Transkript
Allergisch gegen alles?
Polysensibilisierte Patienten in der Praxis
SCHWERPUNKT
Treten in einem Pricktest Hautreaktionen auf bestimmte Allergene auf, heisst das noch nicht, dass ein Patient tatsächlich eine klinisch relevante Allergie hat. Das Gleiche gilt für serologische Tests. Wie man solche Befunde richtig deutet und welche Abklärungen insbesondere bei polysensibilierten Patienten in der Praxis sinnvoll sind, war Thema an einem Allergiesymposium anlässlich der DGKJ-Jahrestagung in Hamburg.
V on einer Polysensibilisierung spricht man, wenn in einem standardisierten Hauttest oder einem In-vitro-Test eine Reaktivität gegen zwei oder mehr Allergene festgestellt wird. Zu den gängigen Testverfahren zählen der Pricktest oder auch serologische Verfahren wie RAST oder CAP, mit deren Hilfe spezifische (IgE-)Antikörper gegen bestimmte Allergene im Blut nachgewiesen werden. Die Polysensibilisierung ist kein seltenes Phänomen. Je nach Studie finden sich bei 70 bis 80 Prozent der Erwachsenen und um die 50 Prozent der Kinder entsprechende Befunde, sagte Prof. Dr. med. Christian Vogelberg, Universitätskinderklinik Dresden. Allergiker sind all diese Menschen jedoch nicht. «Ein Polysensibilisierter ist nicht zwangsläufig ein Polyallergiker, aber ein Polyallergiker ist immer ein Polysensibilisierter», fasste Vogelberg die Sachlage kurz und prägnant zusammen.
Polysensibilisiert ≠ polyallergisch
Ist eine Polysensibilisierung also im Grunde irrelevant? Nein, so Vogelberg, denn eine Polysensibilisierung ist ein Risikofaktor für allergische Erkrankungen im Allgemeinen, für deren Schweregrad sowie für allergisches Asthma im Speziellen. Wie heftig jemand im Pricktest auf ein Allergen reagiert sagt allerdings wenig darüber aus, ob genau dieses Allergen nun tatsächlich das klinisch relevanteste ist: «Was die grösste Quaddel macht, ist nicht zwingend das Allergen, das die meisten klinischen Probleme mit sich bringt», sagte Vogelberg. Auch sei nicht die Anzahl der Sensibilisierung per se relevant, sondern die klinische Relevanz jedes einzelnen Allergens. Das gilt sowohl für Hauttest- als auch IgE-Befunde. Statistisch über eine grosse Gruppe von Patienten betrachtet, sprechen positive Befunde zwar eher für das Vorliegen einer relevanten Allergie. Sie erlauben aber keine Rückschlüsse auf die klinische Relevanz bei einem bestimmten, individuellen Patienten – jeder Einzelfall muss einzeln anhand der klinischen Symptomatik bewertet werden.
Anamnese, Anamnese, Anamnese …
«Eine gute Anamnese erzielt in bis zu 85 Prozent der Fälle die richtige Diagnose!», sagte Vogelberg. Dabei stehen die Fragen nach Art, Schwere und Saisonalität der Symptome im Zentrum sowie – im Hinblick auf die Prioritäten bei der Behandlung polyallergischer Personen – der Einfluss auf die Lebensqualität und die Frage, wie vermeidbar das Allergen im Alltag ist. Symptomkalender sind hierbei ein wichtiges Hilfsmittel. Erst wenn das potenzielle Allergen anamnestisch eingegrenzt ist, machen Allergietests wirklich Sinn. Mit diesen müsse man übrigens nicht bis zum Schulalter warten: «Es gibt kein Mindestalter für die Allergieabklärung», sagte Vogelberg. Das Sensibilisierungsspektrum verschiebt sich im Laufe des Lebens. Während in der frühen Kindheit eher Nahrungsmittelallergene relevant sind, werden später Umweltallergene wie Pollen oder Hausstaub wichtiger. Nahrungsmittelallergien im frühen Kindesalter sind häufig transient (Abbildung). Es können vielerlei Sensibilisierungen auf Nahrungsmittel vorliegen, ohne dass diese jemals klinisch relevant werden. Nahrungsmittelallergien gelten gleichzeitig als die bedeutendsten Auslöser anaphylaktischer Reaktionen.
Die Polysensibilisierung ist kein seltenes Phänomen.
Abbildung: Schematische Darstellung der Häufigkeit von Nahrungsmittelallergien nach Alter (nach Vogelberg C, gemäss Vortrag an der DGKJ-Jahrestagung in Hamburg 2016)
6/16
9
SCHWERPUNKT
Wichtig ist die klinische Relevanz jedes einzelnen Allergens.
Die molekulare Allergendiagnostik kann in Zweifelsfällen hilfreich sein.
Darum müsse man jeden Verdacht auf eine Nahrungsmittelallergie sorgfältig abklären, gegebenenfalls auch mittels Provokationstests, empfahl Vogelberg.
Was bringt die molekulare Allergiediagnostik?
