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SCHWERPUNKT
Normales Wachstum oder behandlungsbedürftige Situation?
Als Kinderärztinnen und -ärzte sind wir täglich mit Eltern konfrontiert, die sich um die Körpergrösse ihrer Kinder sorgen. In dieser Situation ist es nicht immer einfach zu unterscheiden, ob ein noch normales Wachstum vorliegt oder ob das Kind weiter abgeklärt werden soll. Der vorliegende Artikel soll eine Hilfestellung hierzu bieten.
Von Claudia Katschnig1 und Daniel Konrad1, 2
Das Längenwachstum ist kein linearer Prozess.
Die Überprüfung des Wachstumsverlaufes stellt eine zentrale Aufgabe jeder pädiatrischen Untersuchung dar. Ein auffälliges Wachstum, das vor allem an einem Kreuzen der Wachstumsperzentilen erkannt wird, kann ein wichtiger und früher Hinweis für das Vorliegen gesundheitlicher Störungen sein. Der Kleinwuchs ist definiert als eine Körperlänge unterhalb der 3. Perzentile. Entsprechend sind 3 Prozent aller Kinder zu klein. In der Folge wird zunächst auf das physiologische kindliche Wachstum eingegangen, anschliessend werden die Abklärung bei Kleinwuchs sowie die verschiedenen Ursachen diskutiert.
Physiologie des kindlichen Wachstums
Das Wachstum des Menschen ist individuell unterschiedlich und wird durch verschiedene Faktoren wie Grösse der Eltern (genetische Voraussetzung), Ernährung, Hormone sowie Umweltfaktoren beeinflusst. Insgesamt ist das Längenwachstum nicht als linearer
Das Wichtigste in Kürze
• Ein Kind sucht in den ersten 2 Lebensjahren seinen Wachstumskanal. Ein Perzentilenkreuzen ab dem 3. Lebensjahr sollte immer abgeklärt werden.
• Eine wichtige Methode zum Ausschluss einer Wachstumsstörung ist die Bestimmung der Wachstumsgeschwindigkeit. Fällt diese auf < 4 cm/Jahr, so ist eine Zuweisung zur weiteren Abklärung sinnvoll.
• Bei einem Mädchen mit einem nicht familiären Kleinwuchs muss immer an ein Ullrich-Turner-Syndrom gedacht werden.
• Bei SGA-Kindern mit fehlendem Aufholwachstum bis zum 4. Lebensjahr ist unter bestimmten Voraussetzungen eine Wachstumshormontherapie möglich.
Prozess anzusehen, da es verschiedene endogen modifizierte Phasen schnellen und langsamen Wachstums gibt. Diese können zusätzlich in geringem Ausmass durch andere Faktoren wie die Jahreszeit (winterliches Absinken der Wachstumsgeschwindigkeit) beeinflusst werden. Die folgenden Wachstumsphasen werden unterschieden.
Pränatales Wachstum
Das fetale Wachstum wird durch mütterliche Faktoren wie Ernährung sowie durch die Funktion der Plazenta bestimmt. Zusätzlich findet eine Beeinflussung durch lokal wirkende Wachstumsfaktoren, wie «insulin-like growth factor»(IGF-)1, IGF-2, «fibroblast growth factor» und «epidermal growth factor» sowie Hormone (z.B. Insulin) statt. Die Ernährung spielt im Vergleich zu den späten Wachstumsabschnitten eine essenzielle und geschwindigkeitsbestimmende Rolle. Die Wichtigkeit des fetalen Wachstums zeigt sich im etablierten Zusammenhang zwischen intrauteriner Wachstumsretardierung und dem späteren Auftreten einer Hypertonie, Insulinresistenz und/oder kardiovaskulären Erkrankung. Dabei führt die mütterliche Unterernährung zu bis ins Erwachsenenalter persistierenden metabolischen Veränderungen, die das Kind für diese Erkrankungen anfälliger macht. Dabei scheinen Insulin, Leptin und die Wachstumshormon-IGF-1-Achse eine wichtige Rolle zu spielen. Bei der Mehrheit dieser hypotrophen Neugeborenen (small for gestational age, SGA) normalisieren sich Körpergewicht und -länge bis zum 2. Lebensjahr.
