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SCHWERPUNKT
Adipositas akzeptieren?
Paradigmenwechsel bei der Behandlung übergewichtiger Kinder
Es gibt unzählige Programme und gut gemeinte Strategien, mit deren Hilfe übergewichtige Kinder und Jugendliche ihrem Normalgewicht zumindest wieder näher kommen könnten. Doch allen Anstrengungen zum Trotz: Nur sehr wenigen gelingt dies auf Dauer. Adipositasfachleute scheinen nun ihre Erwartungen herunterzuschrauben und der Realität anzupassen.
W ir dürfen nicht erwarten, dass wir die Kinder dünn kriegen, denn wir kriegen sie nicht dünn», sagte Dr. Ines Gellhaus, Vorsitzende der Konsen-
susgruppe Adipositasschulung für Kinder und Ju-
gendliche e.V. (KgAS), an der DGKJ-Jahrestagung in
Hamburg. Auch wenn Einzelne davon profitieren, für
die meisten adipösen Kinder und Jugendlichen brin-
gen noch so ausgeklügelte Diät- und Verhaltenspro-
gramme offenbar wenig.
Schuld an der Misere seien vor allem zwei Faktoren:
die Umwelt und die Gene. «Verhältnisprävention wäre
besser als Verhaltensprävention», sagte Prof. Dr. med.
Martin Wabitsch, Universitätsklinikum Ulm. Man ver-
lange von den Übergewichtigen heutzutage eine wil-
lentliche Änderung des Verhaltens, um sich einem
heutzutage üblichen Lebensstil aktiv entgegenzu-
stemmen. Das könne zwar funktionieren, sei jedoch
schwierig. Körpergewicht und Fettmasse werden
nämlich, ähnlich wie Blutzucker oder Blutdruck, über
zentrale Mechanismen reguliert, die willentlich nur
teilweise kontrollierbar seien, erläuterte der Endokri-
nologe und Diabetologe das Problem.
Anhand des Beispiels zweieiiger Zwillinge, zweier
Brüder, einer von ihnen schlank, einer adipös, ver-
deutlichte Wabitsch die Macht der Gene für die Regu-
lation des Körpergewichts. Beide Kinder leben in ex-
akt dem gleichen Umfeld, sind gleich alt, gehen zur
selben Schule, bekommen zu Hause das gleiche Es-
sen – und doch ist einer von ihnen schlank und der an-
dere dick. Die Biologie sei nun eben einmal sehr stark,
das müsse man berücksichtigen. «Weg
von der Stigmatisierung – das ist unsere
Tabelle 1:
Aufgabe!», forderte Wabitsch.
Definition von Übergewicht
und Adipositas
Bringt alles sowieso nichts?
Erwachsene
Kinder
Trotz allem schafft aber doch das eine
BMI > 25 übergewichtig BMI > 30 adipös BMI > 35 extrem adipös
BMI > P 90 BMI > P 97 BMI > P 99,5
oder andere Kind dank eines Betreuungsprogramms die dauerhafte Rückkehr zum Normalgewicht. Ines Gellhaus präsen-
nach Gellhaus I, DGKJ-Jahrestagung 2016
tierte an der Tagung ein Erfolgsbeispiel: Eine extrem adipöse 9-Jährige (BMI > p
99,5; Tabelle 1) hielt dank des Programms ihr Gewicht in den folgenden zwei Jahren, rutschte somit auf tiefere Perzentile und erreichte im Erwachsenenalter einen BMI von 24. Ein ebenso schöner wie seltener Erfolg. Weitaus typischer ist, dass die Kinder ihr Gewicht so lange halten, wie sie im Programm sind, und erst als extrem adipöse Teenager wieder in die Praxis von Ines Gellhaus zurückkehren, frustriert und voller Scham, es nicht geschafft zu haben. Wie verschwindend gering der Anteil der Erfolgreichen tatsächlich ist, erläuterte Martin Wabitsch anhand seiner Erfahrungen mit der Ulmer Verhaltenstherapie für adipöse Kinder und Jugendliche. Von 1000 Kindern und Jugendlichen, die sich in der Ambulanz vorstellen, beginnen demnach rund 100 das Programm, und etwa 10 von diesen 100 haben damit grossen Erfolg – mithin also zirka 1 Prozent aller adipösen Kinder und Jugendlichen, die sich an der Ulmer Universitätsklinik überhaupt vorstellen. Selbst unter der Annahme, dass man andernorts doppelt so erfolgreich therapieren könne, hätten immer noch nicht mehr als 2 Prozent der Teilnehmer Erfolg, so Wabitsch. Trotzdem sprach er sich vehement dafür aus, derartige Programme fortzuführen. In absoluten Zahlen seien selbst 2 Prozent dieses Patientenkollektivs noch recht viele, denen man damit hervorragend helfen könne.
