Transkript
STUDIEN
Fragwürdige Studien gefährden Patienten
Neue EU-Zulassungsvorschriften führen zu Diskussionen in der Schweiz
Angesichts einer fragwürdigen Entwicklung in der EU wird deutlich, wohin fehlgeleiteter Behördenaktivismus führen kann. Seit in der EU pädiatrische Studien, die sogenannten PIP, für die Zulassung neuer Medikamente in der Regel ausdrücklich vorgeschrieben sind, steigt die Zahl fragwürdiger Studien.
Von Klaus Rose
Eine Fülle wirksamer Medikamente gibt es, mit wenigen Ausnahmen, erst seit dem 20. Jahrhundert. Arzneimittelkatastrophen der Vergangenheit belegen, dass eine staatliche Kontrolle der Medikamentensicherheit und klar geregelte Zulassungsverfahren notwendig sind. In diesem Sinn geprüfte und für bestimmte Indikationen zugelassene Medikamente erhalten ein entsprechendes Label (engl. für Etikett). Die heutzutage üblichen Labels gehen auf die US-Gesetzgebung von 1962 zurück, die erstmals einen Beweis für die Wirksamkeit und die Sicherheit der Medikamente durch klinische Studien vorschrieb (1). Um Schadensersatzklagen zu vermeiden, begannen Arzneimittelhersteller darauf hinzuweisen, dass neue Medikamente nicht bei Kindern erprobt waren. Kritiker dieser Praxis, wie Shirkey 1968 (2), prägten deshalb den Begriff von Kindern als «therapeutischen Waisenkindern». Kinder- und Hausärzte benutzten zunächst Formeln und pädiatrische Dosistabellen zum Umrechnen der Erwachsenendosierungen. Bei Säuglingen und Kleinkindern unterscheiden sich Absorption, Distribution, Metabolisierung und Exkretion jedoch sehr stark von den Verhältnissen bei Erwachsenen (3). Überdies können Kinder Tabletten erst mit etwa sieben Jahren schlucken, sodass Apotheker lange Zeit Tabletten einfach zerkleinerten und sie als Flüssigkeit rekonstitutierten. Die Debatte über die mangelnden Studiendaten für Kinder führte 1997 in den USA zu einem ersten Gesetz, das Pharmafirmen die Patentverlängerung im Gegenzug für pädiatrische Studien bot (1).
PIP kann Zulassung für Erwachsene blockieren
Seit 2007 gilt in der EU eine neue Gesetzgebung für die Arzneimittelzulassung mit besonderer Berücksichtigung von Kinderstudien, die EUKG (1, 4). Für jedes neue Medikament müssen die europäische Medikamentenbehörde (European Medicines Agency, EMA)
und ihr pädiatrisches Komitee (Paediatric Committee, PDCO) einen Kinderentwicklungsplan (Pediatric Investigation Plan, PIP) genehmigen, sonst wird das Medikament nicht bei Erwachsenen zugelassen. Dies gilt im Gegensatz zu den USA auch bei seltenen Krankheiten. Der PIP ist ein 50 bis 100 Seiten umfassendes Dokument, das früh (am Ende der Phase I der Arzneimittelentwicklung) einzureichen ist. Die jeweilige Krankheit muss bei Erwachsenen und Kindern im Detail mit «Vorschlägen» diskutiert werden, unter anderem zur Formulierung (Tablette vs. Saft), zur Präklinik (meist Studien an jungen Tieren) und zum Design für entsprechende Kinderstudien. Über den PIP wird zirka ein Jahr lang verhandelt (5). Das PDCO besteht aus zwei Vertretern für jeden EU-Staat, meist Angestellte der Zulassungsbehörden, einer Minderheit klinischer Ärzte und einigen anderen Personen. Werden die
Ohne PIP auch keine Zulassung bei Erwachsenen.
Was hat das mit der Schweiz zu tun?
• Die neue EU-Regelung hat auch in der Schweiz intensive Diskussionen ausgelöst. Über eine vergleichbare Gesetzgebung wird nachgedacht. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG), Swissmedic und das Schweizer Parlament haben dazu ausführliche Dokumentationen auf ihren Webseiten publiziert (22–24).
• Kinderärzte erhalten immer häufiger Anfragen zu Kindern mit seltenen Krankheiten für klinische Studien, auch in der Schweiz. Ärzte, Ethikkommissionen und Eltern sollten prüfen, ob einer Kinderstudie möglicherweise ein PIP zugrunde liegt (25) und ob für weitere Studien für dieselbe seltene Krankheit Kinder rekrutiert werden. Einzelne PIP und Kinderstudien erscheinen auf den ersten Blick akzeptabel, halten aber einer systematischen Analyse nicht stand.
