebokontrollierten Anticholinergikastudie, in der in beiden Armen eine konsequente Standard-Urotherapie durchgeführt wurde. Unter diesen Voraussetzungen schnitt das Anticholinergikum nicht besser ab als Plazebo. In der Schweiz ist Oxybutynin (Ditropan®) für Kinder ab 5 Jahren zugelassen; als besser verträglich gilt in dieser Altersklasse das Propiverin, das jedoch in der Schweiz nicht zugelassen ist. Trospiumchlorid (Spasmex®) ist ab 12 Jahren zugelassen. Insgesamt treten die typischen Nebenwirkungen der Anticholinergika bei Kindern seltener auf als bei Erwachsenen. Anticholinergika bewirken bei OAB im Kindesalter bei bis zu 60 Prozent der Kinder eine Besserung der Symptome, häufig jedoch keine stabile Kontinenz. Nach dem Absetzen kommt es bei jedem zweiten Kind zu einem Rückfall. Eine Besserung der Symptomatik sollte nach spätestens 4 Wochen eintreten, sonst wird das Medikament wieder abgesetzt. Bei Erfolg ist die Therapie für etwa 6 Monate weiterzuführen und dann auszuschleichen; verschlechtert sich dann die Symptomatik, kann zur zuvor erfolgreichen Dosis zurückgekehrt werden. Die sakrale Neurostimulation mittels TENS kann für Kinder mit therapieresistenter überaktiver Blase eine Alternative sein; sie wird zu Hause durchgeführt. Auch hierbei muss gleichzeitig die Standard-Urotherapie weiterlaufen. Die sakrale Neurostimulation hat sich in mehreren Studien als wirksam erwiesen. Da es insgesamt nur wenige Studien mit recht unterschiedlichem Design gibt, können noch keine allgemeingültigen Aussagen zur Wirksamkeit dieser Methode gemacht werden. Für Kinder nicht empfohlen werden Botulinumtoxininjektionen. Der Behandlungserfolg hält allenfalls 6 bis 9 Monate an, und die kurz- und langfristigen Risiken dieser Behandlung bei Kindern sind nicht bekannt.
Was tun bei Miktionsaufschub?
Medikamente sind bei dieser Form der Harninkontinenz nicht indiziert. Im Rahmen der Urotherapie sol-
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len sich die Kinder an das regelmässige Entleeren der Blase gewöhnen (5–7 Miktionen am Tag). Die Eltern sollten das Kind regelmässig zur Toilette schicken. Auch Uhren oder Apps, die das Kind regelmässig daran erinnern, haben sich bewährt. Häufig finden sich bei diesen Kindern auch Obstipation, Harnwegsinfektionen sowie ein gestörtes Sozialverhalten. Diese Faktoren müssen bei der Therapie ebenfalls berücksichtigt werden.
Therapie bei dyskoordinierter Miktion …
Bei dieser Form der Harninkontinenz besteht das Problem in der gestörten Interaktion zwischen Detrusorund Beckenbodenmuskulator während der Miktion. Physiotherapie begleitend zur Standard-Urotherapie ist bei diesen Kinder sehr sinnvoll. So lernen sie, Harnblase und Beckenboden besser wahrzunehmen. Reicht das nicht aus, kann man es mit kindgerechten Biofeedbackmethoden versuchen. Deren Wirksamkeit wird zurzeit zwar aufgrund einer neueren Metaanalyse angezweifelt, die klinische Erfahrung der Leitlinienautoren spricht jedoch trotzdem dafür. Parallel zu Biofeedbackverfahren soll, wie immer, die allgemeine Urotherapie erfolgen. Medikamente werden nicht empfohlen, auch wenn in Einzelfällen eine Behandlung mit alpha-1-adrenergen Antagonisten versucht wurde, um den Tonus des inneren Sphinkters zu verringern.
… und bei anderen Harninkontinenzformen
Bei der unteraktiven Blase kann eine intermittierende Katheterisierung neben der Urotherapie notwendig sein. Die Lachinkontinenz ist eine seltene Form der Harninkontinenz, von der überwiegend Mädchen im Teenageralter betroffen sind; oft geht sie mit zunehmendem Alter von selbst zurück. Verantwortlich ist ein
kurzzeitiger Verlust des Muskeltonus, ähnlich einer Kataplexie. Hier sind neben der Urotherapie Entspannungsübungen und gegebenenfalls Methylphenidat indiziert. Bei der Belastungs- oder Stressinkontinenz werden bei erhöhtem intraabdominellem Druck kleine Urinmengen entleert, beispielsweise beim Husten, Niesen oder Hüpfen. Bei neurologisch und muskulär gesunden Kindern ist diese Form der Harninkontinenz sehr selten. Als Therapie kommen Beckenbodentraining, Biofeedback oder TENS infrage.
