Transkript
SCHWERPUNKT
Nächtliche Hypoglykämie
Welche Risikofaktoren sind bekannt, und was ist zu tun?
Nächtliche Hypoglykämien sind bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes nicht selten. Wir sprachen mit der Diabetologin Dr. med. Sara Bachmann am Universitätskinderspital beider Basel über Risikofaktoren und die richtige Strategie zur Vermeidung von Hypoglykämien in der Nacht.
F rau Dr. Bachmann, Sie haben eine Studie zu Hypoglykämien bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes durchgeführt. Was sind die wesentlichen Ergebnisse? Dr. med. Sara Bachmann: Die primäre Fragestellung der Studie war, wie viele Hypoglykämien in der Nacht auftraten und womit diese assoziiert waren. Die Patienten trugen 6 Tage lang rund um die Uhr einen subkutanen Glukosesensor. Tagsüber wurde mit einem Akzelerometer die Bewegungsaktivität gemessen. Im Durchschnitt traten in 2 von 6 Nächten Hypoglykämien auf, zum Teil von sehr langer Dauer oder auch mehrere pro Nacht. Die Häufigkeit entsprach derjenigen, die wir aufgrund der Daten aus der Literatur erwartet haben. Uns hat jedoch sehr die Dauer der Hypoglykämien überrascht – und die Tatsache, dass sie kaum bemerkt wurden. In der Regel dauerten sie 2 bis 3 Stunden, die längste sogar 11 Stunden, also während der gesamten Nacht. Wenn der Blutzucker erst einmal niedrig war, dann blieb er meist über mehrere Stunden so. Es setzte also keine prompte Gegenregulation ein, und die Kinder und Jugendlichen bemerkten die Hypoglykämie in den meisten Fällen nicht. Wenn überhaupt, bemerkten die Eltern, dass mit dem schlafenden Kind etwas nicht in Ordnung war.
Warum bemerken die Betroffenen nichts von ihrer nächtlichen Hypoglykämie? Bachmann: Die Symptome führen nicht zwingend zum Aufwachen. Autonome, gegenregulatorische Symptome wie Schwitzen, Zittern und Herzklopfen könnten theoretisch bemerkt werden, aber sogar bei Gesunden ist die Adrenalinsekretion bei Hypoglykämien im Schlaf reduziert. Bei längerer Diabeteserkrankungsdauer und wiederholten Hypoglykämien in der Vorgeschichte ist diese Gegenregulation zudem eingeschränkt, und die Symptome treten unter Umständen gar nicht mehr auf. Übrigens zeigte sich im zweiten Teil der Studie*, dass die Kinder und Jugendlichen auch am Tag relativ lange hypoglykämisch sein können, ohne es zu bemerken.
Warum ist nächtliche Hypoglykämie gefährlich? Bachmann: Es ist bekannt, dass häufige Hypoglyk-
ämien in der Nacht zu Konzentrationsstörungen und Leistungseinbussen am Tag führen. Aber auch die Gegenregulation leidet darunter, sodass, wie bereits erwähnt, auch Hypoglykämien am Tag nicht mehr bemerkt werden. Dies erhöht dann das Risiko für schwerere Hypoglykämieereignisse mit Bewusstlosigkeit und Krampf. Man nimmt auch an, dass das «Dead-in-bed»-Syndrom mit schweren nächtlichen Hypoglykämien zusammenhängen könnte.
