Transkript
SCHWERPUNKT
Was ist neu und spannend?
Die «Berner Hitparade» der aktuellen Highlights in der Pädiatrie
Was waren in der letzten Zeit die wichtigsten neuen Aspekte in meinem Fachgebiet? Diese Frage beantworteten sechs Berner Pädiaterinnen und Pädiater aus ihrem ganz persönlichen Blickwinkel für die Endokrinologie, Onkologie, Pneumologie, Gastroenterologie sowie die Intensiv- und Notfallmedizin.
Prof. Christa E. Flück Dr. Eva Maria Tinner
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Übergewicht als Risikofaktor
Das Thema «Übergewicht als Gesundheitsrisiko im späteren Leben» war das erste Highlight, das Prof. Christa E. Flück, Abteilung Pädiatrische Endokrinologie/Diabetologie und Stoffwechsel, Universitätsklinik für Kinderheilkunde am Inselspital Bern, präsentierte. Gemäss einer im April publizierten Studie (1) steigt das kardiovaskuläre Mortalitätsrisiko im späteren Leben mit dem BMI im Alter von rund 18 Jahren. Der Anstieg des Risikos wurde in dieser Studie bereits ab der 50. Perzentile des BMI sichtbar, deutlich erhöht war die Hazard Ratio bei den Adipösen (≥ 95. Perzentile) im Vergleich mit den Schlanken (5.–24. Perzentile). «Wir legen bei unseren Kindern den Grundstein für die Erkrankungen im Erwachsenenalter», mahnte Flück und rief dazu auf, Übergewicht bei Kindern nicht zu verharmlosen, sondern als Gesundheitsgefahr ernst zu nehmen.
Entwarnung für Wachstumshormontherapie
Grossen Wirbel verusachte eine 2012 publizierte Studie, wonach die Behandlung mit Wachstumshormon Mortalität und Krebsrisiko steigern könnte (2). Diese Befürchtung sei nun vom Tisch, sagte Flück. Grundlage für die Entwarnung ist ein Positionspapier internationaler Endokrinologen auf der Basis der gut 30-jährigen Erfahrung mit der Wachstumshormontherapie bei Kindern, das im Februar 2016 publiziert wurde (3). Demnach besteht kein erhöhtes Mortalitätsrisiko aufgrund der Wachstumshormontherapie, und für den Verdacht eines möglicherweise erhöhten Schlaganfallrisikos für Kinder mit Wachstumshormontherapie gebe es nicht genügend Beweise, so die Autoren des Positionspapiers. Auch kardiovaskuläre und metabolische Risiken seien nicht erhöht, ebenso wenig das Risiko für neu auftretende Krebserkrankungen, Tumorrezidive oder sekundäre Neoplasien. Nur bei Kindern mit einem wegen einer anderen Erkrankung erhöhten Krebsrisiko (z.B. Neurofibromatose 1, Down-Syndrom) sei die Datenlage für eine klare Aussage nicht ausreichend. Darum sei es wichtig, die Register weiter-
zuführen und aufmerksam zu sein, sagte Flück. Bei diesen Kindern gelte es, von Fall zu Fall zu entscheiden, ob man eine Wachstumshormontherapie beginnt oder nicht.
Guideline Intersexualität
Nach dem Vorstoss von Patientengruppen, die sich in der Schweiz «teilweise wahrscheinlich mit Recht» nicht korrekt behandelt fühlten, hat die nationale Ethikkommission 2012 eine entsprechende Stellungnahme publiziert (4). Als sehr hilfreich für eine gute Betreuung Intersexueller empfahl Christa E. Flück die kürzlich aktualisierten Guidelines aus Grossbritannien (5): «Diese Guidelines sind wirklich sehr alltagstauglich, und wenn wir uns alle daran halten, ist das wirklich zum Wohl dieser Patienten.» Klar werde in diesen Guidelines auch, dass es eine gute Planung und ein multidisziplinäres Team brauche, um Familien und Betroffene ein Leben lang zu betreuen. Hierbei sei nicht der Arzt, sondern der Psychologe, der sich auf diese Thematik spezialisiert hat, die zentrale Fachperson. Als besonders positiven Aspekt erwähnte Flück, dass auch die Schweiz am europäischen DSDnet (www.dsdnet.eu) beteiligt ist (DSD: differences of sex development).