1 Abteilung für Endokrinologie und Diabetologie und 2 Forschungszentrum fürs Kind, Universitäts-Kinderspital, Steinwiesstrasse 75, 8032 Zürich
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Etwa 10 Prozent dieser Kinder zeigen aber bis zum 4. Geburtstag kein Aufholwachstum, und diese Kinder profitieren möglicherweise von einer Wachstumshormontherapie (1) (s. unten).
Abbildung: Längenwachstum bei Mädchen und Knaben. Zur Veranschaulichung des Längenwachstums bei Mädchen und Knaben wurde die 50. Perzentilenkurve für beide Geschlechter (8) übereinander projiziert; rot: 50. Perzentilenkurve Mädchen, blau: 50. Perzentilenkurve Knaben.
Tabelle 1: Anamnese
Patientenanamnese • Schwangerschaft, Geburt (Beckenendlage?), Geburtsgewicht • bisheriger Wachstumsverlauf • Hypoglykämien in der Neonatalphase • Essverhalten • chronische Beschwerden/Krankheiten • Medikamente (Vitamin-D-Prophylaxe, Methylphenidat, Glukokortikoide)
Familienanamnese • Elterngrösse, Grösse der nahen Familienmitglieder • Pubertätsentwicklung der Eltern, Geschwister • Endokrinopathien • Körperdysproportionen
Tabelle 2: Laborabklärungen
• Blutbild • Nierenparameter • TSH, fT4 • GH, IGF-1, IGFBP-3 • Prolaktin • Zöliakie-Screening (IgA gesamt, Anti-Transglutaminase IgA) • evtl. Kalzium, Phosphat, Vitamin D, alkalische Phosphatase (bei Hinweisen auf eine
Rachitis oder andere Störungen des Kalzium-Phospat-Stoffwechsels) • evtl. Gonadotropine, Testosteron, Östradiol • evtl. Kreatinkinase (CK)
Postnatales Wachstum
Das Kind wächst im 1. Lebensjahr am schnellsten. Anschliessend nimmt die Wachstumsgeschwindigkeit (v.a. im 2. und 3. Lebensjahr) bis zum Pubertätseintritt stetig ab. In der Pubertät nimmt das Wachstum nochmals zu (Pubertätsspurt), um anschliessend ganz zu versiegen. Für das postnatale kindliche Wachstum sind vor allem eine adäquate Ernährung sowie eine normale Produktion und Funktion verschiedener Hormone wichtig. Dabei spielen diese Faktoren je nach Zeitpunkt des Wachstums eine unterschiedlich wichtige Rolle.
Wachstum während der ersten beiden Lebensjahre
Diese Phase spiegelt eine dezelerierende Fortsetzung des fetalen Wachstums wider. Während des 1. Lebensjahres findet ein schnelles Wachstum statt, das sich bis zum Ende des 2. Lebensjahres rasch verringert. Ähnliches gilt für die Gewichtszunahme. Da Geburtslänge und -gewicht vor allem von den intrauterinen Bedingungen abhängen, korrelieren sie kaum mit der elterlichen Zielgrösse. Vor allem während des 1. Lebensjahres wird das Wachstum entscheidend durch die Nahrungs- und Kalorienzufuhr beeinflusst, genetische Faktoren werden aber zunehmend wichtiger, und entsprechend nähert sich der Säugling beziehungsweise das Kleinkind dem durch die Grösse der Eltern definierten genetischen Zielkanal an. Somit ist ein Kreuzen der Perzentilen bis zum 3. Lebensjahr nicht zwingend pathologisch.
Wachstum während des Kindesalters
Das Wachstumshormon ist neben dem Schilddrüsenhormon der wesentliche wachstumsregulierende Faktor während dieser Zeit. Die durchschnittliche Wachstumsgeschwindigkeit verringert sich zunehmend und beträgt mit vier Jahren im Durchschnitt etwa 7 cm/ Jahr, kurz vor der Pubertät aber nur noch 5 bis 5,5 cm/ Jahr. Das Wachstum von Mädchen und Knaben verläuft im Kindesalter sehr ähnlich (Abbildung 1). Entsprechend besteht in dieser Zeit nur ein geringer Grössenunterschied zwischen beiden Geschlechtern.
