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Obstipation im Kindesalter
Was sollte man tun, was möglichst unterlassen?
Obstipation im Kindesalter ist ein häufiger Grund für die Konsultation in der Kinderarztpraxis. In den weitaus meisten Fällen handelt es sich um eine funktionelle Störung, welche die Lebensqualität des Kindes jedoch massiv beeinträchtigen kann. Am DGKJKongress in Hamburg erläuterten Prof. Dr. med. Karl-Michael Keller und Dr. med. Henning Lenhartz, was bei Abklärung und Therapie zu beachten ist.
Die Spanne der als normal geltenden Stuhlfrequenzen ist weit.
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Eine rasche Behandlung bei chronischer Verstopfung im Kindesalter ist wichtig, weil sich die Prognose rapide verschlechtert, je länger man mit der Behandlung wartet. So dürfe man bei einem Therapiebeginn innert 3 Monaten nach Beginn der Symptome damit rechnen, dass nach einem halben Jahr Therapie etwa 80 Prozent der Kinder keine Laxanzien mehr benötigten, sagte Dr. med. Henning Lenhartz, Leitender Oberarzt am Katholischen Kinderkrankenhaus Wilhelmstift, Hamburg. Beginnt man mit der Therapie jedoch erst später, beträgt diese Erfolgsrate nur noch 30 Prozent.
Was ist normal, was nicht?
Die Spanne der als normal geltenden Stuhlfrequenzen ist weit, und sie ist ernährungs- und altersabhängig. Die meisten gesunden Kinder im Alter von etwa 3 Jahren (97%) haben 1-mal am Tag Stuhlgang, aber auch die folgenden Varianten sind durchaus noch normal (1): • gestillte Säuglinge: 8- bis 12-mal pro Tag bis 1-mal
in 3 bis 4 Wochen; • Säuglinge mit Flaschennahrung: 2- bis 4-mal pro
Tag; • im Alter von 6 Monaten bis 3 Jahren: 3- bis 4-mal
pro Tag bis 1-mal jeden 2. Tag; • ältere Kinder: 3-mal pro Tag bis 3-mal pro Woche
(ähnlich wie bei den Erwachsenen). Bei Kleinkindern liegt eine funktionelle Obstipation vor, wenn mindestens zwei der folgenden Symptome seit mindestens einem Monat bestehen (2): • 2 oder weniger Defäkationen pro Woche; • exzessive Stuhlretention; • schmerzhafte, harte Darmbewegungen; • grosskalibrige Stühle; • grosse Stuhlmassen im Rektum. Bei Kindern, die bereits zur Toilette gehen, sprechen folgende zusätzliche Kriterien für eine funktionelle Obstipation:
• wenigstens1-mal pro Woche inkontinent trotz Toilettenfähigkeit;
• grosskalibrige Stühle, die die Toilette verstopfen können.
Auch das Reizdarmsyndrom kann mit Verstopfung einhergehen. Anders als bei der funktionellen Obstipation verschwinden hier jedoch die abdominellen Beschwerden nicht, wenn die Verstopfung beseitigt ist.
Sonderfall Dyschezie
Die Dyschezie, ein Phänomen, das bei rund 4 Prozent der Säuglinge im Alter bis zu 9 Monaten vorkommt, erwähnte Prof. Dr. med. Karl-Michael Keller, Chefarzt Kinder- und Jugendmedizin an der DKD Helios Klinik Wiesbaden. Die sonst gesunden Babys strengen sich beim Stuhlgang offensichtlich an (rotes Gesicht, Schreien). Sie sind aber nicht verstopft, denn der Stuhl ist weich. Die Symptome dauern in der Regel 10 bis 20 Minuten. Das Phänomen verschwindet in der Regel nach 3 bis 4 Wochen von alleine. Ursache sind Koordinationsschwierigkeiten, die eine adäquate Relaxation des Beckenbodes bei erhöhtem intraabdominellem Druck erschweren. Wichtig sei es, den Eltern zu erklären, dass das Kind nicht krank ist, sondern die Defäkation erst noch lernen muss. Die Eltern sollten jegliche rektale Stimulationen oder den Gebrauch von Laxanzien unterlassen, mit denen sie ihrem Kind zu helfen glauben. Sie riskieren vielmehr, das Kind darauf zu konditionieren, mit dem Stuhlgang immer erst auf die Stimulation zu warten, sagte Keller.