Weniger toxische Chemotherapie
Über 350 relevante Publikationen sind im vergangenen Jahr in der pädiatrischen Onkologie erschienen. Mit den drei ausgewählten Highlights wolle sie zeigen, dass «wir nicht um der Forschung willen forschen, sondern für die verbesserte Betreuung unserer Patienten», sagte Dr. med. Eva Maria Tinner, Oberärztin pädiatrische Onkologie an den Universitätskinderkliniken am Inselspital Bern. Ein gutes Beispiel ist eine Studie (6), welche beweist, dass man in klar definierten Fällen toxische Medikamente in der Chemotherapie durchaus reduzieren oder gar weglassen kann, ohne den Therapieerfolg wesentlich zu schmälern. In dieser Studie ging es um postoperatives Doxorubicin bei Wilms-Tumor (Nephroblastom) der Stadien II und III (ohne einen besonders gefährlichen histologischen Subtyp). Norma-
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Prof. Philipp Latzin
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lerweise erfolgt eine postoperative Chemotherapie mit Vincristin, Actinomycin und Doxorubicin. In der Studie erhielt die Hälfte der Kinder kein Doxorubicin. Mit oder ohne Doxorubicin lebten die Kinder im Studienzeitraum genauso lange. Es waren etwas mehr Rezidive in der Gruppe ohne Doxorubicin zu verzeichnen. Da man jedoch 22 Kinder mit dem bekanntermassen kardiotoxischen Doxorubicin behandeln müsste, um eines dieser Rezidive zu verhindern, raten die Studienautoren, doch besser auf Doxorubicin zu verzichten, um spätere kardiologische Komplikationen zu verhindern. Diese traten nämlich als Spätfolge bei 5 Prozent der Kinder mit Doxorubicin auf.
Kinasehemmer könnten ALL stoppen
Bei akuter lymphatischer Leukämie (ALL) wurde eine genetische Untergruppe neu definiert, die sogenannte Philadelphia-like ALL (Ph-like ALL). 10 Prozent der Kinder und 25 Prozent der jungen Erwachsenen mit ALL haben den Ph-like-Genotyp. Dieser ist bei konventioneller Therapie mit einer schlechten Prognose verbunden. Nun fand man heraus, dass bei vielen Ph-like ALL eine Aktivierung von Kinasen vorliegt, die man mit verfügbaren Kinasehemmern stoppen könnte (7): «90 Prozent dieser Veränderungen könnten mit Medikamenten behandelt werden, die bereits auf dem Markt sind», sagte Eva Maria Tinner.
Spätfolgen onkologischer Therapien
Die gute Neuigkeit vorweg: In den späten Siebzigerjahren überlebten langfristig rund zwei Drittel aller krebskranken Kinder ihr Tumorleiden, zurzeit seien es mehr als 80 Prozent, so Tinner. Viele von ihnen leiden jedoch an den Spätfolgen von Krebserkrankung und Therapie, wobei die Mortalität «nur die Spitze des Eisbergs» sei. Gemäss Kinderkrebsregister Schweiz (8) ist ihre Mortalität 11-mal höher als bei Gleichaltrigen. Die Todesfälle in den ersten 10 Jahren gehen meist auf das Konto des Grundleidens oder von Tumorrezidiven. Danach fächern sich die Ursachen auf, und Spätfolgen der Therapie verkürzen das Leben. Hierzu gehören kardiale, vaskuläre und respiratorische Erkrankungen sowie Zweittumoren. «Auch nach 30 Jahren sterben Patienten, die einen Tumor hatten, häufiger als Gleichaltrige», sagte Eva Maria Tinner. Ein Silberstreif am Horizont: Je moderner die Therapie, umso seltener seien diese Todesfälle. Auch das habe die aktuelle Auswertung des Kinderkrebsregisters gezeigt.