Hohe Abbrecherquote in Studien
Anhand der Ergebnisse ihres eigenen Programms (KgAS; siehe www.adipositasschulung.de) (1) erläuterte Ines Gellhaus, warum man die Studienresultate zu diesem Thema mit Vorsicht interpretieren sollte. In der KgAS-Studie wurden 303 adipöse 8- bis 16-Jährige in die Adipositasschulung aufgenommen und zu Beginn, nach 1 Jahr und nach 2 Jahren evaluiert. Nach dem 1. Jahr, das heisst am Ende der Programme, war ein gewisser Erfolg zu verzeichnen: Rund 45 Prozent der Teilnehmer galten als erfolgreich oder sehr erfolgreich, 30 Prozent nahmen nur wenig ab, 22 Prozent nahmen zu, und 3 Prozent waren bereits aus dem Programm ausgestiegen. 1 Jahr nach dem Programm sah das bei denjenigen, die man er-
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neut untersuchen konnte, fast genauso aus – aber gut 40 Prozent der Teilnehmer tauchten gar nicht mehr auf. Diese hohe «Lost-to-follow-up»-Quote spricht nicht für einen langfristig guten Erfolg, denn man müsse wohl davon ausgehen, das diejenigen, die nach 2 Jahren nicht mehr kommen, erfolglos waren, befürchtete Ines Gellhaus. Es brauche darum langfristige Behandlungsketten mit unterschiedlichen Therapiemodulen, die jeweils massgeschneidert für den jeweiligen Patienten seien, forderte Gellhaus: «Wenn es nicht funktioniert hat, dann war es nicht das falsche Kind, sondern die falsche Therapie.» Den Kinderarzt sieht Gellhaus hier in der Rolle eines «Case Manager», der mit viel Empathie die Kinder und Jugendlichen mit ihren Eltern begleitet.
Was man erwarten darf
Die gängigen Therapieprogramme mit Ernährungsund Verhaltenstherapie bringen meist nur eine geringe Verminderung des Übergewichts im Kindesund Jugendalter. Im Durchschnitt beträgt der Rückgang 0,05 bis 0,39 BMI-Standardabweichungen (BMI standard deviation score) (2). Was dieser wenig anschauliche, aber aufgrund des Wachstums als Erfolgsparameter notwendige Score in Kilogramm bedeutet, erläuterte Wabitsch anhand von zwei Beispielen. Wenn der Rückgang 0,3 BMI-SDS nach 12 Monaten beträgt, bedeutet dies bei kontinuierlichem Längenwachstum: • minus 4,8 kg bei einem 15-jährigen Mädchen mit
einem Ausgangsgewicht von 102 kg beziehungsweise • plus 3,5 kg bei einem 8-jährigen Jungen mit einem Ausgangsgewicht von 40 kg. Eltern und Kindern sollte anhand solcher Beispielen klargemacht werden, was zu erwarten ist und was nicht. Die oben genannte Quote von höchstens 2 Prozent wirklich erfolgreichen Teilnehmern müsse man allerdings nicht unbedingt erwähnen, empfahl Wabitsch.
Neue Therapieziele
Angesichts der bescheidenen Erfolge schraubt man die Ziele der Adipositastherapie im Kindes- und Jugendalter herunter: «In einer Gesellschaft, in der über die Hälfte der Erwachsenen adipös ist, müssen wir Adipositas auch bei Kindern akzeptieren – so bitter das ist», sagte Gellhaus. Andere Therapieziele sollen in den Vordergrund rücken: die Förderung eines gesunden Lebensstils, die Steigerung der körperlichen und seelischen Gesundheit unabhängig vom Gewicht, die Verbesserung psychosozialer Faktoren sowie «die Motivation zur langfristigen Inanspruchnahme medizinischer Versorgungssysteme», sagte die Referentin. Auch Martin Wabitsch rät dazu, trotz der recht überschaubaren Erfolgsaussichten Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen therapeutisch anzugehen. Er erinnerte daran, dass eine Reduktion des BMI um 0,5 BMI-SDS einige der bekannten Komorbiditäten der Adipositas (Tabelle 3) genauso gut mindern kann wie beispielsweise Blutdrucktabletten oder Lipidsenker. Ganz klar riet Wabitsch von chirurgischen Eingriffen zur Gewichtsreduktion ab: «Man muss die bariatrische Chirurgie sehr kritisch sehen.»
