Transkript
SCHWERPUNKT
Diabetes Typ 1 im Kindes- und Jugendalter
Welche Hilfsmittel verbessern die Behandlung?
Die Strategie, der Insulinsekretion eines Gesunden möglichst nahe zu kommen, wird als «funktionelle Insulintherapie» (FIT) bezeichnet. In diesem Artikel wird dieser therapeutische Ansatz vorgestellt, und aktuelle Entwicklungen sowie Zukunftsperspektiven für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Diabetes mellitus Typ 1 werden diskutiert.
Von Mirjam Dirlewanger, Philippe Klee und Valérie M. Schwitzgebel
Diabetes mellitus Typ 1 (T1D) entsteht infolge der Zerstörung der insulinproduzierenden Betazellen des Pankreas durch autoimmune Prozesse. Obgleich die T1DInzidenz heutzutage ansteigt, liegt die Erstbeschreibung der Erkrankung weit zurück. Im Jahr 1536 vor Christus wurde im sogenannten «Ebers-Papyrus», eine der ältesten bekannten medizinischen Aufzeichnungen (1), der Fallbericht über einen stets stark durstigen Patienten vermerkt, der so stark an Gewicht verlor, dass man seine Rippen sah; dieser Zustand wurde als tödlich beschrieben. T1D blieb eine tödliche Erkrankung, bis Frederick Banting und sein Assistent Charles Best 1921 das Insulin entdeckten und weniger als ein Jahr später der erste Patient behandelt wurde (2). Während T1D-Patienten somit auf Dauer überleben konnten, wurde nach einigen Jahren klar, dass chronische Hyperglykämien unweigerlich zu makro- und mikrovaskulären sowie neurologischen Komplikationen führten. Erst in den Neunzigerjahren konnte gezeigt werden, dass diabetische Komplikationen nicht unausweichlich sind, sondern durch eine intensive Therapie nach dem Basis-Bolus-Schema mit täglich 3 oder mehr Humaninsulininjektionen verzögert werden können (3). Ein weiterer Schritt in Richtung eines möglichst physiologischen Insulinspiegels mittels Insulintherapie war 1996 die Entwicklung der ersten schnell wirkenden Insulinanaloga, welche derart modifiziert worden waren, dass sie ihre Wirkung nach subkutaner Injektion rasch entfalten konnten (4). Ihr Wirkungseintritt bereits 15 Minuten nach der Injektion (5, 6) erlaubt seitdem die Insulingabe unmittelbar vor den Mahlzeiten. Dies vermindert deutlich das Auftreten postprandialer Hyperglykämien sowie möglicherweise das Hypoglykämierisiko zwischen den Mahlzeiten (7, 8). Die Optimierung und stete Miniaturisierung der Blut-
zuckermessgeräte ermöglichte schliesslich die Anpassung der Insulindosen an die Ernährung des Patienten sowie die Korrektur zu hoher Blutzuckerspiegel zu jedem Zeitpunkt.
Funktionelle Insulintherapie (FIT) in der Pädiatrie
Die FIT wurde in den Achtzigerjahren für die Behandlung erwachsener Typ-1-Diabetiker entwickelt. Seitdem konnte gezeigt werden, dass diese Strategie die Stoffwechselkontrolle und die Lebensqualität der erwachsenen Patienten steigert, ohne das Hypoglykämierisiko zu erhöhen (9). Die FIT wurde als Goldstandard für die T1D-Behandlung bei Kindern angepasst (Abbildung 1) und in vielen Ländern weltweit eingeführt, auch in der Schweiz. Basalinsulin: Das Basalinsulin soll einen stabilen Blutzuckerspiegel zwischen den Mahlzeiten gewährleisten. Dafür wird ein lang wirkendes Insulin eingesetzt. Die hierfür zurzeit infrage kommenden Präparate sind die Insuline Detemir (Levemir®), Glargin (Lantus®) und Degludec (Tresiba®). Diese Insuline werden 1- bis 2mal täglich injiziert. Die Dosis hängt von zahlreichen Faktoren ab, wie Alter, Gewicht, Bewegungsaktivität, Ernährungsgewohnheiten und Pubertätsstatus. Falls eine Insulinpumpe verwendet wird, werden rund um die Uhr stetig niedrige Dosen schnell wirksamer Insulinanaloga injiziert. Der Vorteil dieser Methode ist, dem variablen Insulinbedarf über den Tag hinweg besser gerecht zu werden. Insulin vor jeder Mahlzeit: Vor jeder Mahlzeit wird ein schnell wirkendes Insulinanalogon injiziert, um den Bedarf aufgrund der konsumierten Kohlenhydrate abzudecken. Dieses Insulin «zum Essen» führt idealerweise dazu, dass der postprandiale Blutzucker wieder genauso hoch ist wie vor der Mahlzeit. Die «Broteinheiten» geben dem Patienten an, wie viel Insulin er für
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Die kontinuierliche Glukosemessung fördert die Stoffwechselkontrolle.