Welche Risikofaktoren sind bekannt? Bachmann: Wir haben in unserer Studie zwei Risikofaktoren gefunden. Der eine ist die Bewegung am Tag. Dieser Zusammenhang war zwar bereits bekannt, aber nicht, dass auch kurze, intensive Aktivität ein Risiko darstellt. Zuvor hatte ich Patienten vor allem vor Späthypoglykämien in der Nacht nach einer Wanderung oder einem Skitag gewarnt – also nachdem sie sich viele Stunden lang bewegt hatten. Nun ist klar, dass auch kurze, intensive Bewegung am Tag das Hypoglykämierisiko in der Nacht fast verdoppeln kann. In unserer Studie erhöhte eine Stunde intensiver Bewegung das Risiko um 60 bis 80 Prozent. Das bedeutet erstens, dass man auch zur Nacht den Blutzucker messen und man zweitens die Insulingabe anpassen muss, wenn man zum Beispiel eine Stunde Fussball gespielt hat. Der zweite Risikofaktor ist der Blutzuckerspiegel beim Schlafengehen. Patienten, die mit einem Blutzucker unter 6 mmol/l ins Bett gingen, trugen ein 2,5-fach erhöhtes Risiko für eine Hypoglykämie in der Nacht. Diese neue Erkenntnis hat unsere Diabetesschulungen verändert. Wir empfehlen nun ganz konkret: Der Blutzucker beim Schlafengehen muss 6 mmol/l oder mehr betragen. Früher lag diese Schwelle bei 5 mmol/l.
Gibt es weitere neue Empfehlungen? Bachmann: Am wichtigsten ist es, auf das Risiko der Späthypoglykämie nach körperlicher Aktivität hinzuweisen und die Bedtime-Regel auf 6 mmol/l anzupassen. Wir haben zudem erkannt, dass die Späthypoglykämien nach dem Sport eher unterschätzt werden. Die Patienten müssen also verstärkt darauf hingewiesen werden. Ich frage meine Patienten jetzt in der Tat öfter nach ihren sportlichen Aktivitäten und erkläre ihnen ganz genau, wie sie ihr Insulin anpassen müssen.
Der Blutzucker sollte beim Schlafengehen mindestens 6 mmol/l betragen.
* Dieser zweite Teil wurde als Masterarbeit an der Universität Basel publiziert.
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SCHWERPUNKT
Kasten: Studie zum nächtlichen Hypoglykämierisiko bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes
In die Studie wurden 60 Kinder und Jugendliche mit Typ-1-Diabetes seit mehr als einem halben Jahr aufgenommen; die Daten von 51 Probanden waren vollständig (29 Jungen, 22 Mädchen; Alter: 2–17 Jahre; HbA1c 8,1 ±1,5%). 36 Probanden injizierten Insulin mehrfach täglich (FIT: funktionelle Insulintherapie), 15 Probanden hatten eine Insulinpumpe. Das Risiko einer nächtlichen Hypoglykämie ist vom Blutzuckerwert beim Schlafengehen (bedtime glucose) abhängig sowie von der körperlichen Aktivität am Tag. In der Studie fand sich hingegen keine Assoziation des nächtlichen Hypoglykämierisikos mit Alter, Insulindosis, Therapieschema (FIT vs. Pumpe) oder Diabetesdauer.
Bachmann S et al.: Nocturnal hypoglycemia and physical activity in children with diabetes: new insights by continuous glucose monitoring and accelerometry. Diabetes Care 2016; 39: e95–e96.
ist. Es ist klar, dass bei ihnen eher Blutzuckerschwankungen auftreten, bei so jungen Patienten muss man spontan richtig reagieren. Gerade für sie sind die neuen Insulinpumpentechnologien sehr hilfreich. Wir machen die Erfahrung, dass Kinder, welche eine mit einem Glukosesensor gekoppelte Insulinpumpe tragen, deutlich weniger Hypoglykämien haben.
Könnten neue technische Lösungen, wie beispielsweise das FreeStyle-Gerät, speziell den Jugendlichen helfen? Bachmann: Vielleicht könnte das einigen helfen. Gerade das FreeStyle-libre-System wird von vielen Patienten sehr gut akzeptiert. Ein Glukosesensor bietet sicher die Möglichkeit einer besseren Überwachung des Glukoseverlaufs und ermöglicht es, rasch auf Blutzuckerschwankungen zu reagieren. Nicht alle wissen aber mit dieser Zusatzinformation umzugehen. Und wenn man nichts von seinem Diabetes wissen will, dann liest man den Blutzucker auch nicht ab. Sogar Sensoren, die bei hohem Zucker Alarm schlagen, kann man ignorieren oder abschalten. Oder man trägt das Gerät einfach nicht. Wenn ein Patient mit seinem Blutzucker nicht konfrontiert sein will, hilft auch die Technik nicht. Bei einigen Jugendlichen ist die Akzeptanz der Krankheit ein Problem.