• In den Ländern der westlichen Welt werden Kinder heutzutage medizinisch gut versorgt. Weitere Forschung und Fortschritte sind notwendig, so bei Krebs und seltenen Krankheiten. Gesetze setzen Rahmenbedingungen für Forschung und Entwicklung, aber Innovation kann man damit nicht erzwingen. Bessere Medikamente für Kinder entstehen nicht, indem man unsinnige Studien verordnet. Die Diskussion über ein Rahmenwerk, das wirkliche Fortschritte in der Kindermedikation ermöglicht, sollte die Erfahrungen mit der neuen EU-Regelung einbeziehen.
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Patienten werden zu «therapeutischen Geiseln».
Korrespondenzadresse: Dr. med. Klaus Rose klausrose Consulting Äussere Baselstrasse 308 4125 Riehen E-Mail: klaus.rose@klausrose.net Der Autor hat nach der klinischen Ausbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin 20 Jahre in der Forschung und Entwicklung pharmazeutischer Firmen gearbeitet, davon 5 Jahre als Global Head Pediatrics bei Novartis und 5 Jahre Global Head Pediatrics bei Roche. Er ist jetzt selbstständig und berät Pharmaunternehmen und akademische Institutionen zu Fragen der Arzneimittelentwicklung bei Kindern. Eine Tochter des Autors ist schwerbehindert und leidet an einer seltenen Krankheit. Für Publikationen in wissenschaftlichen Zeitschriften erhält der Autor keine Zahlungen oder finanzielle Unterstützung. Dies gilt auch für dieses Manuskript.
«Vorschläge» als ungenügend bewertet, wird der PIP abgelehnt und die Zulassung bei Erwachsenen ist blockiert (5, 6).
Zu wenige Kinder für zu viele Studien
Malignome sind bei Kindern viel seltener als bei Erwachsenen, sodass fraglich ist, ob für entsprechende Kinderstudien überhaupt genügend Patienten rekrutiert werden können. Imatinib war der erste Tyrosinkinaseinhibitor gegen die Philadelphia-positive (Ph+), chronische myeloische Leukämie (CML). Ph+CML ist bei Kindern selten, aber die EMA zwingt die Hersteller weiterer Tyrosinkinaseinhibitoren, sich zu Kinderstudien mit ihren Tyrosinkinaseinhibitoren zu verpflichten, sonst wird die Zulassung insgesamt verweigert (7). Das Melanom ist bei Minderjährigen selten. Trotzdem müssen nicht weniger als 11 Melanom-PIP durchgeführt werden. Drei bereits laufende Studien rekrutieren Minderjährige mit Melanom und anderen Malignomen (www.clinicaltrials.gov, NCT02332668, NCT01962103, NCT01677741). 2 auf PIP zurückgehende weltweite Studien an 12- bis 17-Jährigen mit metastasiertem Melanom mussten mangels Rekrutierung 2016 abgebrochen werden (8, 9). Für die Indikation Multiple Sklerose (MS) verlangt die EMA 15 (!) pädiatrische Studien, während die internationale klinische Gruppe für kindliche MS weltweit nur 1 bis 2 gleichzeitige Studien für möglich hält (10, 11). PIP-Studien, für die es nicht genug Patienten gibt, werden mittlerweile als «Geisterstudien» bezeichnet und ihre Patienten als «therapeutische Geiseln» (12). Die EMA hat 2015 die Anzahl der Krankheiten, für die es einen PIP braucht, trotzdem erneut erweitert und verlangt damit für viele weitere bei Kindern extrem seltene Krankheiten einen PIP, zum Beispiel bei Leberkrebs (13). Separate Wirksamkeitsstudien an Jugendlichen ergeben keinen Sinn. Der Körper (wenn auch nicht das Gehirn) wird vor dem 18. Geburtstag erwachsen. Bei Patienten mit erwachsenem Körper ist eine Off-labelTherapie mit Erwachsenendosen indiziert, ohne Ansehen des Geburtstags und ohne Teilnahme an einer Studie, für die Erwachsene und Jugendliche rekrutiert werden. Bei seltenen Krankheiten gibt es einfach zu wenig Patienten für vielfache gleichzeitige Studien.