Behandlung bei Enuresis
Die Blasenkontrolle im Schlaf ist in der Regel der letzte Schritt in der Entwicklung der Kontinenz, sodass an dieser Stelle daran erinnert werden soll, dass Enuresis bei Kindern unter 5 Jahren nicht zwingend behandlungsbedürftig ist. Die jährliche Spontanheilungsrate bei Enuresis liegt bei zirka 15 Prozent. Der erste therapeutische Schritt ist auch hier Standard-Urotherapie mit Beratung und Führen eines Kalenders; zirka 2 Stunden vor dem Schlafengehen sollten die Kinder nichts mehr trinken. In Studien zeigte sich, dass mit dieser Strategie 15 bis 20 Prozent der Fälle gelöst sind. Meist genügen dafür 4 Wochen. Falls das Problem weiterhin besteht, kommen die apparative Verhaltenstherapie (AVT; ein Apparat sendet Wecksignale bei Einnässen) oder Desmopressin (Minirin®, Nocutil®) infrage. Beide Massnahmen erfordern eine ausreichende Motivation und Bereitschaft von Kindern und Eltern, das Problem aktiv anzugehen. Erste Wahl ist die AVT. Kindern mit eindeutigen Hinweisen für eine nicht monosymptomatische Enuresis (Non-MEN) und mit mehrfachem Einnässen in der Nacht sollte sie primär nicht angeboten werden. Die AVT muss mindestens 2 bis 3 Monate lang angewendet werden, ohne Unterbrechung in jeder Nacht, und zwar so lange, bis das Kind 14 Nächte hintereinander trocken geblieben ist; in der Regel aber nicht länger
KOMMENTAR Kurz gefasste Praxistipps
Inhaltlich entspricht diese Guideline im Wesentlichen den Schweizer Gepflogenheiten. Es erstaunt allerdings etwas, dass die «Klingelhose» eher nicht bei Non-MEN empfohlen wird. Gerade bei der hyperaktiven Blase ist der Weckapparat besonders nützlich, denn seine Anwendung führt mit der Zeit zu einer Vergrösserung der Blasenkapazität, was in einer Studie von Hvistendahl et al. 2004 bei der Anwendung bei monosymptomatischer Enuresis nocturna aufgezeigt werden konnte.* Ein weiterer Punkt ist die Betonung psychischer Faktoren. Sie ist meiner Ansicht nach etwas zu stark ausgefallen. Selbstverständlich können psychische Faktoren bei Enuresis nocturna und Inkontinenz tagsüber eine Rolle spielen und sollen darum auch immer mit abgeklärt werden. Ein häufiges Problem solcher Guidelines ist, dass konkrete Massnahmen in der Textfülle unterzugehen drohen. Wir haben am Kinderspital Luzern kurz gefasste, konkrete Massnahmen für die Abklärung und Behandlung bei Harninkontinenz formuliert und stellen diese auf der Webseite
www.kispi-wiki.ch zur Verfügung. Darüber hinaus möchte ich den Leserinnen und Lesern auch noch die Lektüre einer Schweizer Publikation von 2010 ans Herz legen. Sehr hilfreich ist auch ein Blick auf die Homepage der ICCS (International Children's Continence Society), welche die wesentlichen Guidelines für Inkontinenz im Kindesalter erstellt.
Dr. med. Sandra Shavit Luzerner Kantonsspital, Kinderspital
Linktipp: Enuresis nocturna und Inkontinenz tagsüber https://www.kispi-wiki.ch/padiatrie/nephrologie/enuresis-und-inkontinenz/ International Children’s Continence Society (ICCS): www.i-c-c-s.org
Schweizer Richtlinien 2010: Wilhelm-Bals A, Birraux J, Girardin E: Miktionsstörungen im Kindesalter. Schweizerische Arbeitsgruppe für Pädiatrische Nephrologie, SAPN. Paediatrica 2010; 21 (5): 31–36.
*Hvistendahl K et al.: The effect of alarm treatment on the functional bladder capacity in children with monosymptomatic nocturnal enuresis. J Urol 2004; 171: 2611-2614.