Abklärung mit Augenmass
Während frühere Rom-Kriterien zu funktionellen gastroenterologischen Störungen eine lange Liste auszuschliessender Erkrankungen enthielten, heisst es in den neuen, in diesem Jahr publizierten Rom-IV-Kritieren nur noch, dass eine «angepasste, geeignete Evaluation» erfolgen sollte. Führe diese nicht zu alternati-
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Bereits nach einem Monat spricht man von chronischer Obstipation.
ven Erklärungen für die Beschwerden, handle es sich um eine funktionelle Störung. Dies sei eine hilfreiche Weiterentwicklung der Guidelines, weil dadurch Überdiagnostik vermieden werden könne, sagte Keller, der die neuen Rom-IV-Kriterien für funktionelle gastrointestinale Beschwerden im Übrigen als «Pflichtlektüre für alle Kinder- und Jugendärzte» empfahl (3). Dort finden sich auch die Alarmsymptome bei Obstipation, die in der Tabelle zusammengefasst werden. Eine sorgfältige klinische Untersuchung sollte nicht aus falsch verstandender Schamhaftigkeit unterlassen werden, mahnte Keller, wobei anorektale Untersuchungen selbstverständlich sehr behutsam durchgeführt werden müssten. In der deutlichen Mehrzahl der Fälle sei keine weitere teure Diagnostik notwendig, sagte der Referent.
Häufige Ursachen
Für Keller spielt der bereits im Kindesalter hektische Alltag eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Entwicklung funktioneller Obstipation; den Kindern bliebe zu wenig Zeit und Ruhe für den Toilettengang, sodass der physiologische, durch Nahrungsaufnahme gastrokolische Reflex gar nicht mehr zum Zuge kommen könne. Häufig führen schmerzhafte Defäkationen und die Angst vor Schmerzen bei Kindern zu einem Teufelskreis aus Stuhlretention und umso grösseren Schmerzen. Perianalekzeme und akute Analfissuren können auslösende Faktoren sein. Bei Streptokokkennachweis wird ein Cephalosporin (oral) empfohlen sowie Sitzbäder nach der Defäkation (schwarzer Tee, Tannolact®, Tannosynt®), gute Hygiene, Hautpflege (Salben) und bei perianaler Psoriasis Elidel® 1% Creme. Henning Lenhartz wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass chronische Analfissuren (verhärtete Ränder) oder ungewöhnlich positionierte Fissuren (nicht anterior/posterior der Mittellinie) Alarmsymptome seien, die auf chronisch entzündliche Darmerkrankungen oder Immundefekte hinweisen könnten.
Tabelle: Alarmsymptome bei Obstipation im Säuglings- und Kindesalter
• Mekonium erst nach > 48 Stunden bei Termingeborenen • Obstipation im ersten Lebensmonat • Morbus Hirschsprung in der Familie • bandförmiger Stuhl • Blut im Stuhl ohne anale Fissuren • Gedeihstörung • galliges Erbrechen • schwere abdominelle Distension • abnorme Position des Anus • kein Anal- oder Kremasterreflex • Verminderung von Kraft/Tonus/Reflexen der unteren Extremitäten • sakrale Eindellung • Haarbüschel auf der Wirbelsäule • Deviation des Glutealspalts • Analnarben
gemäss Rom-IV-Kriterien (3)
Trend zu oraler Therapie
Während man früher Klysmen und Einläufe einsetzte, um im ersten Schritt der Therapie die verhärteten Stuhlmassen abzuführen, werden heutzutage orale Substanzen zur Desimpaktion bevorzugt, wie Lenhartz sagte. Dies steht im Einklang mit den neuen Richtlinien, in denen die Gleichwertigkeit von Polyethylenglykol (Macrogol) und Klysmen bestätigt wird. Ausdrücklich zur Vorsicht riet der Referent bei phosphathaltigen Klysmen (salinische Klysmen). Sie sollten gemäss einer Warnung der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft nicht mehr bei Kindern im Vorschulalter angewendet werden. Lenhartz verdeutlichte das Risiko anhand eines Fallbeispiels, bei dem der Mineralstoffhaushalt eines Vierjährigen nach der Anwendung salinischer Einläufe völlig aus dem Lot geriet. Als sicherstes und wirksamstes Laxans nannte Lenhartz das orale Polyethylenglykol (Macrogol) als Medikament der ersten Wahl. Gravierende Nebenwirkungen sind für Macrogol nicht bekannt, auch nicht bei einer Dauertherapie über Monate. Die Furcht von Eltern vor einer Laxanzienabhängigkeit der Kinder sei bei Macrogol ebenfalls unbegründet, betonte Lenhartz. Klagen, dass die Substanz nicht wirke, seien meist auf Unterdosierung zurückzuführen. Macrogol wird mit viel Flüssigkeit gegeben; es sind mehrere Produkte auf dem Markt, teils mit, teils ohne Elektrolyte. Die älteren Laxanzien Lactulose und Paraffinöl haben an Bedeutung verloren. Lactulose habe er früher gerne bei Kleinkindern eingesetzt, berichtete Lenhartz. Allerdings könnten die Nebenwirkungen (Flatulenz) bei der für eine gute Wirkung nötigen Dosierung zum Problem werden. Paraffinöl darf nicht bei Kindern unter zwei Jahren sowie bei Schluckstörungen eingesetzt werden. Das frühere Allroundabführmittel sei heute nur noch eine Reserve, wenn weder Macrogol noch Lactulose infrage kämen, so Lenhartz.