Die permanente Patientenschulung ist sehr wichtig.
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SCHWERPUNKT
Abbildung 1: Prinzip der funktionellen Insulintherapie (FIT) bei Kindern A: Um der Insulinsekretion eines Gesunden möglichst nahezukommen, wird ein Basalinsulin (blau) als lang wirksames Insulin oder als basale Sekretion durch eine Insulinpumpe gegeben. Vor jeder Mahlzeit wird ein Insulin «zum Essen» gegeben, um den Bedarf aufgrund der konsumierten Kohlenhydrate zu decken; dabei handelt es sich um ein schnell wirkendes Insulin (grün). Ein «Korrekturinsulin» (rot) kann vor oder zwischen den Mahlzeiten gegeben werden, um einen zu hohen Glukosespiegel zu senken. B: Ziel der Basalinsulingabe ist es, den Glukosespiegel zwischen den Mahlzeiten stabil zu halten (blau). Ziel der Insulingabe vor dem Essen ist es, den postprandialen Glukosespiegel auf den präprandialen Wert zu bringen (grün). Ziel der Gabe eines «Korrekturinsulins» ist es, eine Hyperglykämie vor oder zwischen den Mahlzeiten zu beseitigen. In der Praxis setzt sich die Gabe eines schnell wirkenden Insulins vor einer Mahlzeit im Allgemeinen aus einem Insulin «zum Essen» und einem «Korrekturinsulin» zusammen.
Blutzuckeränderungen sind im Interstitium erst mit 4 bis 10 Minuten Verzögerung messbar.
die jeweilige Mahlzeit spritzen muss. Die Kombination eines oben genannten Basalinsulins mit einem Insulin «zum Essen» erlaubt es dem Patienten, so viele Kohlenhydrate zu essen, wie er möchte und wann immer er möchte. Insulin für die Korrektur zu hoher Blutzuckerspiegel: Jederzeit, sei es vor einer Mahlzeit oder zwischen den Mahlzeiten, können Hyperglykämien mithilfe eines schnell wirkenden Insulins korrigiert werden. Die «Korrekturdosis» gibt dem Patienten an, um wie viel sein Blutzucker pro Insulineinheit sinken wird. In der Praxis rechnet der Patient aus, wie stark er seinen Blutzuckerspiegel senken muss, um Normalwerte zu erreichen, und entscheidet dann, wie viel Insulin er injizieren muss.
Elektronische Hilfsmittel
Für Erwachsene wurden die Vorteile der FIT in Bezug auf Stoffwechselkontrolle und Lebensqualität (9) dank der Flexibilität bezüglich Ernährung und Essenszeiten dokumentiert. Allerdings erfordert die FIT umfassende Kenntnisse und eine intensive Mitarbeit des Patienten. Die ständige therapeutische Patientenschulung spielt eine grosse Rolle, damit wichtige Kenntnisse nicht verloren gehen, was mit der Zeit zu einer verminderten Wirksamkeit der FIT führen kann (10). Das tägliche Berechnen der Insulindosen erschwert die Therapie, kann die Compliance beeinträchtigen und Kindern zu viel Verantwortung aufbürden (11). Darum bieten die Hersteller von Insulinpumpen und Blutzuckermessgeräten Software für
«Bolusrechner» an, mit deren Hilfe die Insulindosis aufgrund des gemessenen Blutzuckerspiegels und der zu erwartenden Kohlenhydrataufnahme bestimmt werden kann. Der regelmässige Gebrauch solcher Rechner verbessert die Stoffwechselkontrolle sowohl bei erwachsenen Patienten als auch bei Kindern mit T1D (12–14). Mit dem Siegeszug der Smartphones und Tablets kamen weitere Rechner als Apps auf den Markt. Da viele Kinder und Jugendliche ein Smartphone besitzen und es auch ständig gebrauchen, sind diese Apps interessante Hilfsmittel, um mit dem Diabetes zu leben. Die Möglichkeit, selbst Applikationen für Smartphones und Tablets zu programmieren, führte zur Entwicklung von Apps von Patienten für Patienten unter Umgehung der bis anhin üblichen Entwickler von