Tabelle 2: Welche Parameter müssen bei adipösen Kindern und Jugendlichen erfasst werden?
1. Alter (je frühzeitiger die Intervention, umso besser) 2. Ausmass der Adipositas: Grösse, Gewicht, BMI, BMI-Perzentile 3. Abklärung sekundäre Adipositas, Adipositas und Behinderung 4. Abklärung somatischer Grund- und Begleiterkrankungen: Anamnese, körperliche
Untersuchung, Blutdruck, Labor (TSH, fT4, GPT, Cholesterin und Triglyceride, Hs, BZ, ggf. oGTT) 5. psychische Grund- oder Begleiterkrankungen: Depression, Angst, Essstörung 6. Familien- und Lebenssituation: Eltern und Bezugspersonen, Peers, Schule, soziokultureller Hintergrund, Bildungsniveau, Sprache, Stigma und Selbststigma 7. Veränderungsmotivation eruieren: Welche Sorgen machen Sie sich um das Gewicht und die Gesundheit Ihres Kindes? Wie wichtig wäre es, etwas daran zu ändern? Wie zuversichtlich sind Sie, dass Sie das als Familie schaffen können?
nach Gellhaus I, DGKJ-Jahrestagung 2016
Sie sei, wenn überhaupt, nur eine Option in sehr seltenen Einzelfällen.
Worauf sollte der Kinderarzt
achten?
Ines Gellhaus nannte eine ganze Reihe von Parame-
tern, die der Kinderarzt in seiner Rolle als «Case Ma-
nager» bei seinen übergewichtigen oder adipösen Pa-
tienten erheben soll (Tabelle 2). Sie wies in diesem
Zusammenhang darauf hin, dass extremes Überge-
wicht auch als Gefährdung des Kindeswohles inter-
pretiert werden könne. Perzentilenabweichungen des
Gewichts nach unten oder oben würden unterschied-
lich ernst genommen. Während bei einem unterer-
nährten Kind bei jedem Arzt die Alarmglocken schrill-
ten, würde Adipositas zu selten als Gefährdung des
Kindeswohls beachtet.
Auf eine eher seltene Ursache der Adipositas wies
Martin Wabitsch hin. Er behandelt in Ulm zurzeit fünf
junge Patienten mit Leptinmangel. Er rief die
Kollegen in der Praxis dazu auf, auch in dieser Hinsicht die Augen offen zu halten. Kinder, die in den ersten zwei Lebensjahren stark zunehmen, könnten möglicherweise unter zu wenig Leptin oder einem defekten Leptin leiden. Dar-
Tabelle 3: Einige potenzielle Komorbiditäten bei Adipositas im Kindes- und Jugendalter
über hinaus gibt es weitere «Adipositas-Gene», nach denen man fahnden solle, wenn Kinder schon in frühem Alter extrem adipös sind, zum Beispiel mit einem BMI 25 im Alter von 1 Jahr
• psychosoziale Störungen • Schlafapnoe, Asthma • Hormonstörungen
oder einem BMI 30 bei einem 5-Jährigen, sagte • Bluthochdruck
Wabitsch.
• Endothelfunktionsstörung
Renate Bonifer • Diabetes mellitus Typ 2
Quellen: Gellhaus I: Das adipöse Kind in der Praxis: Was tun? Session: «Adipositasschulung für Kinder und Jugendliche – ein Update»; Wabitsch M: Adipositas: Sinnvolle Diagnostik und realistische Therapieziele – weg von der Stigmatisierung. Session «Refresher Endokrinologie I». 112. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) in Hamburg, 14. bis 17. September 2016.
• Hyperinsulinämie • Fettstoffwechselstörung • Fettleber • Gallensteine • orthopädische Komplikationen
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Literatur: 1. Gellhaus I et al.: Kurz- und langfristige Veränderungen des BMI und medizinischer Risikofaktoren durch ambulante Adipositasschulung nach dem Programm der Konsensusgruppe Adipositasschulung für Kinder und Jugendliche e. V. (KgAS). Poster an der DGKJJahrestagung 2014. 2. Mühlig Y, Wabitsch M, Moss A, Hebebrand J: Weight loss in children and adolescents – a systematic review and evaluation of conservative, non-pharmacological obesity treatment programs. Dtsch Arztebl Int 2014; 111: 818–824.
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