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als 4 Monate. Falls sich nach 6 bis 8 Wochen keinerlei Erfolg zeigt, ist die korrekte Anwendung der AVT zu hinterfragen. Bei 50 bis 80 Prozent der Kinder stellt sich ein Erfolg nach 8 bis 10 Wochen ein, wobei zwei Drittel der Kinder dann die ganze Nacht ohne Einnässen schlafen und ein Drittel wegen Harndrangs rechtzeitig erwacht und zur Toilette geht. Ein langfristiger Erfolg nach Absetzen der AVT ist bei etwa der Hälfte der Kinder zu erwarten. Bei Rückfällen wird empfohlen, wieder mit der AVT zu beginnen. Desmopressin ist eine Alternative, falls die AVT trotz korrekter Anwendung nicht zum Erfolg führt, eine AVT abgelehnt wird oder nicht durchführbar ist, die Familie das Medikament gegenüber der AVT bevorzugt oder ein sehr hoher Leidensdruck besteht, der eine rasche Besserung der Symptomatik erfordert. Desmopressin ist auch geeignet, um kritische Situationen wie Schulausflüge oder Reisen zu überbrücken. Desmopressin wird bei Enuresis oral als Tablette oder Schmelztablette gegeben, wobei die Schmelztablette möglicherweise bezüglich Anwendung und Compliance günstiger ist. 70 Prozent der Kinder sprechen auf Desmopressin rasch an (30% vollständig, 40% teilweise). Falls nach 4 Wochen kein Erfolg eintritt, ist das Medikament abzusetzen. Im Erfolgsfall darf es maximal 3 Monate lang täglich gegeben werden, danach ist es abzusetzen beziehungsweise auszuschleichen. Desmopressin wirkt kurzfristig besser als die AVT, bei abruptem Absetzen langfristig jedoch schlechter, sodass ein schrittweises Ausschleichen empfohlen wird.
Cave: Über die Nebenwirkungen von Desmopressin muss sorgfältig aufgeklärt werden. Insbesondere ist es wichtig, abends nur wenig (max. 250 ml) und in der Nacht gar nicht zu trinken. Bei Nachweis einer Polydipsie/Polyurie ist Desmopressin kontraindiziert. Falls weder AVT noch Desmopressin helfen, kann man zunächst die jeweils andere Methode versuchen. Eine Kombination von AVT plus Desmopressin hat keinerlei Vorteile gegenüber der AVT allein. Bei Therapieresistenz sollte die diagnostische Abklärung erneut von vorne beginnen und insbesondere auch die in der Nacht ausgeschiedene Urinmenge gemessen werden, um nach Anzeichen für eine nächtliche Polyurie, den Symptomen einer überaktiven Blase und einer für das Alter nicht angemessenen Blasenkapazität zu suchen. Bei Enuresis nicht empfohlen werden Anticholinergika, Imipramin oder andere Medikamente; das Gleiche gilt für nicht verhaltenstherapeutische Psychotherapien (z.B. psychodynamische Psychotherapie, Hypnotherapie) sowie manuelle Therapie oder Akupunktur.
Die Zusammenfassung dieser Leitlinie erfolgte durch Dr. Renate Bonifer, Redaktorin PÄDIATRIE.
Quelle und Download: AWMF-Register Nr. 028-026: S2k-Leitlinie Enuresis und nicht organische (funktionelle) Harninkontinenz bei Kindern und Jugendlichen. Stand: Dezember 2015. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) und Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ). Download: www.awmf.org
BUCHTIPP
Wenn Kinder aus der Reihe tanzen
Dieser neue Ratgeber soll Eltern, Jugendlichen und Fachleuten wie Ärzten und Psychotherapeuten Grundlagen zum besseren Verständnis psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter vermitteln. Häufig dauert es eine gewisse Zeit, bis in der Familie oder in der Schule auffällt, dass ein Kind oder ein Jugendlicher «aus der Reihe tanzt», aneckt, auffällt oder sich nicht altersgemäss entwickelt. Rat und Unterstützung von Fachleuten ist wichtig, denn viele psychische Störungen kann man behandeln – je früher, desto besser. In 25 Kapiteln werden Probleme von A wie ADHS bis Z wie Zwangsstörungen in einer verständlichen Sprache und anhand von anschaulichen Fallgeschichten erläutert. Besonders nützlich dürften die konkreten Tipps sein, die in jedem Kapitel gegeben werden.
In weiteren 5 Kapiteln geht es um den Aspekt «Unterstützung finden». Die Themen reichen von «Mein Kind soll in die Psychotherapie – was bedeutet das?» über Medikamente, Angebote der Kinder- und Jugendhilfe und der Schule bis zu einem Überblick zu den Leistungen der IV. Ein umfangreiches Verzeichnis nützlicher Links und weiterführender Literatur rundt das Werk ab. Ein lesenswertes Buch, das in der Bibliothek eines Kinderarztes nicht fehlen sollte. RBO
Kurt Albermann (Hrsg.) Wenn Kinder aus der Reihe tanzen 240 Seiten, ISBN: 978-3-85569-838-7 Fr. 40.90. Auch als E-Book erhältlich.
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