Hilfsmitteln für die Diabetestherapie, wie beispielsweise pharmazeutische Firmen, Medizintechnikfirmen oder universitäre Zentren (15). In der Schweiz wurden mehrere Apps, wie beispielsweise GluCalc oder Webdia HUG, in Zusammenarbeit mit Patienten entwickelt. Webdia HUG nutzt die ständige Verbindung von Smartphones mit dem Internet, um innerhalb einer Familie alle Blutzuckerwerte zusammenzuführen und grafisch darzustellen, auch wenn die Messungen mit verschiedenen Geräten und von verschiedenen Personen durchgeführt wurden (Abbildung 2). Dies erlaubt den Angehörigen des Kindes mit T1D den Zugriff auf dessen Blutzuckerwerte, auch wenn es nicht zu Hause oder nicht in Begleitung seiner Familie ist. Darüber hinaus ermöglicht das Programm dem Diabetesteam Zugriff auf die Patientendaten, um die Kommunikation zwischen Patient und Team während und zwischen den Konsultationen zu verbessern. Diese App ist ein Beispiel für die Umsetzung der Telemedizin bei der Diabetesbehandlung. Der Nutzen dieser Herangehensweise ist belegt, und viele Zentren entwickeln Strategien, wie man ein solches Vorgehen im Alltag implementieren kann (16). Dabei handelt es sich um einen zeitaufwendigen Prozess, der gegenwärtig an gewisse Grenzen stösst, und zwar zum einen im Hinblick auf Fragen zur Kostenübernahme der Interventionen und zum anderen wegen der Tatsache, dass die Kommunikation über räumliche Distanz kaum mit dem direkten Kontakt von Angesicht zu Angesicht konkurrieren kann, der zu einer starken, vertrauensvollen Bindung der Gesprächspartner führt (17). Darüber hinaus ist die Diversität der auf dem Markt befindlichen Systeme zur Blutzuckermessung und Insulinapplikation sowie deren Inkompatibilität ein zusätzliches Hindernis. Dieses Hindernis muss künftig durch die Entwicklung industrieunabhängiger Plattformen umgangen werden, die kompatibel mit den Geräten verschiedener Hersteller sind. Ziel ist die Verbesserung der Kommunikation zwischen den verschiedenen Geräten. Eine solche Plattform ist in Entwicklung (www.tidepool.org).
Glukosemonitoring im Interstitium
Das kontinuierliche Glukosemonitoring (CGM: continuous glucose monitoring system) ist ein edukatives und therapeutisches Hilfsmittel zur Optimierung der
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Abbildung 2: Webdia HUG – ein Programm zum Errechnen der Insulindosen Die App Webdia HUG ist sehr einfach gestaltet und auch für Kinder geeignet. Sie erlaubt das Errechnen der Insulindosis, aber auch mittels Lebensmittelfotos abzuschätzen, wie viele Kohlenhydrate auf dem Teller sind. Die gespeicherten Glukosewerte können mit verschiedenen mobilen Endgeräten synchronisiert und abgerufen werden (Cloud). Die App ist auf Französisch und Englisch verfügbar (www.webdia.ch). Die im Text genannte App GluCalc ist auch auf Deutsch verfügbar (www.glucalc.ch).
glykämischen Kontrolle. Ein CGM vereinfacht therapeutische Anpassungen dank des besseren Wissens um die glykämische Variabilität, der Vorhersage von Hypo- oder Hyperglykämien sowie der Detektion unerkannter Hypoglykämien und einer entsprechenden Alarmfunktion. CGM gibt es sowohl mit verblindetem Modus (mit späterer, retrospektiver Auswertung der gespeicherten Daten) als auch mit Echtzeitmodus (CGM-RT), welcher das unmittelbare Verfolgen des Glukosespiegels auf einem Bildschirm erlaubt. Studien zeigen, dass der permanente Gebrauch eines CGM zu einer vergleichbaren Senkung des HbA1cWertes führen kann wie das Tragen einer Insulinpumpe (18, 19).
