Transkript
SCHWERPUNKT
Atopisches Ekzem ist keine Allergie!
Neurodermitis als Interaktion zwischen Barrieredefekt und Entzündung
Viele halten die Neurodermitis für eine «Allergie». Tatsächlich steht am Beginn eines atopischen Ekzems ein Barrieredefekt der Haut mit überschiessender Entzündungsreaktion, aber kein allergischer Prozess. Eine erfolgreiche Therapie sollte sich an den grundlegenden Pathomechanismen orientieren und primär nicht «antiallergisch», sondern auf die Wiederherstellung der Hautbarriere sowie eine antientzündliche Wirkung ausgerichtet sein.
Allergene sind potenzielle Trigger, aber nicht Ursache des atopischen Ekzems.
Der genetisch bedingte Hautbarrieredefekt ist die Wurzel der Neurodermititis.
4
Die Neurodermitis sei für viele Eltern eine «mystifizierte, mit Horrorvorstellungen assoziierte Erkrankung», vor der diese allergrösste Angst hätten, sagte Prof. Dr. med. Peter Höger, Chefarzt Pädiatrie und pädiatrische Dermatologie am Kinderkrankenhaus Wilhelmstift, Hamburg. Er hält diese Ängste für übertrieben. Die Neurodermitis sei mit einer Prävalenz von rund 10 Prozent bei Kindern im Einschulungsalter zwar nicht selten, werde in ihrer Bedeutung jedoch häufig überschätzt. Auch verschwinde sie bei den meisten Kindern wieder von selbst, wenn auch erst im Laufe der ersten zwölf Lebensjahre. Kinder, die lange und schwer davon betroffen seien, litten allerdings massiv, betonte der Dermatologe. Leider neigten Hausärzte dazu, die schwere Einschränkung der Lebensqualität dieser Kinder zu unterschätzen. Im Hinblick auf die Lebensqualität liege die Neurodermitis auf dem Niveau einer zerebralen Parese oder einer chronischen Nierenerkrankung, so Höger. Das betreffe zwar nur die schweren Fälle, das heisst einen Anteil von etwa 5 bis 8 Prozent aller Neurodermitiskinder, aber «davor haben die Eltern Angst, auch wenn die meisten Fälle nur leichter Natur sind».
Keine Allergie
«Das atopische Ekzem ist keine Allergie», betonte Höger. Leider werde die Neurodermitis häufig als allergische Erkrankung aufgefasst, insbesondere von Eltern, die fest daran glaubten, dass man nur das schuldige Allergen finden müsse, um die Neurodermitis ihres Kindes zu heilen. Diese Hoffnung trügt, denn die grundlegende Ursache einer Neurodermitis ist ein genetisch bedingter Barrieredefekt der Haut. Allergene können wie andere Trigger, beispielsweise Kleidung, Stress, Klimawechsel oder Infekte, einen Neurodermitisschub auslösen. Sie sind aber nicht die grundlegende Ursache der Erkrankung, auch wenn Kinder mit Neurodermitis gleichzeitig eine Allergie haben. «Niemand bestreitet, dass die Prävalenzrate für
Allergien bei Patienten mit atopischem Ekzem erhöht ist», sagte Höger. So haben bis zu 35 Prozent der Kinder mit schwerer Neurodermitis gleichzeitig auch eine Allergie. Darum müsse man selbstverständlich bei verdächtiger Anamnese herausfinden, ob und wogegen eine allergische Sensibilisierung bestehe, um «kein Öl ins Feuer» zu giessen. Anders als viele Eltern glaubten, werde die Neurodermitis aber nur selten durch Nahrungsmittel und insbesondere auch nicht durch Zucker getriggert. Darum sei es falsch, ohne klaren Verdacht primär nach allen möglichen Nahrungsmittelallergien zu suchen, zumal dies leicht in die Irre und zu falschen therapeutischen Strategien führen könne, so Höger.