Grundsätzlich neu sind die Erkenntnisse über die Zusammenhänge ja nicht, aber es hat sich in der Studie als sehr hilfreich erwiesen, den Studienpatienten ihre persönlichen Glukoseprofile zeigen zu können. Mittlerweile tragen erfreulicherweise viel mehr Patienten einen Glukosesensor als früher.
Was sind die klassischen Fehler Ihrer jungen Patienten mit Typ-1-Diabetes? Bachmann: Wir wissen aus unserer täglichen Praxis, dass gerade Jugendlichen die Risiken von Hypoglykämien oft nicht so recht bewusst sind. Der Aspekt, dass bei tiefem Blutzucker zusätzliche Kohlenhydrate eingenommen werden müssen, wird eventuell sogar als positiv empfunden. Blutzuckerschwankungen am Tag und insbesondere Hypoglykämien sind oft auch Folge einer ungezielten Insulinabgabe: Das Essensinsulin wird nicht immer genau berechnet, sondern oft geschätzt. Bei einer zu hohen Dosis von schnellem Insulin kommt es dann zur Hypoglykämie. Auch die Korrektur von hohen Werten erfolgt oft nach Gefühl mit einer zu hohen Dosis. Mir hat einmal ein Jugendlicher gesagt, er wolle halt, dass der Zucker in einer halben Stunde wieder normal sei. Das ist mit den zur Verfügung stehenden Insulinen aber gar nicht möglich. Es gibt natürlich auch Jugendliche, die ihren Diabetes mit viel Disziplin managen und sehr gut im Griff haben. Es sind im Wesentlichen drei Fehler, die immer wieder gemacht werden: Das Insulin wird zu wenig gezielt an die Mahlzeiten angepasst, die Korrekturdosis ist oft zu hoch, und es wird generell zu selten gemessen. Etwas anders sieht es bei den Vorschulkindern aus. Bei ihnen kann man einer Hypoglykämie nicht unbedingt mit der vorgängigen Gabe von zusätzlichen Kohlenhydraten vorbeugen, weil das Essens- und Bewegungsverhalten bei kleinen Kindern nicht so gut vorhersehbar
Worauf sollten die Kinderärzte in der Praxis achten? Bachmann: Es könnte helfen, wenn sie mit auf die Problematik der Hypoglykämien achten und die Patienten zum Beispiel fragen, ob welche auftreten und wie sie bemerkt werden. Das Ziel ist nicht, dass der Kinderarzt dann eine Empfehlung zur Insulinanpassung gibt, sondern dass er den Jugendlichen auf die Notwendigkeit aufmerksam macht, sich damit in Absprache mit seinem Diabetologen zu befassen. Auch bei Jugendlichen, die zu selten zu uns kommen, könnte der Kinderarzt als Vertrauensperson vielleicht etwas bewirken. Generell gehören die Anpassung des Insulins und die Diskussion von Blutzuckerprofilen aber schon in die Diabetessprechstunde.
Was möchten Sie den Kollegen in der Praxis gerne mit auf den Weg geben? Bachmann: Ich glaube, die Hauptaufgabe der Pädiater in der Praxis ist es, den Diabetes erst einmal zu erkennen. Das klappt gut, denn wir sehen nur wenige Patienten, die komplett entgleist sind, wenn sie zu uns kommen. Im Verlauf ist es vielleicht für den Praktiker relevant zu wissen, dass wir heute die Stoffwechseleinstellung der Patienten nicht mehr nur nach dem HbA1c beurteilen. Dank der Verfügbarkeit von 24Stunden-Profilen schauen wir Diabetologen nun vermehrt auch die «area under the curve» an und versuchen, Blutzuckerschwankungen bei unseren Patienten zu reduzieren. Man verfügt heutzutage über viel mehr Technologie als früher, und man kann die Patienten viel gezielter einstellen. Die Hypoglykämie ist aber trotzdem weiterhin ein Thema, das von den Patienten eher unterschätzt wird.
Das Interview führte Dr. Renate Bonifer.
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