Tabelle 1: Systeme zur interstitiellen Glukosemessung in der Schweiz
System CGM mit verblindeter Messung (retrospektive Datenauswertung), unabhängiger Empfänger CGM mit Echtzeitmessung, unabhängiger Empfänger oder Verbindung mit Insulinpumpe CGM mit Echtzeitmessung, unabhängiger Empfänger CGM mit Echtzeitmessung, unabhängiger Empfänger oder Smartphone als Empfänger FGM mit Messung auf Anfrage in Echtzeit, unabhängiger Empfänger (Smartphone)
Produkte CGMS Gold®, iPro™
Kalibrieren nötig? ja
Guardian™, Minilink™ TR
ja
Dexcom G4® Platinum ja
Dexvom G5® Mobile ja
FreeStyle Libre
nein
Hersteller Medtronic
Medtronic
Dexom Dexcom
Abbott
Das Prinzip des CGM beruht auf einem subkutanen Sensor, einem Sender und einem Empfänger. Die Blutglukose diffundiert durch die Gefässwand, sodass es zu einem Equilibrium mit der interstitiellen Glukose kommt. Darum besteht eine gute Korrelation zwischen den Blutzuckerwerten und dem Glukosespiegel im Interstitium. Der Sensor wird mithilfe eines automatischen Injektors eingesetzt und mit dem Sender verbunden, der die Messdaten der interstitiellen Glukose drahtlos auf den Empfänger übermittelt. Dieser erfasst die Daten und kann entweder ein separates Gerät sein oder in einer Pumpe oder heutzutage auch via App auf dem Smartphone integriert sein. Der Sensor misst die interstitielle Glukose alle 1 bis 5 Minuten, der Durchschnittswert wird alle 5 Minuten via Sender an den Empfänger übermittelt. Diese Technologie kam 1999 auf den Markt. Der Sensor erfasst den Glukosewert im Interstitium mittels Oxidation der Glukose durch Glukoseoxidase, wodurch ein elektrisches Signal erzeugt wird. Eine Elektrode auf der Sensorplatine misst den dadurch ausgelösten Stromfluss, welcher linear von der Glukosekonzentration abhängt. Der Sender kodiert und digitalisiert den Durchschnittswert und sendet diesen per Radiowellen beziehungsweise Bluetooth an den Empfänger, der diesen Wert beispielsweise in mmol/l anzeigt. Die erste Sensorengeneration erlaubte die kontinuierliche Glukosemessung und Datenspeicherung über mehrere Tage ohne unmittelbare Auswertung (verblindeter Modus). Die Daten wurden anschliessend übertragen und analysiert (Abbildung 3). Die seit 2001 verfügbare nächste Generation erlaubte die Darstellung der Werte in Echtzeit. Heutzutage können die Glukosedaten des subkutanen Sensors via Bluetooth direkt auf ein Smartphone gesendet werden, wie beispielsweise beim Dexom G5® Mobile, das seit 2015 in den USA und mittlerweile auch in der Schweiz verfügbar ist (Tabelle 1). Die Empfänger können mit einer Insulinpumpe verbunden sein. Dies ist das Prinzip der Closed-loop-Systeme, die auch als «künstliches Pankreas» bezeichnet werden (s. unten). Das künstliche Pankreas besteht aus einem subkutanen Sensor, der kontinuierlich die interstitielle Glukose misst sowie einer Insulinpumpe und insbesondere einem Algorithmus, der die Verbindung zwischen den Sensordaten und der Pumpenfunktion automatisiert. Die jüngste Entwicklung auf dem Markt der interstitiellen Glukosemessung ist das sogenannte FlashGlukose-Monitoring (FGM; FreeStyle Libre). Das FGM erlaubt das Auslesen punktueller Daten auf Anfrage sowie die retrospektive Analyse der zurückliegenden 8 Stunden. Weitere Daten werden erfasst und stehen als Download zur Verfügung. Die Echtzeitmessung des FGM erfolgt über das Scannen des Sensors mithilfe des Empfängers (via Smartphone). Auf dem Smartphonemonitor wird neben dem aktuellen Wert auch die Tendenz des Glukosespiegels mittels Pfeilen mit je nach Geschwindigkeit der Glukosespiegelveränderungen unterschiedlichem Steigungs-/Senkungswinkel angezeigt. Dieses System muss nicht kalibriert werden, und es hat keine Alarmfunktion. Der Sensor