Ungezieltes Screening führt in die Irre
Um Sensibilisierungen auf alle möglichen Allergene möglichst effizient abzuklären, ist der RAST (Radio-Allergo-Sorbent-Test) auf allergenspezifisches IgE ein weitverbreitetes Verfahren. Der Test gibt Auskunft darüber, ob sich IgE gegen bestimmte Allergene im Blut des Probanden befinden. Er sagt jedoch nichts darüber aus, ob tatsächlich eine klinisch relevante Allergie besteht – eine Tatsache, der in der Praxis mitunter zu wenig Beachtung geschenkt wird. Wie häufig ungezieltes Screening auf IgE gegen Nahrungsmittelbestandteile zu irreführenden Schlüssen führen kann, belegte eine im vergangenen Jahr publizierte Studie aus den USA (1). An einem allergologischen Zentrum wurden 284 Personen per RAST auf nahrungsmittelspezifische IgE getestet. Nur bei einem Drittel von ihnen gab es anamnestische Anhaltspunkte auf eine Nahrungsmittelallergie. Trotzdem fanden sich diverse spezifische IgE, zum Beispiel bei zirka zwei Dritteln der Personen gegen Erdnuss und/oder Weizen und bei etwa der Hälfte gegen Soja, Milch und/oder Eier. Knapp die Hälfte der getesteten Personen hielt eine mehr oder minder strenge Diät mit dem Verzicht auf zwei bis neun Nahrungsmittel ein.
6/16
SCHWERPUNKT
Abbildung: Schematische Darstellung des Wasser-/Fettgehaltes von Präparaten zur Basistherapie bei Neurodermitis; UEA: Unguentum emulsificans aquosum (hoch wasserhaltige Creme); DAC: Deutscher Arzneimittel-Codex (entsprechende Magistralrezepturen sind in der Schweiz erhältlich, www.magistralrezepturen.ch)
Auch sekundäre Barrieredefekte sind möglich.
Im Durchschnitt hatte man fünf Nahrungsmittel vom Speisezettel gestrichen. In den meisten Fällen ein offenbar unnötiger Verzicht: Nur bei rund 40 Prozent der Diäthaltenden bestand eine anamnestisch begründete Indikation, und nur bei 2,2 Prozent bestätigte sich die Nahrungsmittelallergie in einem Provokationstest. Der positive prädiktive Wert eines ungezielten RAST-Screenings auf Nahrungsmittelallergie betrug somit nur magere 2,2 Prozent.
Genetischer Barrieredefekt und seine Folgen
Man kennt zwar mittlerweile eine Reihe von Genen, die mit der Neurodermitis zu tun haben, allerdings gibt es nach wie vor keine Antwort auf die Frage, warum das atopische Ekzem zu einem bestimmten Zeitpunkt auftritt und warum gerade bei diesem Kind und nicht bei einem Geschwisterkind mit ähnlichen Genen. Verantwortlich für das Phänomen Neurodermitis sind zwei Gruppen von Genen. Zum einen Gene, die etwas mit der Barrierefunktion der Haut zu tun haben (z.B. Filaggringen), zum anderen Gene, die für die Regulation immunologisch-entzündlicher Prozesse wichtig sind. Eine mangelnde Barrierefunktion der Haut prädisponiert für Neurodermitis und Allergien. Ob es dazu kommt oder nicht, hängt offenbar auch
von der Luftfeuchtigkeit ab. So zeigte sich, dass eine Reduktion der Luftfeuchtigkeit (z.B. trockene Heizungsluft im Winter) zu einer Erhöhung der Entzündungsfaktoren in der Epidermis führt (2). Die ungenügende Barrierefunktion der Haut ist als transepidermaler Wasserverlust (TEWL) quantifizierbar. In einer Studie zeigte sich, dass Kinder, die in der ersten und achten Lebenswoche einen TEWL in der 75. Perzentile aufwiesen (9 g/m2 pro Stunde), ein rund siebenfach höheres Risiko hatten, im ersten Lebensjahr ein Ekzem zu entwickeln, als die Kinder der 25. Perzentile (5 g/m2 pro Stunde) (3). Wie wichtig der Wasserhaushalt der Haut