Allergieprävention durch frühes Zufüttern
Gleich vier Highlights präsentierte Prof. Dr. phil. Dr. med. Philipp Latzin, Abteilungsleiter pädiatrische Pneumologie am Universitätskinderspital Bern. Eines davon teilte er mit Dr. med. Susanne Schibli, Pädiatrische Gastroenterologie Bern, welche die gleiche Thematik auch als gastroenterologisches Highlight gewählt hatte. Während man früher bei Säuglingen das Vermeiden potenziell allergener Nahrungsmittel, wie beispiels-
weise Erdnüsse oder Eier, empfahl, gilt heute das Gegenteil. Das frühe Anbieten vielfältiger Beikost kann offenbar vor Nahrungsmittelallergien schützen. Erstmals gezeigt wurde dies für Erdnüsse in der LEAPStudie bei Kindern mit einem hohen Allergierisiko (9), nun auch für andere Lebensmittel. In die EAT-Studie (10) wurden Kinder entweder bis zum Alter von 6 Monaten ausschliesslich gestillt, oder sie erhielten ab dem 3. Lebensmonat nach und nach zusätzlich pro Woche 2 Gramm Kuhmilchjoghurt (immer das erste neu eingeführte Lebensmittel) sowie in beliebiger Reihenfolge der Einführung Erdnusspaste, gekochtes Ei, Sesampaste und weissen Fisch. Als letztes potenziell allergenes Lebensmittel und frühestens ab dem 4. Monat kam Weizen hinzu. Nur rund ein Drittel der Eltern in der Gruppe mit dem Zufüttern hielt sich an das Studienprotokoll. Berücksichtigte man nur die Kinder, welche die neuen Lebensmittel tatsächlich wie geplant bekommen hatten (per-protocol analysis), zeigten sich bei den Kindern mit frühem Zufüttern weniger Nahrungsmittelallergie im Alter von 1 bis 3 Jahren (2,4 vs. 7,3%), hauptsächlich wegen weniger Erdnuss- und Eiallergien.
Neue Medikamente gegen zystische Fibrose
Seit zwei Jahren ist in der Schweiz mit Ivacaftor ein Medikament auf dem Markt, dass bei einer seltenen Form der zystischen Fibrose (CF) wirksam ist. Es sind jedoch nur zirka 1 Prozent der CF-Patienten Träger entsprechender Mutationen im CFTR-Gen (cystic fibrosis transmembrane conductance regulator). In der Schweiz seien das zurzeit genau sieben Personen, berichtete Philipp Latzin. In den USA und der EU bereits zugelassen ist nun ein neues Medikament, das sich gegen eine viel häufigere Mutation richtet (dF508del). 30 bis 50 Prozent aller CF-Patienten haben diese Mutation. Es handelt sich um eine Fixkombination von Ivacaftor und Lumacaftor (Orkambi®) (11). «Dadurch wird sich die Behandlung von CF-Patienten massiv verändern», sagte Latzin. Abhängig von der Mutationsklasse gibt es verschiedene Medikamente, die entweder schon zugelassen sind oder bald zugelassen werden. Neben den beiden genannten Substanzen gehört hierzu auch das Ataluren, das in der EU für die Indikation CF im Zulassungsverfahren ist.
Probiotika für die Lunge?