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verbleibt 14 Tage an Ort und Stelle. Baden, Duschen und Schwimmen ist möglich, der Sensor darf aber nur für maximal 30 Minuten und höchstens auf einen Meter Wassertiefe eingetaucht werden. Das FMG ist seit Mai 2016 in der Schweiz auf dem Markt und kann Kindern ab 4 Jahren verordnet werden. Der Nachteil aller genannten Systeme ist die Diskrepanz zwischen dem kapillären Blutzuckerwert und dem Glukosewert im Interstitium, insbesondere bei raschen Veränderungen oder Extremwerten. Es braucht etwa 4 bis 10 Minuten, bis interstitieller und kapillärer Glukosewert nach einer Veränderung wieder equilibiert sind. Die Leistungsfähigkeit verschiedener CGM kann man mithilfe der MARD (mean absolute relative difference) beurteilen, welche die Präzision des CGM-Resultats mit dem tatsächlichen Blutzuckerwert beschreibt. Die MARD lag bei den CGM der ersten Generation in einer Grössenordnung von 15 bis 20 Prozent, mittlerweile liegt sie bei etwa 10 bis 15 Prozent, wenn man alle Blutzuckerniveaus insgesamt betrachtet (20–22). Es wurde jedoch gezeigt, dass sich die Messgenauigkeit im Fall einer Hypoglykämie unter 4 mmol/l bei verschiedenen Geräten mehr oder weniger verschlechtert (MARD: 20–35%). Auch im Falle einer Hyperglykämie über 14 mmol/l ist die Messung weniger genau, sie korreliert jedoch besser mit dem kapillären Wert als bei Hypoglykämie (23). Die Präzision des Flash-GlukoseMonitorings ist mit den CGM vergleichbar (24). Einige Medikamente können die Zuverlässigkeit der Resultate ebenfalls beeinträchtigen. Dazu gehört beispielsweise das Paracetamol, dessen Phenolgruppe ebenfalls von der Sensorelektrode oxidiert wird, wodurch das elektrochemische Signal evoziert wird, was zu einer Überschätzung der Glukosespiegel im Vergleich mit dem tatsächlichen kapillären Wert führt (25). Dies kann zu einer erheblichen Überdosierung des Insulins führen. Beim FreeStyle Libre kann es gemäss Mitteilung des Herstellers durch Azetylsalizylsäure oder Vitamin C zu Beeinträchtigungen der Messgenauigkeit und Unterschätzung des Glukosespiegels kommen.
Insulinpumpen
Die Behandlung mittels subkutaner Insulinpumpe (continuous subcutaneous insulin infusion: CSII) kommt der physiologischen Insulinsekretion am nächsten. Sie erlaubt die gleiche Flexibilität wie multiple Injektionen, jedoch ohne die zahlreichen Nadelstiche. Die Bolusgabe kann an die Lebensmittel der jeweiligen Mahlzeit angepasst werden und sofort, für einen bestimmten Zeitraum oder in zwei Phasen erfolgen (Standardbolus, verzögerter Bolus oder Multiwave- bzw. dualer Bolus). Die Entwicklung von Hilfsmitteln zur Steigerung der Stoffwechselkontrolle bleibt trotzdem eine wichtige Aufgabe, denn mehr als 50 Prozent der jungen Diabetiker erreichen den von der ISPAD (International Society for Paediatric and Adolescent Diabetes) empfohlenen HbA1c-Zielwert < 7,5 Prozent (58 mmol/mol) nicht – auch nicht mithilfe einer Insulinpumpe (26). Es versteht sich von selbst, dass die Kombination von Insulinpumpe und kontinuierlicher Glukosemessung die
Abbildung 3: Verlauf von CGM-Messwerten A: Verlauf über 3 aufeinanderfolgende Tage; Tag 0: grüne Dreiecke; Tag 1: blaue Kreuze; Tag 2: violette Rauten; Tag 3: blaue Sterne. B: Durchschnittswert der Glukosewerte über 3 Tage Während des Aufenthaltes in einem Trainingscamp zeigte das CGM eines Jugendlichen mit Insulinpumpe, dass jeden Tag eine unerwartete Hyperglykämie nach dem Frühstück auftrat, der Hypoglykämien ab 15 Uhr folgten. Nach der Datenanalyse und einem Gespräch mit dem Patienten stellte sich heraus, dass er am Morgen aus Angst vor Hypoglykämien während des Trainings nur eine geringe Dosis schnell wirksames Insulin applizierte. Das Training war am Mittag beendet, vor dem Mittagessen applizierte der Patient die übliche Insulindosis. In der Folge kam es zu Hypoglykämien am Nachmittag und in der Nacht wegen der gesteigerten Insulinsensitivität nach der körperlichen Anstrengung. Wir berieten den Jugendlichen bezüglich der richtigen Dosis am Morgen und empfahlen ihm, die basale Insulingabe seiner subkutanten Insulinpumpe nach dem Sport zu verringern.