ist, wird auch durch ein Phänomen deutlich, das viele kennen: Säuglinge mit Neurodermitis haben kein atopisches Ekzem in der Windelregion. Der Grund: Dieser Bereich wird durch Salbe und Windel gut vor dem Austrocknen geschützt. «Wenn dort etwas ist, dann ist das kein atopisches, sondern ein seborrhoisches Ekzem», sagte Höger. Die gestörte Barrierefunktion der Haut im Säuglingsalter erklärt auch, warum erstaunlich viele Babys auf Erdnüsse allergisch reagieren, obwohl sie noch nie Erdnüsse gegessen haben. Da zirka 8 Prozent der Bevölkerung eine genetische Mutation haben, die für einen Hautbarrieredefekt prädisponiert (ohne dass sie das zwangsläufig spüren), kommt es nicht allzu selten dazu, dass ein Kind diese Veranlagung von beiden erbt und dann einen klinisch manifesten Barrieredefekt aufweist. Bei diesen Babys bestehe ein höheres Risiko für eine transkutane Sensibilisierung, sagte Höger. Aber wie kommt es zum Erdnusskontakt? Ganz einfach, erläuterte der Referent: In den meisten Haushalten würden erdnusshaltige Produkte konsumiert. So entweicht Erdnussallergen beipielsweise beim Öffnen einer Flipstüte und findet sich dann im Hausstaub. «Der transkutane Sensibilisierungsweg ist offensichtlich sehr relevant», sagte Höger. Die Barrieretherapie werde damit noch wichtiger, weil sie präventiv oder zumindest sekundär präventiv eingesetzt werden könne. In der Regel ist der genetisch bedingte Hautbarrieredefekt die Wurzel der Neurodermitis, aber auch sekundäre Barrieredefekte infolge einer schweren Entzündung sind möglich. Letztlich sei die Pathogenese des atopischen Ekzems «durch eine Interaktion zwischen Barrieredefekt und Entzündung gekennzeichnet», erläuterte Höger: «Das müssen wir in der Therapie berücksichtigen.»
Tabelle: Erforderliche Mengen an Hautpflegemitteln und topischen Präparaten bei Neurodermitis
Anwendungsfrequenz
Alter
1–3 Jahre
4–6 Jahre
7–12 Jahre
Basistherapie pro Woche
2 x/tgl.
100 g
100–150 g
150–200 g
Antiinflammatorische Therapie pro Woche
2 x/tgl.
50–100 g
100–150 g
150–200 g
1 x/tgl.
30–50 g
50–75 g
75–100 g
alle 2 Tage
15–25 g
25–40 g
40–50 g
> 12 Jahre
200–500 g
200–300 g 100–150 g 50–75 g
mod. nach (4)
Cremen, cremen, cremen
Die Basistherapie bei Neurodermitis ist sorgfältiges Eincremen mit Präparaten, die je nachdem, ob sich das Ekzem in einem akuten oder chronischen Stadium befindet, mehr Wasser oder mehr Fett enthalten (siehe Abbildung). Feucht-fette Schlauchverbände für ein oder maximal zwei Tage sind für Säuglinge im akuten Neurodermitisschub hilfreich. Bei einem akuten Ekzem sind wasserhaltige Cremes gefragt. Auf eine hochrote Haut fette Creme oder Salbe zu schmieren, ist falsch: «Es muss Wasser auf rote Haut beziehungsweise wasserhaltige Cremes», sagte Höger. Für grossflächige näs-
6 6/16
SCHWERPUNKT
Eine sorgfältige und ausreichende Basispflege der Haut ist wichtig.
sende Ekzeme empfahl er Schwarztee, für kleinflächige eine wässrige Eosinlösung (0,5–1%). Oft würden Ärzte zu wenig Hautpflegemittel verordnen. Es braucht je nach Applikationsfrequenz erhebliche Mengen für die Basistherapie bei Neurodermitis (Tabelle). Höger riet zu Glycerin und bewährten Magistralrezepturen für die Barrieretherapie: • 1. und 2. Lebensjahr: nur Glycerin als Feuchhalte-
faktor • Urea (5%) erst ab 3. Lebensjahr: im Sommer hydro-
phile Ureacreme 5% (NRF* 11.71), im Winter lipophile Ureacreme 5% (NRF 11.129).
Welche antiinflammatorische Therapie?