Wachstum während der Pubertät
Die Sexualhormone stellen in Kombination mit dem Wachstumshormon die bestimmenden Faktoren dieser Phase dar. Entsprechend kommt der Pubertätsspurt durch die ansteigenden Androgen- und Östrogenkonzentrationen sowie den Anstieg der Wachstumshormonsekretion zustande. Im Vergleich zu Knaben beginnt bei Mädchen der Pubertätsspurt zirka 2 Jahre früher, etwa mit Tanner-Stadium B2 bis B3, und zeigt sein Maximum mit rund 12 Jahren. Die Menarche erfolgt, wenn die Wachstumsgeschwindigkeit bereits wieder abnimmt. Der zu erwartende Längengewinn nach erfolgter Menarche beträgt noch
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etwa 6 bis 7 cm. 2 Jahre nach Menarche ist das Wachstum weitgehend abgeschlossen. Bei Knaben beginnt der Wachstumsspurt bei bereits fortgeschrittener Pubertät, etwa bei einem Hodenvolumen von 10 bis 12 ml, und erreicht das Maximum mit zirka 14 Jahren. Der durchschnittliche Grössenunterschied zwischen Frau und Mann beträgt 13 cm und kommt durch 2 zusätzliche Jahre präpuberalen Wachstums sowie einen grösseren Längengewinn während des Wachstumsspurts zustande (Abbildung).
Abklärungen bei Kleinwuchs
Die Anamnese stellt einen wichtigen Eckpfeiler in der Abklärung des Kleinwuchses dar. Die erhobenen Angaben können bereits Hinweise zur Ursache der vorliegenden Wachstumsstörung geben. Insbesondere sollten die in Tabelle 1 notierten Anamnesepunkte erfragt werden. Dabei sollte unter anderem ermittelt werden, ob die Geburt aus Beckenendlage erfolgte oder ob Hypoglykämien in der Neonatalperiode auftraten. Beides findet sich gehäuft bei Kindern mit Wachstumshormonmangel. Der bisherige Wachstumsverlauf, das Essverhalten sowie vorbestehende Erkrankungen können wichtige Informationen für die weiteren Abklärungen liefern. Ebenfalls sollte der Wachstums- und Pubertätsverlauf der Eltern und Geschwister erfragt werden, um das genetische Potenzial genauer zu beleuchten. Da die anamnestischen Angaben der Eltern zur eigenen Grösse oft sehr ungenau ausfallen, sollten sie immer gemessen werden. Daraus lässt sich die genetische Zielgrösse berechnen. Diese berechnet sich bei Knaben aus (Grösse des Vaters + Grösse der Mutter + 13 cm)/2, bei Mädchen aus (Grösse des Vaters + Grösse der Mutter – 13 cm)/2. Das Konfidenzintervall von 95 Prozent wird mittels einer Streuung von ± 8,5 cm ausgedrückt.
Messung der Körperlänge
Da die genaue Messung der Körperlänge des Kindes die Basis jeder Wachstumsabklärung darstellt, sollte sie unter standardisierten Bedingungen von entsprechend instruiertem Personal durchgeführt werden. Um Messfehler möglichst gering zu halten, sollte die Messung bis zum 2. Lebensjahr am liegenden Kind vorgenommen werden. Dabei sind für eine möglichst genaue Messung zwei Untersucher nötig, sodass sowohl der Kopf als auch die Füsse in Kontakt mit der Messplatte gehalten werden können. Ab dem 2. Lebensjahr ist eine Messung mit einem fix montierten Stadiometer empfohlen. Dafür steht das Kind barfuss an der Wand, während der Untersucher mit beiden Händen Wangen und Unterkiefer des horizontal nach vorne schauenden Kindes hält und den Kopf mit leichtem Zug am Mastoid nach oben zieht. Da bei der Wachstumsdiagnostik stets ein proportionierter von einem dysproportionierten Kleinwuchs unterschieden werden muss, ist zusätzlich zur Körperlängenbestimmung eine Messung der Körperproportionen (Quotient Oberlänge/Unterlänge) sinnvoll. Hierfür sitzt das Kind auf einem Hocker mit bekannter Höhe. Die Beinlänge wird so als Differenz Körperhöhe minus Sitzhöhe berechnet. Der Quotient Ober-
länge/Unterlänge sollte stets in Relation zum Knochenalter gestellt werden. Bei speziellen Fragestellungen ist es sinnvoll, die Armspannweite oder bei adipösen Kindern den Bauchumfang und die Hautfaltendicke zu messen.