Grundlage zur Entwicklung eines künstlichen Pankreas darstellt.
Künstliches Pankreas
Ein künstliches Pankreas soll die automatische Regulation des Glukosespiegels ohne Zutun des Diabetikers ermöglichen. Die Insulinpumpe wird hierbei durch einen Miniaturcomputer gesteuert (ähnlich einem Smartphone) oder einen in die Insulinpumpe integrierten Chip, der die interstitiellen Glukosewerte des Sensors empfängt (Abbildung 4). Die Entwicklung eines künstlichen Pankreas erfolgt Schritt für Schritt (Tabelle 2). Der erste Schritt war die
Medikamente können die Messwerte verfälschen.
Tabelle 2: Aktueller Stand der Entwicklung eines «künstlichen Pankreas»
Schritt 1 Schritt 2 Schritt 3 Schritt 4 Schritt 5
Schritt 6
Insulinpumpen Insulinpumpen mit kontinuierlicher Glukosemessung: SAP (sensor augmented pump therapy) Insulinpumpen mit kontinuierlicher Glukosemessung und automatischem Stopp bei Hypoglykämie Insulinpumpen mit kontinuierlicher Glukosemessung und automatischem Stopp vor einer Hypoglykämie Hybrid-Insulinpumpe mit automatischer Regelung des nächtlichen Basalinsulins sowie der manuellen Eingabe von Mahlzeiten und körperlicher Aktivität am Tag
Hybrid-Insulinpumpe mit automatischer Regelung rund um die Uhr; mit Insulin oder bionisch (Insulin und Glukagon)
verfügbar verfügbar
verfügbar
verfügbar
in klinischen Studien, Markteinführung geplant für 2017 in klinischen Studien
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Dieser Beitrag wurde für die PÄDIATRIE in französischer Sprache verfasst. Die Übersetzung erfolgte durch Dr. Renate Bonifer.
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Abbildung 4: Prinzip des «künstlichen Pankreas» (Abbildung mit freundlicher Genehmigung aus Paediatrica 2016; 27(1): 20).
Entwicklung einer verlässlichen kontinuierlichen Glukosemessung (CGM). Wie bereits ausgeführt, wurden hierfür mehrere Systeme entwickelt, und ihre Zuverlässigkeit steigt mit jeder neuen Gerätegeneration. Der zweite Schritt bestand in der Verbindung der Insulinpumpe mit dem Glukosesensor. Dieses System, das auch als «sensor augmented pump therapy» (SAP) bezeichnet wird, erlaubt dem Patienten nach wie vor die Kontrolle über die Insulingaben, umfasst jedoch zusätzlich eine Art von «Armbanduhr», welche den Glukosespiegel anzeigt. In mehreren Studien konnte gezeigt werden, dass die SAP zu einer Verminderung des HbA1c um 0,5 bis 1 Prozent führen kann; sie muss jedoch während mindestens 80 Prozent der Zeit auch tatsächlich angewendet werden, besser zu 100 Prozent (18). Im nächsten Schritt wird die Steuerung der Insulingaben dem Computer überlassen, der die Insulindosis anhand der vom CGM gelieferten Daten berechnet (Closed-loop-System). Der Einfachheit halber zielten die ersten Closed-loop-Systeme lediglich darauf ab, den nächtlichen Glukosespiegel innerhalb der therapeutischen Zielwerte zu halten, jedoch nicht in die Regulation der Blutzuckerspiegel am Tag einzugreifen, die wesentlich variabler und abhängig von Mahlzeiten und körperlicher Aktivität sind. In einer der ersten Studien mit diabetischen Kindern zeigte sich ein signifikanter Rückgang der nächtlichen Hypoglykämien im Vergleich mit der Therapie mittels konventioneller Insulinpumpen (27). In weiteren Studien wurde belegt, dass der nächtliche Gebrauch des Closed-loop-Systems auch zu Hause, ohne Überwachung durch medizinische Fachpersonen, möglich ist (28, 29). Abrupte Änderungen des Insulinbedarfs, wie sie bei Mahlzeiten und im Sport auftreten, sind