Die Lunge ist, entgegen früherer Ansicht, nicht steril. Dass es auch ein Mikrobiom der Lunge gibt und sich dieses zwischen Gesunden und Asthmatikern unterscheidet, ist seit einigen Jahren bekannt. Nun wurde gezeigt, dass das Keimspektrum der frühen Besiedelung der Lunge mit dem Risiko für bestimmte Lungenkrankheiten assoziiert ist (12). Wie beim Mikrobiom des Darms haben Antibiotikabehandlungen einen Einfluss auf die Zusammensetzung des Mikrobioms der Lunge. Das Team von Philipp Latzin ging dieser Frage bei CF-Kindern nach und konnte zeigen, dass sich das Mikrobenspektrum nach einer Antibiotikatherapie verschiebt und der Anteil der «guten» Moraxellakeime zurückgeht (13). So wie man mittlerweile nach einer Antibiotikatherapie standardmässig Probiotika für den
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Darm verordne, werde man das auch einmal für die Lunge tun, prophezeite der Pneumologe.
Gene, Umwelt und Asthma
Abhängig vom genetischen Hintergrund unterscheidet sich das Risiko für späteres Asthma. Die Zusammenhänge sind jedoch komplexer als früher angenommen. So ergab eine kürzlich publizierte Studie, dass die gleichen Gene, die mit einem Asthmarisiko einhergehen, auch besonders empfänglich für präventive Strategien, wie den bekannten «Bauernhofeffekt», machen (14). Bereits vor drei Jahren hatte ein anderes Team zeigen können, dass das Asthmarisiko von Kindern mit entsprechender genetischer Konstellation auch davon abhing, ob sie Infektionen mit Rhinoviren durchmachen oder nicht, wobei sie gleichzeitig aufgrund ihrer Gene besonders anfällig für diese Infektionen sind (15). Doch es zeigten sich noch weitere Effekte: «Abhängig von dem genetischen Hintergrund sind ältere Geschwister entweder ein Risiko für obstruktive Bronchitis oder möglicherweise eher ein Schutz», berichtete Latzin. Sollten sich derartige Zusammenhänge künftig auch für andere Risikofaktoren und Atemwegsinfektionen bestätigen, würde dies die Präventions- und Therapiestrategien verändern.
Funktionelle GI-Beschwerden besser definiert
Die Publikation der ROME-IV-Kriterien für funktionelle gastroenterologische Störungen nach Altersgruppen (16, 17) empfahl Dr. med. Susanne Schibli, Leitende Ärztin im Team Pädiatrische Gastroenterologie, Hepatologie und Ernährung, Universitätsklinik für Kinderheilkunde, Inselspital Bern. Sie seien im Gegensatz zu früheren Versionen gut lesbar und verständlicher. Die Definition der funktionellen Störungen wurde neu formuliert. Während der Begriff «funktionell» früher als Ausschluss organischer Ursachen definiert wurde, stellt man nun symptombasierte Diagnosekriterien in den Vordergrund. Dies spiegelt sich auch darin wider, dass die frühere Definition «keine Evidenz für organische Erkrankungen» durch die weichere Formulierung «nach angemessener medizinischer Evaluation können die Symptome nicht auf eine andere medizinische Ursache zurückgeführt werden» ersetzt wurde. Zudem wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass funktionelle Beschwerden auch parallel zu anderen Erkrankungen mit gastroenterologischen Symptomen vorkommen können. Für die Praxis besonders hilfreich findet Schibli pathophysiologische Modelle und Schaubilder, in denen sämtliche Faktoren dargestellt sind, die zu funktionellen gastrointestinalen Beschwerden beitragen können. Durch diese Darstellung werde die Akzeptanz für die Diagnose funktionelle Beschwerden erhöht, «weil nicht mehr der Eindruck entsteht, wir wüssten nicht, was das Kind hat», so die Referentin.
Mit Gluten früh oder spät beginnen? Egal!