Topische Kortikoide haben sich in der antiinflammatorischen Therapie bewährt. Höger riet dringend davon ab, topische Kortikoide als Bedarfsmedikation im Schub zu positionieren: «Dann geht es zwar weg, kommt aber wieder, weil eine subklinische Entzündung weiterläuft.» Sinnvoll sei vielmehr eine «proaktive Therapie und langsames Ausschleichen» bis zu einer Frequenz von zweimal pro Woche, die man bei einer schweren Neurodermitis für 3, 6 oder auch 12 Monate beibehalte. Damit würde nicht nur die Zahl der Schübe pro Jahr auf ein Siebtel gesenkt (im Vergleich mit der reinen Schubtherapie bei Bedarf), sondern man brauche auch ingesamt weniger Kortison. Höger empfahl Präparate mit Momethason, Methylprednisolon oder Prednicarbat (als Magistralrezeptur: hydrophile Prednicarbatcreme NRF 11.142: 0–6 Monate = 0,08%, 7–12 Monate = 0,15%; > 12 Monate = 0,25%). Diese proaktive Kortikoidtherapie müsse man den Eltern freilich sehr ausführlich und genau erläutern. Mit der Compliance beim Anwenden topischer Steroide bei Kindern ist es nicht weit her. Höger berichtete von einer Studie mit 37 Neurodermitiskindern, in der man die tatsächliche Applikation des topischen Steroids überprüfte. Verordnet war eine Applikation von zweimal pro Tag für vier Wochen. Das Resultat: Im Durchschnitt hielt man sich nur jeden dritten Tag daran, die meisten cremten das Kind noch rasch am Tag vor dem Wiedervorstellungstermin ein.
* NRF: Neues Rezeptur-Formularium gem. Deutschem Arzneimittel-Codex, Dermatologische Magistralrezepturen für die Schweiz: www.magistralrezepturen.ch
Steroide haben einen grossen Nachteil, denn «Steroide gehören nicht ins Gesicht!», sagte Höger und zeigte am Kongress einige schlimme Fälle von steroidinduzierter Rosazea. Es dauere lange, bis eine derartige Nebenwirkung wieder abheile, sagte der Dermatologe. Er empfahl darum dringend, im Gesicht Calcineurininhibitoren wie Pimecrolimus oder Tacrolimus anzuwenden. Die Tumorangst bezüglich topischer Calcineurininhibitoren, die auf Erfahrungen aus der Transplantationsmedizin mit systemischem Tacrolimus in einer sehr viel höheren Dosierung beruht, ist zumindest für Pimecrolimus aufgrund der vorliegenden Studien offenbar unbegründet. Höger erläuterte dies anhand einer randomisierten Studie, in der sich keine Anhaltspunkte für ein erhöhtes Krebsrisiko für Kinder mit Pimecrolimustherapie zeigte (5), sowie der noch laufenden, prospektiven 10-Jahres-Studie mit 7457 Kindern mit atopischem Ekzem, die ≥ 6 Wochen mit Pimecrolimus behandelt wurden (6); auch hier zeigte sich in einer Zwischenauswertung mit mittlerweile rund 30 000 Patientenjahren kein erhöhtes Krebsrisiko für topisches Pimecrolimus bei Neurodermitiskindern. «Es gibt nach dem derzeitigen Erkenntnisstand absolut kein erhöhtes Malignomrisiko durch die Behandlung mit Pimecrolimus. Wenn es indiziert ist, dann sollte man auch nicht davor zurückscheuen», sagte Höger.
Renate Bonifer
Quellen: Höger P: «Therapiekonzepte für Säuglinge und Kleinkinder mit atopischem Ekzem». Session: «Hot topics aus der Kinderallergologie», 112. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) in Hamburg, 14. bis 17. September 2016, und Homepage der Dermatologie am Kinderkrankenhaus Wilhelmstift (www.kkh-wilhelmstift.de)
Literatur: 1. Bird JA, Crain M, Varshney P: Food allergen panel testing often results in misdiagnosis of food allergy. J Pediatr 2015; 166: 97–100. 2. Engebretsen KA et al.: The effect of environmental humidity and temperature on skin barrier function and dermatitis. J Eur Acad Dermatol Venereol 2016; 30 (2): 223–249. 3. Kelleher M et al.: Skin barrier dysfunction measured by transepidermal water loss at 2 days and 2 months predates and predicts atopic dermatitis at 1 year. J Allergy Clin Immunol 2015; 135 (4): 930–935. 4. Eichenfield LF et al.: Translating atopic dermatitis management guidelines into practice for primary care providers. Pediatrics 2015; 136 (3): 554–565. 5. Sigurgeirsson B et al.: Safety and efficacy of pimecrolimus in atopic dermatitis: a 5-year randomized trial. Pediatrics 2015; 135 (4): 597–606. 6. Margolis DJ et al.: Association between malignancy and topical use of pimecrolimus. JAMA Dermatol 2015; 151(6): 594–599.
8 6/16