Für die herkömmlichen Allergentests verwendet man Extrakte von Pflanzen, Nahrungsmitteln und so weiter, das heisst ein Gemisch vieler verschiedener Proteine. Bei einem positiven Pricktest oder dem Nachweis spezifischer IgE weiss man nicht, welches der vielen Proteine hierfür verantwortlich ist. Positive Testbefunde eines Extrakts können auch auf Komponenten beruhen, die in verschiedenen Extrakten gleichermassen vorkommen – ohne dass dies eine klinische Relevanz hätte. Mit der molekularen Allergiediagnostik erfasst man genau definierte Allergenkomponenten, die hoch spezifisch und klinisch relevant sind (z.B. für Birkenpollen oder für Erdnuss). In diesem Zusammenhang unterscheidet man mehrere Klassen von Allergenfamilien: • Speicherproteine: sehr stabil, Saaten und Nüsse,
können schwere systemische Reaktionen auslösen (Anaphylaxie); wichtige Vertreter: Ara h2 (Erdnuss), Cor a 14 (Haselnuss) und Ana o3 (Cashew). • PR-10-Proteine: pollenassoziierte Allergene, häufigster Grund für pollenassoziierte Nahrungsmittelallergien (z.B. Apfel, Haselnuss, Kiwi …). • Panallergene: kommen praktisch überall vor (z.B. Profiline [Zellstruktur] oder CCD [kreuzreagierende Kohlenhydratkomponenten]), sind klinisch kaum relevant, können aber durch Kreuzreaktionen die konventionellen Testergebnisse verfälschen. Bei eindeutiger, klarer Anamnese brauche man in der Tat keine molekulare Allergiediagnostik, sagte Dr. med. Lars Lange, St.-Marien-Hospital Bonn. Leider sei die Situation aber keineswegs immer so eindeutig, und Kreuzreaktionen in konventionellen Extrakttests können zu falschen Schlussfolgerungen führen. Gerade wenn ein Kind mehrere Sensibilisierungen aufweist, sei die molekulare Allergiediagnostik hilfreich, um das tatsächlich relevante Allergen herauszufinden. So weisen Sensibilisierungen gegen Speicherproteine auf die Gefahr einer schwere Allergie hin. Sie beweisen diese zwar nicht, seien aber ein viel eindeutigerer Hinweis als jeder andere Test, sagte der Referent. Dies gilt jedoch nicht für alle Allergene. Die molekulare Diagnostik bringt nichts bei Verdacht auf Kuhmilch-, Ei- oder Weizenallergie. «Es gibt keine einzige Studie, die beweist, dass diese Tests irgendetwas vorhersagen würden», sagte Lange.
Beispiel Erdnussallergie
Die bei zirka 10 Prozent aller Kinder zu findende Sensibilisierung gegen Erdnussextrakt verunsichert viele Eltern. Zurückzuführen ist die hohe Prävalenz auf Kreuzreaktionen. Die Erdnuss enthält zum Beispiel auch PR-10-Proteine, die in hoher Konzentration ebenfalls bei Birkenpollen zu finden sind. Bei einem Birkenpollenallergiker kommt es darum im Pricktest oder auch im RAST zu einer Kreuzreaktion mit der Erdnuss. Klinisch relevant muss das nicht sein. Wenn jemand tatsächlich nur eine Birkenpollenallergie hat, könnte er so viele Erdnüsse essen, wie er möchte. Die molekulare Allergiediagnostik hilft herauszufinden, ob nun tatsächlich eine klinisch relevante Erdnussallergie vorliegt oder nicht. Die Komponente Ara h2 ist sehr spezifisch für Erdnüsse. Wer gegen Ara h2 reagiert, ist wahrscheinlich wirklich allergisch gegen Erdnüsse. Aber, wie so oft in der Allergiediagnostik, auch hier gibt es keine Regel ohne Ausnahme. Es gibt Personen, die bezüglich Ara h2 negativ sind und trotzdem im Provokationstest heftig gegen Erdnuss reagieren – und umgekehrt. Eine eindeutige Ja-Nein-Antwort bietet auch der Ara-h2-Befund nicht. Trotzdem sei die molekulare Komponentendiagnostik ein gutes Hilfsmittel, so Lars Lange.
Vor SIT testen?
Theoretisch könnte die molekulare Allergiediagnostik auch hilfreich sein, um eine spezifische Immuntherapie masszuschneidern beziehungsweise deren Erfolgsaussichten besser abschätzen zu können. Daten gibt es hierzu jedoch kaum. In einer italienischen Studie änderte zwar fast die Hälfte der behandelnden Ärzte die SIT-Planung nach dieser zusätzlichen Abklärung, man müsse jedoch bedenken, dass in den südlichen Ländern der Pollenflug verschiedener Pflanzen viel weiter überlappt als in unseren Regionen, sagte Christian Vogelberg. Hierzulande sei darum einfacher, von vorneherein per Anamnese eine korrekte Allergendiagnose zu stellen. Ein routinemässer Test vor einer SIT scheint darum wenig sinnvoll. Möglicherweise könne die molekulare In-vitro-Komponentendiagnostik in ausgewählten Situationen, das heisst in erster Linie bei polysensibilisierten Patienten, den Erfolg einer SIT schon zum Zeitpunkt der Indikationsstellung begünstigen, zitierte Vogelberg aus einer Leitlinie der deutschen Allergologen. Ob das aber tatsächlich so ist, weiss man noch nicht.
Renate Bonifer
Quellen: Lange L: «Molekulare Allergiediagnostik: (k)ein Buch mit sieben Siegeln»; Vogelberg C: Der polysensibilisierte Patient in der Praxis: Wie gehe ich vor?» Session: «Hot topics aus der Kinderallergologie», 112. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) in Hamburg, 14. bis 17. September 2016.
10 6/16