Körperliche Untersuchung
Bereits auf den ersten Blick fallen möglicherweise Körperdysproportionen oder Dysmorphiezeichen auf. Auffallende Müdigkeit kann auf eine Anämie oder eine bis anhin nicht diagnostizierte Hypothyreose hindeuten. Findet sich bei der Auskultation ein Herzgeräusch, so muss an verschiedene mit Herzfehlbildungen assoziierte Syndrome gedacht werden. Ein Mittelliniendefekt kann auf eine Funktionsstörung der Hypophyse hindeuten. Da sich intrazerebrale Tumore, insbesondere Kraniopharyngeome, mit einer Wachstumsabflachung präsentieren können, sollten immer auch ein neurologischer Status sowie eine Fundoskopie durchgeführt werden. Weil das Wachstum vom Zeitpunkt des Pubertätsbeginns abhängt, ist eine Genitaluntersuchung zur Erfassung der Pubertätsstadien angezeigt.
Wachstumsgeschwindigkeit
Da das Wachstum einen dynamischen Prozess darstellt, kann zwar eine Einzelmessung in Relation zur Elterngrösse eine sinnvolle Information geben, sie kann aber nicht die dynamische Natur des Wachstums wiedergeben. Die Wachstumsgeschwindigkeit lässt sich aus der Anzahl gewachsener Zentimeter pro Zeiteinheit (mind. 6 Monate) berechnen und wird dann auf 1 Jahr hochgerechnet. Für ein Perzentilenparalleles Wachstum (ein Wachstum entlang des genetischen Kanals) ist eine Wachstumsgeschwindigkeit zwischen der 25. und 75. Perzentile nötig.
Knochenalterbestimmung
Anhand einer anterior-posterioren (a.p.) Röntgenaufnahme der nicht dominanten Hand kann der Grad der Knochenreifung und somit das Knochenalter bestimmt werden. Hierzu stehen zwei Methoden zur Verfügung: jene nach Greulich und Pyle und jene nach Tanner-Whitehouse. Das Knochenalter spiegelt die körperliche Reife wider und erlaubt abzuschätzen, wie viel Prozent der Endlänge bereits erreicht sind. Entsprechend lässt sich beim älteren Kind anhand des Knochenalters die voraussichtliche Erwachsenengrösse abschätzen.
Laborabklärungen
Mittels Bestimmung verschiedener Laborparameter kann die Ursache einer Wachstumsstörung eingegrenzt werden. In Tabelle 2 sind die aus unserer Sicht essenziellen Abklärungen zusammengefasst. Insbesondere sollten hierbei im Rahmen der Basisabklärung zugrunde liegende Erkrankungen wie eine Anämie, eine Nierenfunktionsstörung, eine Hypothyreose oder eine Zöliakie nicht verpasst werden. Erniedrigte Wachstumsfaktoren (IGF-1 und IGFBP-3) können auf einen primären oder erworbenen Wachstumshormonmangel hindeuten. Ein erhöhter Prolaktinwert deutet beim älteren Kind auf ein Makroprolak-
Die Grösse der Eltern immer nachmessen.
Zusätzlich zur Körperlängenbestimmung ist eine Messung der Körperproportionen sinnvoll.
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Das Knochenalter erlaubt abzuschätzen, wieviel Prozent der Endlänge bereits erreicht ist.
Einzelbestimmungen des Wachstumshormons sind nicht sinnvoll.
tinom oder allenfalls auf ein Kraniopharyngeom hin. Bei jedem Mädchen mit einem nicht familiären Kleinwuchs, insbesondere wenn nur ein geringer Knochenalterrückstand vorliegt, muss an ein Turner-Syndrom gedacht werden. Bei klinischem Verdacht ist dann eine Chromosomenanalyse indiziert. Bei älterem Kind und fehlender Pubertätsentwicklung ist eine Bestimmung der Gonadotropine angezeigt. Knaben mit einer Muskeldystrophie Duchenne sind kleinwüchsig. Bei Verdacht sollte entsprechend die Kreatinkinase bestimmt werden.
Familiärer Kleinwuchs
Das genetische Potenzial des Kindes kommt wesentlich in den Körpergrössen der biologischen Eltern zum Ausdruck. Das Kind ist hierbei völlig gesund, hat jedoch die Veranlagung, kleinwüchsig zu sein, von einem oder beiden Elternteilen oder einem nahen Verwandten geerbt. Es finden sich hierbei keine endokrinologischen Auffälligkeiten. Das Knochenalter ist häufig nicht retardiert.
