Transkript
SCHWERPUNKT
Infektanfällige Kinder
Noch normal oder Alarmsignal eines Immundefekts?
Infektionen, insbesondere der Atemwege, sind der häufigste Grund, einen Kinderarzt aufzusuchen. Es ist zwar nicht ungewöhnlich, dass Kinder öfters eine Infektion «einfangen», doch wo verläuft die Grenze zwischen Normalität und Alarmsymptom?
W enn Eltern mit einem «infektanfälligen Kind» zu Prof. Dr. med. Ulrich Baumann an die Medizinische Hochschule Hannover kommen,
Tabelle 1: Infektionsanfälligkeit: Noch normal oder schon pathologisch?
Infekthäufigkeit Schweregrad
normal max. 8 Minor-Infektionen* pro Jahr bis zum Kleinkindalter, danach seltener leicht, Minor-Infektionen
Verlauf Residuen Rezidiv mit demselben Erreger opportunistische Infektionen
akut nein nein
nein
pathologisch ≥ 8 Minor-Infektionen pro Jahr bis zum Kleinkindalter und darüber hinaus teilweise schwer, MajorInfektionen chronisch, rezidivierend ja ja
ja
nach Wahn V: 12 Warnzeichen für primäre Immundefekte (PID); www.immundefekt.de * Der Begriff «Minor-Infektionen» umfasst leichtere Infektionskrankheiten wie grippale Infekte, Tonsillitis, Otitis media, Sinusitis, Bronchitis oder akute Gastroenteritis. Als «Major-Infektionen» gelten beispielsweise Pneumonie, Meningitis, Sepsis, Osteomyelitis und invasive Abszesse; Major-Infektionen erfordern in der Regel i.v. Antibiotika (2).
Tabelle 2: 12 Warnzeichen für primäre Immundefekte
I. positive Familienanamnese für angeborene Immundefekte II. ≥ 8 eitrige Otitiden pro Jahr III. ≥ 2 schwere Sinusitiden pro Jahr IV. ≥ 2 Pneumonien innerhalb eines Jahres V. antibiotische Therapie über zwei oder mehr Monate ohne Effekt VI. Impfkomplikationen bei Lebendimpfungen (insbesondere BCG und Polio nach Sabin)* VII. Gedeihstörung im Säuglingsalter, mit und ohne chronische Durchfälle VIII. rezidivierende tiefe Haut- oder Organabszesse IX. ≥ 2 viszerale Infektionen (Meningitis, Osteomyelitis, septische Arthritis, Empyem, Sepsis) X. persistierende Candida-Infektionen an Haut oder Schleimhaut jenseits des 1. Lebensjahres XI. chronische Graft-versus-Host-Reaktion (z.B. unklare Erytheme bei kleinen Säuglingen) XII. (rezidivierende) systemische Infektionen mit atypischen Mykobakterien
nach Wahn V: 12 Warnzeichen für primäre Immundefekte (PID); www.immundefekt.de * Diese Impfstoffe sind in Deutschland und der Schweiz seit einigen Jahren nicht mehr in Gebrauch.
stellt er ihnen zuerst die Frage: «Wann war Ihr Kind gesund?» Krank würden schliesslich alle Kinder mehr oder weniger häufig – sie werden aber in der Regel auch wieder gesund. Wirklich infektanfällige Kinder mit Verdacht auf einen Immundefekt hingegen leiden chronisch unter Infekten, erläuterte Baumann den Sinn dieser nur auf den ersten Blick banal wirkenden Frage.
Kriterien und Alarmsymptome
Bei der Abklärung, ob eine pathologische Infektanfälligkeit vorliegen könnte oder nicht, helfen einige Kriterien, die in Tabelle 1 zusammengefasst sind. Ebenfalls hilfreich sind gewisse Alarmsymptome (Tabelle 2). Verdachtsmomente für einen primären Immundefekt lassen sich mit dem Akronym ELVIS zusammenfassen: • Erreger: Infektionen mit opportunistischem Erreger,
die bei gesunden, immunkompetenten Personen meist nicht viel Schaden anrichten können (z.B. Pneumocystis-jiroveci-Pneumonie, Candida-Sepsis, Cryptosporidien, Aspergillus-Pneumonie). • Lokalisation (ungewöhnliche Lokalisation, Infekte überall) • Verlauf (eher protrahiert) • Intensität (Major-Infektionen oder sehr häufige Minor-Infektionen) • Summe (Anzahl der Infektionen)
Selten oder nicht so selten?
Wie häufig Immundefekte wirklich sind, weiss niemand genau. Sie gelten als eher selten. Dies sei vielleicht eine Unterschätzung, weil man sich hierbei nur auf bestimmte Register stützen könne, die sicher nicht alle Patienten erfassten, so Baumann. Eine telefonische Umfrage in den USA führte zu dem Schluss, dass Immundefekte viel häufiger seien als angenommen und ihre Prävalenz bei 1:1200 liege (1). Ob man diesen Zahlen trauen kann, ist eine andere Frage. Die Methodik dieser Studie erscheint jedenfalls fragwürdig: Man rief nach dem Zufallsprinzip 10 000 Haushalte in den USA an und fragte, ob dort jemand lebt, bei dem einmal ein primärer Immundefekt diagnostiziert worden war.
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SCHWERPUNKT
Erste Abklärungen
Etwa 300 verschiedene Immundefekterkrankungen sind bekannt. Antikörpermangel ist mit 56 Prozent aller bekannten Immundefekte das häufigste Phänomen. Bei Verdacht auf einen Immundefekt sind zunächst zwei einfache und kostengünstige Labortests sinnvoll: Mit der Bestimmung der Immunglobulinspiegel im Blut (IgG, IgA, IgM, IgE) erfasse man bereits zwei Drittel aller primären Immundefekte, sagte Baumann. Ebenfalls sinnvoll ist ein Differenzialblutbild, womit zelluläre Immundefekte wie SCID (severe combined immunodeficiency syndrome), kombinierte Immundefekte, Neutropenie und das Wiskott-Aldrich-Syndrom entdeckt werden können. Alle weitergehenden diagnostischen Abklärungen seien komplizierter und teurer und nur bei begründetem Verdacht sinnvoll, empfahl Baumann.
Wer mehr darüber erfahren will, kann sich auf der Webseite www.immundefekt.de informieren. Dort finden sich zahlreiche Informationsblätter sowie das von Baumann und weiteren Pädiatern und Immunologen verfasste Buch «Primäre Immundefekte: Warnzeichen und Algorithmen zur Diagnosefindung» zum freien Download.
Renate Bonifer Quelle: Baumann U: «Das ‹infektanfällige Kind›: diagnostisches Vorgehen». Session: «Pneumologie trifft Infektiologie», 112. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) in Hamburg, 14. bis 17. September 2016. Literatur: 1. Boyle JM, Buckley RH: Population prevalence of diagnosed primary immunodeficiency diseases in the United States. J Clin Immunol 2007; 27 (5): 497–502. 2. S2k-Leitlinie: «Diagnostik von primären Immundefekten». AWMF-Register Nr. 026-050. www.awmf.org
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