Ernährungsumstellung ist kein Allheilmittel
«Es gibt keinen Beweis, dass eine zusätzliche Zufuhr von Ballasstoffen erforderlich ist. Das Gleiche gilt für die Flüssigkeitszufuhr», sagte Henning Lenhartz. Trotz der nicht überzeugenden Studien sei es aber doch sinnvoll, einerseits auf mehr Flüssigkeit, Ballaststoffe, Sorbit und Fruktose in der Ernährung zu achten und andererseits weniger Fett und Milchprodukte zu konsumieren. Zwang und Schuldzuweisungen seien aber in jedem Fall verboten! Zudem warnte Lenhartz davor, sich allzu viel von einer Ernährungsumstellung zu versprechen, weil radikale Umstellungen sowieso unrealistisch seien. Eine Ausnahme ist aber offenbar die Milch. So zeigte sich in einer Studie mit Kindern im Alter von 6 Monaten bis 14 Jahren, die unter chronischer Verstopfung litten, dass rund die Hälfte von ihnen durch den Verzicht auf Kuhmilch beschwerdefrei wurde (4). Ein derart durchschlagender Erfolg decke sich zwar nicht ganz mit seiner Erfahrung, sagte Lenhartz, ein zeitlich limitierter Verzicht auf Kuhmilch sei jedoch sicher sinnvoll, besonders bei Kindern mit chronischer Obstipation, die viel Milch trinken. Der Effekt zeigt sich
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allenfalls rasch, bereits nach 1 bis 5 Tagen. Trotzdem sollte man den Versuch aber mindestens 2 Wochen lang durchführen, riet Lenhartz. Neben der Ernährung gibt es eine Reihe unterstützender Massnahmen, wie viel Bewegung und Verhaltenstraining: • regelmässige Sitzungen auf Töpfchen/Toilette (je
nach Alter mehrmals täglich für zirka 5 Minuten nach der Mahlzeit, um den gastrokolischen Reflex zu nutzen); • angenehme Atmosphäre schaffen (WC warm, hell; ggf. Sitzverkleinerer, Fussbänkchen; gegebenenfalls Ablenkung wie Vorlesen, Buch anschauen); • Belohnung des Kindes, wenn es gut mitmacht, aber kein Tadel, wenn Stuhlgang nicht klappt.
Therapie dauert lange
Auf alle Fälle müssen sich alle Beteiligten darauf einstellen, dass die Therapie bei chronischer funktioneller Obstipation langwierig ist. Als Faustregel gilt, dass die Therapie so lange dauern wird, wie die Symptome zuvor bestanden. Ziel ist ein schmerzfreier, regelmässiger Stuhlgang, 2-mal pro Tag bis alle 2 Tage. Laxanzien werden langsam und in kleinen Schritten ausgeschlichen (z.B. 25% weniger Macrogol pro Monat). Lenhartz betonte, dass eine sorgfältige und verständ-
liche Kommunikation mit Eltern und Kindern die Basis einer erfolgreichen Therapie sei. Werden die Zusammenhänge gut erklärt, kann dies Hürden beseitigen, an denen eine Therapie scheitern kann. Dazu gehören beispielsweise die Ablehnung oraler Medikamente, die Angst vor Medikamentenabhängigkeit oder die Sorge wegen zu langer Behandlungsdauer. Ein Tipp: Auf der Homepage der deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Gastroenterologie und Ernährung findet sich ein kindgerechtes Video, in dem die Fakten rund um die Obstipation erklärt werden; das Video ist durchaus auch für Eltern lehrreich (www.gpge.de/elternkinder/).
Renate Bonifer
Quelle: Session «Obstipation und intestinale Innervationsstörungen». 112. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) in Hamburg, 14. bis 17. September 2016.
Literatur: 1. Fontana M et al.: Bowel frequency in healthy children. Acta Paediatr Scand 1989; 78 (5): 682–684. 2. Benninga MA et al.: Childhood functional gastrointestinal disorders: neonate/toddler. Gastroenterology 2016; pii: S0016-5085(16)00182-7, epub ahead of print. 3. Rome IV functional gastrointestinal disorders – disorders of gut-brain interaction (fourth edition). http://theromefoundation.org/rome-iv/rome-iv-collection/ 4. Irastorza I et al.: Cow’s milk-free diet as a therapeutic option in childhood chronic constipation. J Pediatr Gastroenterol Nutr 2010; 51: 171–176.
Man sollte mit der Behandlung rasch beginnen.
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