Die Frage, ab wann man welche Nahrungsmittel am besten als Beikost einführt, ist ein Dauerbrenner in der pädiatrischen Praxis. Neben den bereits in den
oben erwähnten Studien genannten Nahrungsmitteln gilt dies in besonderem Masse für das Gluten. Man vermutete bisher ein «window of opportunity» zwischen der 17. und 26. Lebenswoche. In diesem Zeitraum sollte es bezüglich des Zöliakierisikos am günstigsten sein, mit glutenhaltigen Lebensmitteln zu beginnen. Diese Vermutung hat sich in prospektiven Studien jedoch nicht bestätigt. In den aktuellen Empfehlungen der ESPGAHN (European Society for Pediatric Gastroenterology, Hepatology, and Nutrition) heisst es nun, dass man Gluten an jedem beliebigen Zeitpunkt zwischen dem 4. und 12. Lebensmonat einführen kann, ohne das Zöliakierisiko zu beeinflussen. Nur hohe Glutenmengen sollte man im Säuglingsalter vermeiden (18). Grundlage der neuen Empfehlung sind unter anderem zwei Studien, die mit Kindern mit hohem Zöliakierisiko durchgeführt wurden (19, 20). In beiden Studien erhielt eine Gruppe früh Gluten (vor dem 6. Lebensmonat), die andere erst später (ab 7. bis 10. bzw. ab 12. Monat). In beiden Fällen änderte sich nichts Prinzipielles am Zöliakierisiko. Bei den Kindern mit der frühen Glutengabe war eine Zöliakie in Alter von 2 Jahren zwar etwas häufiger, im Alter von 5 Jahren gab es aber keinen statistisch signifikanten Unterschied mehr. Wer Zöliakie bekommen soll, bekommt sie letztlich offenbar unabhängig davon, wann die glutenhaltige Ernährung beginnt. Auch ein zweiter, weitverbreiteter Glaube wurde erschüttert: Stillen hatte keinen Einfluss auf das Zöliakierisiko.
Intensivmedizin: neue Guideline und ein Widerspruch
Widerspruch gegen eine viel beachtete Publikation formulierte der Intensivmediziner PD Dr. med. Bendicht Wagner, Abteilungsleiter im Team Intensivbehandlung an der Universitätsklinik für Kinderheilkunde, Inselspital Bern. Man diskutiert seit geraumer Zeit, wie intensiv man Kinder mit hämolytisch-urämischem Syndrom (HUS) beziehungsweise STEC-HUS (Shigatoxin-produzierende E. coli) rehydrieren sollte. Üblicherweise supplementierte man nur so viel Flüssigkeit, bis das Ausgangskörpergewicht wieder erreicht ist. Andere meinen, man solle rascher und über das Ausgangsgewicht hinaus supplementieren. In einer Studie verglich man nun eine historische Kontrollgruppe (2006–2009) mit einer «volume expansion group» (2012–2014), bei der man rascher rehydrierte und am Ende um 7 bis 10 Prozent über dem Körpergewicht zuvor lag. Dies sei besser für die Patienten, meinen die Autoren der Studie (21). Bendicht Wagner ist davon nicht überzeugt. Die Patienten in der historischen Kontrollgruppe seien schwerer krank gewesen, was zu einer Überschätzung des therapeutischen Effekts in der «volume expansion group» führte. Sein Rat: Abwarten und bis auf Weiteres bei der alten Empfehlung bleiben. Eine gute Sache sei hingegen die neue Sepsisdefinition bei adulten Patienten, welche nicht mehr auf dem infektbegleitenden «Systemic Inflammatory Response»-Syndrom, sondern auf infektinduzierten Organdysfunktionen beruht (22). Hilfreich sei auch ein
Dr. Susanne Schibli PD Dr. Bendicht Wagner
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Dr. Daniel Garcia
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neues, einfaches Sepsis-Screening-Tool, der «quick SOFA-Score» (qSOFA). Sind zwei der drei folgenden Kriterien erfüllt, droht ein Schock beziehungsweise eine schlechtere Prognose: Atemfrequenz über 22/Minute, verändertes Bewusstsein und systolischer Blutdruck unter 100 mmHg. Diese Kriterien könne man mithilfe altersangepasster Grenzwerte auch auf Kinder anwenden, sagte Wagner.