Konstitutionelle Verzögerung von Wachstum und Entwicklung
Es handelt sich hierbei um eine Ausschlussdiagnose des nicht familiären Kleinwuchses mit einem langsameren und längeren Wachstum in Kombination mit einem verspäteten Eintritt in die Pubertät. Ein Wachstum oft unterhalb des familiären Zielbereiches bei normwertiger Wachstumsgeschwindigkeit kennzeichnet diese Wachstumsvariante. Das Knochenalter ist häufig um mehr als 1½ Jahre retardiert. Knaben präsentieren sich häufiger mit einer konstitutionellen Verzögerung als Mädchen. Die Häufigkeit beträgt insgesamt zirka 3 Prozent. In vielen Fällen besteht eine familiäre Häufung, weshalb in der Anamnese auch
Tabelle 3: Ursachen des Kleinwuchses
• familiärer/idiopathischer Kleinwuchs • konstitutionelle Verzögerung • syndromaler Kleinwuchs
(Liste nicht abschliessend): – Ullrich-Turner-Syndrom – Noonan-Syndrom – Silver-Russel-Syndrom – Prader-Willi-Syndrom – Down-Syndrom – Pseudohypoparathyreoidismus • Skelettdysplasien – Achondroplasie – Hypochondroplasie – Dyschondrosteose Leri-Weill
(Mutation im SHOX-Gen) – andere Dysostosen • intrauteriner Kleinwuchs • endokriner Kleinwuchs – Wachstumshormonmangel – Hypothyreose – Cushing-Syndrom
• organischer Kleinwuchs – kardiale und pulmonale Erkrankungen – pulmonale Ursache – Lebererkrankungen – gastrointestinale Erkrankungen – Niereninsuffizienz – chronische Anämien – chronisch entzündliche Erkrankungen
• metabolische Störungen – Störungen des Kalzium-Phosphat-Stoffwechsels – Störungen des Kohlenhydrat- und Lipidstoffwechsels – Störungen des Knochenmetabolismus
• psychosozialer Kleinwuchs – Deprivation – Anorexia nervosa – Depression
• iatrogene Ursachen – hoch dosierte Glukokortikoidtherapie – Ganzkörper- oder Schädelbestrahlung – Chemotherapie – Therapie mit Methylphenidat
immer das Menarchealter der Mutter und der Zeitpunkt des Wachstumsspurts des Vaters erfragt werden sollte. Der Leidensdruck ist häufig sehr stark, da die Jugendlichen im Vergleich zu ihren Altersgenossen nicht nur zu klein sind, sondern auch noch keine sekundären Pubertätsmerkmale zeigen. Aus diesem Grund brauchen die betroffenen Jugendlichen regelmässige Kontrollen zur psychologischen Unterstützung, bis Pubertät und Wachstumsspurt einsetzen.
Wachstumshormonmangel
Ungenügendes Wachstum mit normaler oder gesteigerter Gewichtszunahme ist ein selektiver Indikator für eine endokrine Störung und bedarf einer weiteren Abklärung. Die häufigste Ursache ist der Wachstumshormonmangel mit einer Prävalenz von 1:3000 bis 1:4000 (2). Im Kindes- und Jugendalter kommt er relativ häufig vor und ist meistens idiopathisch bedingt. Die wesentlich seltener vorkommenden monogenetischen Formen werden autosomal dominant oder rezessiv vererbt und können auch in Kombination mit anderen hypophysären Hormonausfällen auftreten. Im Rahmen von Traumata, Infektionen, ZNS-Tumoren (z.B. Kraniopharyngeom, Makroprolaktinom etc.), Operationen oder Bestrahlungen kann ein Wachstumshormonmangel auch erworben sein. Bereits beim Neugeborenen kann sich ein Wachstumshormonmangel mit rezidivierenden Hypoglykämien präsentieren und ist dann meist mit anderen Hormonausfällen assoziiert. Somit ist bei der Hypoglykämiediagnostik im Neugeborenen- und Säuglingsalter immer auch das Wachstumshormon (und das Kortisol zum Ausschluss/Nachweis einer primären oder sekundären Nebennierenrindeninsuffizienz) zu bestimmen. Im Kleinkindes- und Kindesalter sollte unbedingt an einen Wachstumshormonmangel gedacht werden, wenn das Wachstum nach anfänglich perzentilengerechtem Verlauf abfällt (d.h. die Perzenzilenkurven gekreuzt werden) sowie die Wachstumsgeschwindigkeit über einen längeren Zeitpunkt (mindestens 6–12 Monate) unterhalb der 25. Perzentile liegt. Im