Unzählige neue SIT-Studien?
Allergenprodukte für die spezifische Immuntherapie (SIT) werden heute meist industriell aufgearbeitet. Die FDA setzte in den Achtzigerjahren ihre Standardisierung durch, ohne Wirksamkeitsstudien für jedes einzelne Produkt – ihre Wirksamkeit war längst bekannt (1). Die Schweiz erlaubte 2009 ihre problemlose Nachregistrierung (14). 2008 erliess Deutschland die Therapieallergen-Verordnung, welche eine Neuregistrierung von SIT-Produkten vorschrieb (15). Es musste jeweils auch ein PIP eingereicht werden, insgesamt waren es über 100. Das Paul-Ehrlich-Institut und EMA/PDCO entwickelten gemeinsam einen Standard-PIP (16, 17): für jedes Allergenprodukt die gleichen Studien, zuerst an Er-
wachsenen, dann an Minderjährigen, mit mehreren Hundert Patienten pro Studie und Produkt. Die EMA verlangt jetzt 58 plazebokontrollierte 5-Jahres-Studien an Kindern und Jugendlichen (18). Eine laufende SITLangzeitstudie plant, 800 bis 1000 Kinder zu rekrutieren – und das ist nur eine Studie. Für die verbleibenden 57 Studien wären das bei einigen Hundert pro Studie Zehntausende Minderjährige bis Ende 2031 (1)! Die Begründungen sind teils formal (SIT-Allergenprodukte sind nicht entsprechend EU-Direktiven zugelassen), teils pseudowissenschaftlich. Die Hersteller müssen also bis 2031 Zehntausende Kinder für sinnlose Studien rekrutieren, oder sie müssen aus dem Markt. In der Plazebogruppe verhindern diese Studien wirksame Behandlungen. Das Fortschreiten allergischer Erkrankungen (z.B. zu einem Asthma) wird dabei in Kauf genommen.
Grundlagen des EUKG und EMA/PDCO-Aktivismus
Die EUKG definiert die «pädiatrische Bevölkerungsgruppe» als den Teil der Bevölkerung zwischen Geburt und 18 Jahren – ohne Kinder und Jugendliche gemäss Altersstufen zu unterscheiden (4). Ein EMA-Dokument aus dem Jahr 2004, erstellt auf Bitten der EUKommission, diskutiert vorliegende Belege für Gefahren von Off-label-Behandlungen bei Kindern (19), ohne zwischen sinnvollem und problematischem Offlabel-Gebrauch zu unterscheiden. Die pädiatrische Onkologie wird nicht einmal erwähnt, dabei entwickelte sich die gesamte pädiatrische Onkologie durch die Off-label-Behandlung von Kindern mit Erwachsenen-Chemotherapeutika (1, 6). Der Off-label-Gebrauch von Medikamenten ist essenzieller Bestandteil verantwortungsvoller ärztlicher Tätigkeit. Es gibt hierzu leider keine ärztliche Stellungnahme auf EU-Ebene, vergleichbar zu differenzierten Positionsbezügen aus der Schweiz (20) oder den USA (21). Die EUKG verdreht die berechtigten medizinischen Überlegungen, die zur amerikanischen Gesetzgebung führten, zu einem regulatorischen Problem, das man durch undifferenziertes, nicht priorisiertes Verordnen von Studien an unter 18-Jährigen lösen müsse. Die oben genannten Kindermelanomstudien sind aber nicht nur Folge der EUKG. Die EMA hätte das Melanom nicht von der Liste PIP-befreiter Krankheiten entfernen müssen. Sie hat dies aber 2008 mit nachweislich falschen Begründungen getan (12), sie ignoriert weiterhin kritische Publikationen und dehnt jetzt die PIP-Verpflichtung sogar noch weiter aus (13). Die mangelhafte EUKG solle durch diese Erweiterung und Intensivierung angeblich «noch besser» gemacht werden. Die EMA wird formell von EU-Institutionen kontrolliert, führt aber auch ein Eigenleben. In Selbstdarstellungen zieht man eine positive Bilanz (5). Solange man akzeptiert, dass ein Off-label-Gebrauch von Medikamenten bei allen unter 18-Jährigen gefährlich sei, klingt das zwar alles logisch, aber nicht jede verordnete Studie an Minderjährigen ist sinnvoll. Wir haben es hier mit einem gruseligen Gemisch aus Pseudowissenschaft, Sendungsbewusstsein und mangelnder Behördenkontrolle zu tun.
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