Notfallmedizin hinterfragt vermeintliche Gewissheiten
Selbstbewusst bezeichnete Dr. med. Daniel Garcia, Leiter des Kinder- und Jugendnotfallzentrums am Universitätsspital Inselspital Bern, die pädiatrische Notfallmedizin als «die Summe der spannendsten Anteile der übrigen Fachgebiete». Highlights im klassischen Sinne produziere man zwar nicht, aber die noch junge Spezialdisziplin erlaube einen frischen Blickwinkel auf vermeintliche Standards, meinte der Notfallmediziner. In diesem Sinn drehe sich eine seiner Lieblingsstudien der letzten Jahre um das Aufdecken einer allzu fest verankerten «Monitor-Gläubigkeit» (23). In den letzten 20 Jahren stieg die Hospitalisationsrate wegen Bronchiolitis steil an, ohne dass sich etwas an der Prognose für die Patienten änderte. Auch ist man sich nicht einig, wo genau der Sättigungsgrenzwert für zusätzlichen Sauerstoff liegt. In unterschiedlichen Guidelines schwankt er zwischen 90 und 95 Prozent, ohne dass man wirklich weiss, ob der jeweilige Grenzwert für das Risiko relevant ist, dass aus einer relativ leichten eine schwere Bronchiolitis wird. In die Studie wurden Kinder mit Bronchiolitis und einer Sauerstoffsättigung von mindestens 88 Prozent eingeschlossen (von einer in die Studie eingeweihten Krankenschwester). Bei der Hälfte der Kinder wurden die Sättigungsmonitore anschliessend manipuliert, sodass sie 3 Prozent mehr Sättigung angaben, als tatsächlich gemessen wurde. Die danach hinzugezogenen Notfallmediziner mussten wie üblich entscheiden, ob das Kind hospitalisiert werden sollte. Mit den korrekten Monitoren wurden 41 Prozent der Kinder hospitalisiert, mit den manipulierten Monitoren nur 25 Prozent. Geschadet hat das Letzteren jedoch nicht, denn Komplikationen waren bei ihnen nicht häufiger, und sie kamen auch nicht häufiger notfallmässig zurück ins Spital. «Wir sollten nicht nur die Maschinen anschauen, sondern auch die Kinder, mit den Eltern reden und dann entscheiden», empfahl Garcia. Eine weitere Weisheit, die von Ärztegeneration zu Ärztegeneration ohne Hinterfragen weitergegeben wird, ist die Massgabe, dass Kinder auch bei einer ambulanten Analgosedation möglichst nüchtern sein sollten. Die retrospektive Auswertung von über 100 000 Fällen zeigte nun, dass das offenbar gar nicht so wichtig ist. Unter insgesamt 107 947 Fällen (keine Intubierten oder Patienten mit laryngealer Maske) war der Nüchternstatus etwa in einem Viertel nicht gegeben (n = 25 401). Nüchtern hiess in diesem Fall: keine feste Nahrung seit mindestens 8 Stunden, keine nicht klaren Flüssigkeiten seit mindestens 6 Stunden und keine klaren Flüssigkeiten seit mindestens 2 Stunden. Die Palette der Betäubungsmittel war breit, sie umfasste
unter anderem Ketamin, Propofol, Chloralhydrat, Des-
medotomidin und Thiopental.
Insgesamt wurden 10 Aspirationen und 75 schwere
Komplikationen gezählt. Ihre Häufigkeit war jedoch
unabhängig davon, ob die Kinder nüchtern waren
oder nicht. Sicher sei es noch zu früh, diese Resultate
zu verallgemeinern, sagte Garcia. Für ihn sei es je-
doch allemal ein Highlight, wenn vermeintlich sinn-
volle Standards infrage gestellt würden.
Renate Bonifer
Quelle: Session «Pädiatrische Highlights – Berner Hitparade». Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie in Bern, 9. bis 10. Juni 2016.
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