Rahmen der Diagnostik können IGF-1 und IGFBP-3 häufig wegweisend erniedrigt sein. Jedoch können diese Parameter auch im Rahmen anderer endokrinologischer Erkrankungen (Hypothyreose, Hypogonadismus), bei konstitutioneller Verzögerung, bei Mangelernährung oder bei chronischen Erkrankungen erniedrigt sein (2). Einzelbestimmungen des Wachstumshormons sind nicht sinnvoll, da die Ausschüttung pulsatil erfolgt und somit starke Konzentrationsschwankungen verursacht. Bei Verdacht auf einen Wachstumshormonmangel ist eine weitere Abklärung mittels Wachstumshormonstimulationstest indiziert. Da die Spezifität und Sensitivität des Tests bei zirka 80 Prozent liegen, ist zur sicheren Diagnosefindung immer ein zweiter Test angezeigt (3). Im Schädel-MRI findet sich bei Kindern mit Wachstumshormonmangel häufig eine Hypoplasie der Hypophyse, in manchen Fällen zusätzlich eine Ektopie der Neurohypophyse. Ein Kraniopharyngeom oder andere Tumoren des ZNS können damit ebenfalls ausgeschlossen beziehungsweise nachgewiesen werden.
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Tabelle 4: Schweizer Kriterien für eine Wachstumshormontherapie bei SGA
• Geburtsgewicht/-grösse ≤ –2 SD • kein Aufholwachstum bis zum 4. Lebensjahr • aktuelle Körperlänge ≤ –2,5 SD • Wachstumsgeschwindigkeit im letzten Jahr ≤ 0 SD • Angleichung an die genetische Zielgrösse < –1 SD • Ausschluss eines Wachstumshormonmangels und/oder einer Hypothyreose • Ausschluss medizinischer Gründe oder Behandlungen, die zu Wachstumsstörung
führen • Reevaluation nach 1 Jahr (Wachstumsgeschwindigkeit nach 1 Jahr mindestens
+1 SD)
SGA: small for gestational age; SD: Standardabweichung.
Der Wachstumshormonstimulationstest sollte zweifach durchgeführt werden.
Die Behandlung erfolgt mit rekombinantem Wachstumshormon, das 1-mal täglich abends subkutan in einer Dosis von zirka 25 µg/kg Körpergewicht (KG) gespritzt wird. Darunter kommt es häufig bereits in den ersten Monaten zu einem Aufholwachstum, und es wird meistens eine Endgrösse im familiären Zielbereich erreicht.
Ullrich-Turner-Syndrom
Dieses stellt mit einer Inzidenz von 1:2500 bei weiblichen Neugeborenen den häufigsten syndromalen Kleinwuchs dar (4) und muss deshalb bei jedem kleinwüchsigen Mädchen in Betracht gezogen werden. Aufgrund des Fehlens oder der Aberration eines X-Chromosoms kommt es zur typischen Trias, bestehend aus nicht familiärem Kleinwuchs, Gonadendysgenesie (ovarielle Insuffizienz) und verschiedenen Zusatzanomalien wie Pterygium, Schildthorax, weiter Mamillenabstand, tiefer Haaransatz, tief sitzende Ohren, verkürztes Metacarpale IV, Nagelanomalien und Cubitus valgus. Zusätzlich finden sich gehäuft kardiale Missbildungen wie beispielsweise eine Aortenisthmusstenose sowie eine Hufeisenniere. Beim Neugeborenen liegen typischerweise Lymphödeme des Handrückens vor. Später entwickeln diese Mädchen auch gehäuft eine Hashimoto-Thyreoiditis. Der Kleinwuchs beim Turner-Syndrom beruht auf einer Haploinsuffizienz des SHOX (short stature homebox containing gene). Deshalb findet sich ein dysproportionierter Kleinwuchs mit kurzen unteren Extremitäten. Es gilt hier anzumerken, dass auch bei Mädchen mit Turner-Syndrom das ererbte genetische Potenzial mitspielt, das heisst, Mädchen grosser Eltern können oberhalb der dritten Perzentile wachsen, was die Diagnose erschweren kann. Bei rund 80 Prozent aller Mädchen mit Turner-Syndrom fehlt der spontane Pubertätseintritt aufgrund eines primären Gonadenversagens. Da auch das Pubertätswachstum um 5 bis 10 cm reduziert ist, liegt die durchschnittliche Endgrösse dieser Mädchen mit 142 bis 147 cm etwa 3 Standardabweichungen unterhalb der normalen Referenzgruppe, das heisst, diese Mädchen sind unbehandelt etwa 20 cm kleiner (4).