das grösste Hindernis auf dem Weg zu einem künstlichen Pankreas. Es bedarf sehr komplexer Algorithmen, um eine gute metabolische Kontrolle zu erhalten. Diese Algorithmen sind bis heute noch nicht perfekt, aber sie können sich an den jeweiligen Patienten anpassen und sich mit der Zeit individuell optimieren. Mit anderen Worten: Das Sys-tem lernt anhand der gemessenen Glukosespiegel während der ersten Tage des Gebrauchs, die Glykämien und den Insulinbedarf dieses Patienten im Voraus zu berechnen. In einer der ersten Studien verglich man drei Monate lang ein derartiges Closed-loop-System mit der SAP
bezüglich der Stoffwechselkontrolle bei Jugendlichen und Erwachsenen mit T1D (30). Das Closed-loop-System wurde jedoch nicht völlig sich selbst überlassen: Tagsüber mussten die Probanden ihren Kohlenhydratkonsum ins System eingeben; man bezeichnet solche Closed-loop-Systeme als «Hybridsysteme». Der verwendete Algorithmus passte die Insulingabe alle 12 Minuten an. Im Vergleich beider Systeme fiel das HbA1c mit dem Hybridsystem um 0,3 Prozent stärker, und Hypoglykämien waren seltener als bei den Probanden mit dem SAP-System (30). Letztlich sollten zwei Hormone (Insulin und Glukagon) durch das künstliche Pankreas sezerniert werden; dieses auch als «bionisches Pankreas» bezeichnete System kombiniert die Insulinsekretion mit der Glukagonsekretion im Fall einer Hypoglykämie (31, 32) – eine verlockende Perspektive und vor allem ein höchst physiologisches System. Zum anderen müssen jedoch zunächst die Nebenwirkungen einer langfristigen Glukagongabe abgeklärt werden. Das am weitesten fortgeschrittene Closed-loop-System, das zurzeit in der Schweiz verfügbar ist, besteht aus einer kontinuierlichen Glukosemessung, kombiniert mit einer Insulinpumpe, welche sich im Fall einer Hypoglykämie automatisch abschaltet (33, 34) oder dies bereits im Fall eines starken Abfalls des Glukosespiegels tut, um einer Hypoglykämie vorzubeugen (35); das letztgenannte System verminderte in einer Studie die Hypoglykämiedauer während der Nacht von 11 auf 4,6 Prozent. Die Pumpe setzt sich automatisch wieder in Gang, sobald der Glukosespiegel wieder angestiegen ist oder nach einem Stillstand von maximal 120 Minuten. Das nächste Closed-loop-System, das auf den Markt kommen soll, wird ein Hybridsystem sein, das die Insulingabe halbautomatisch reguliert; der Diabetiker wird immer noch seine Mahlzeiten und die Kohlenhydratmenge sowie körperliche Aktivität eingeben müssen (36, 37). Die ersten Studienresultate sind vielversprechend: Im Vergleich mit dem SAP zeigten sich ein Rückgang der nächtlichen Hypoglykämiedauer um 72 Prozent und eine Steigerung der normoglykämen Zeitspanne um 55 bis 70 Prozent.
Schlussfolgerungen
Funktionelle Insulintherapie (FIT) und Patientenschulung sowie neue Technologien haben viel für Patienten, behandelnde Ärzte und andere Fachpersonen gebracht. Trotz des offensichtlichen Nutzens der neuen technologischen Hilfsmittel werden diese auch die Komplexität der Diabetestherapie steigern. Ihr Erfolg beruht nicht zuletzt auf umfassenden Kenntnissen des Patienten und seiner Adhärenz bezüglich der empfohlenen Therapie.
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Valérie Schwitzgebel Unité d’endocrinologie et diabétologie pédiatriques Département de l’enfant et de l’adolescent Hôpitaux Universitaires de Genève Rue Willy Donzé 6 1211 Genève 14 E-Mail: Valerie.Schwitzgebel@hcuge.ch
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