Eine Therapieoption stellt die Behandlung mit rekombinantem Wachstumshormon in einer Dosis bis 50 µg/kg KG/Tag dar. Diese Therapie führt häufig zu einer Wachstumsbeschleunigung und kann die Endgrösse um bis zu 5 bis 7 cm erhöhen (5). Zur Pubertätsinduktion ist häufig eine Behandlung mit Östrogenen nötig.
Kleinwuchs bei SGA
Diese Gruppe umfasst Kinder, welche für das Gestationsalter ein Geburtsgewicht und/oder eine Geburtslänge unter –2 Standardabweichungen zeigen (small for gestational age, SGA). Davon sind in der Schweiz zirka 3 Prozent aller Neugeborenen betroffen (6). Rund 10 Prozent dieser Kinder zeigen bis zum 4. Lebensjahr kein Aufholwachstum und haben somit ein erhöhtes Risiko für einen permanenten Kleinwuchs (1). Bei Mädchen kann es so zu einem Endlängenverlust von etwa 7,5 cm, bei Knaben von zirka 10 cm kommen (7). Zusätzlich besteht bei diesen Kindern ein höheres Risiko, dass sie im Erwachsenenalter ein metabolisches Syndrom entwickeln. Selten findet sich ein Wachstumshormonmangel bei SGA-Kindern, entsprechend zeigen sie einen normalen Wachstumshormonanstieg in den üblichen Stimulationstests. Häufiger besteht aber eine milde Insuffizienz oder Resistenz für Wachstumshormon oder IGF-1. Auch kann eine Retardierung des Knochenalters um 1 bis 2 Jahre bestehen. Im Gegensatz zu anderen Wachstumsstörungen impliziert dies jedoch nicht unbedingt ein späteres Aufholwachstum. In der Schweiz ist seit Dezember 2008 unter bestimmten in Tabelle 4 aufgeführten Kriterien eine Therapie mit rekombinantem Wachstumshormon mit einer Dosis von zirka 33 µg/KG/Tag möglich, deren Kosten von der Krankenkasse übernommen werden. Bei fehlender signifikanter Verbesserung der Wachstumsgeschwindigkeit ist die Therapie jedoch zu überdenken. Die grosse Variabilität bezüglich Endlänge korreliert letztlich mit der Elterngrösse, dem Therapiebeginn und der Therapiedauer.
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Daniel Konrad, PhD Abteilung für Endokrinologie und Diabetologie Universitäts-Kinderspital Steinwiesstrasse 75 8032 Zürich E-Mail: daniel.konrad@kispi.uzh.ch
Danksagung: Herzlich möchten wir uns bei Frau Dr. M. Lang-Muritano und Frau Dr. K. Gerster für ihre konstruktiven Anmerkungen zum Manuskript bedanken.
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Literatur: 1. Hokken-Koelega AC et al.: Children born small for gestational age: do they catch up? Pediatr Res 1995; 38: 267–271. 2. Binder G et al.: Diagnostic guidelines for growth hormone deficiency in childhood and adolescence. Kinder- und Jugendmedizin 2009; 9: 461–464. 3. Hauffa BP et al.: Central reassessment of GH concentrations measured at local treatment centers in children with impaired growth: consequences for patient management; Eur J Endocrinology 2004; 150: 291–297. 4. Ranke MB et al.: Turner’s syndrome. Lancet 2001; 358: 309–314. 5. Stephure DK et al.: Canadian Growth Hormone Advisory Committee. Impact of growth hormone supplementation on adult height in turner syndrome: results of the Canadian randomized controlled trial. J Clin Endocrinol Metab 2005; 90: 3360–3366. 6. Karlberg et al. Growth in full-term small-for-gestational-age infants: from birth to final height. Pediatr Res 1995; 38: 733–739. 7. Leger J et al. Prediction factors in the determination of final height in subjects born small for gestational age. Pediatr Res 1998; 43: 808–812. 8. Braegger C et al. Neue Wachstumskurven für die Schweiz. Paediatrica 2011; 22: 9–11.
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