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SCHWERPUNKT
Phytotherapie in der Praxis
Ein Interview mit Beatrix Falch und Lucien Simmen
Pflanzliche Heilmittel geniessen gegenüber der Schulmedizin einen Sympathiebonus. Im folgenden Gespräch erklären die Pharmazeutin Dr. sc. nat. Beatrix Falch, Vizepräsidentin der Schweizerischen Medizinischen Gesellschaft für Phytotherapie (SMGP), und der Kinderarzt Dr. med. Lucien Simmen aus Brugg, der zurzeit die Weiterbildung in Phytotherapie absolviert, was Kinderärztinnen und Kinderärzte darüber wissen sollten.
P ÄDIATRIE: Immer mehr Eltern bevorzugen pflanzliche Heilmittel zur Behandlung ihres Kindes. Wie erklären Sie sich das? Dr. sc. nat. Beatrix Falch: Allgemein beobachte ich einen Trend zurück zur Natur. Urban Gardening und Bioprodukte sind hoch im Kurs. Die Skepsis gegenüber chemischen Mitteln hat zugenommen. Eltern schätzen Phytotherapeutika, weil sie eher mild wirken und bei Kindern vielseitig einsetzbar sind. Dr. med. Lucien Simmen: Viele Eltern greifen bei einfachen Erkrankungen ihres Kindes auf Erfahrungswissen in der Familie oder ihrer Bekanntschaft zurück. Sie behandeln mit Tees, Wickeln oder Salben auf pflanzlicher Grundlage. Bei Unsicherheiten kommen sie zu uns in die Sprechstunde. Mein Wissen über die Phytotherapie erlaubt mir, die Eltern bezüglich ihrer Hausmittel zu beraten und die Behandlung ihres Kindes bei Bedarf mit schulmedizinischen Therapeutika zu ergänzen.
Wo liegt der Unterschied in der Wirkungsweise zwischen Phytotherapeutika und chemisch-synthetischen Arzneimitteln? Simmen: Pflanzliche Heilmittel sind Vielstoffgemische, die weniger spezifisch wirken als schulmedizinische Arzneimittel. Deshalb ist ihr Nebenwirkungspotenzial geringer. Nicht zuletzt sprechen sie auch die emotionale Seite der Patienten an. Falch: Während schulmedizinische Mittel die Symptome oft relativ schnell bekämpfen, wirken viele pflanzliche Heilmittel mittel- bis langfristig, aber dafür manchmal nachhaltiger, weil sie nicht nur die Symptome lindern, sondern die Ursachen eines gesundheitlichen Problems angehen. Ich denke hier zum Beispiel an den Eisenmangel. In der Schulmedizin verabreichen wir Eisenpräparate. Mit der Gabe von Brennnessel- und Löwenzahnkraut verbessern wir hingegen die Aufnahme des Eisens und bekämpfen den Mangel so langfristig. Bei der Phytotherapie braucht es aber oft mehr Geduld.
Weshalb empfehlen Sie den Einsatz von Phytotherapeutika bei Kindern? Falch: Gerade weil Kinder über enorme Selbstheilungskräfte verfügen, reichen mild wirkende pflanzliche Heilmittel oft aus, um den Heilungsprozess zu begünstigen. Die Körperfunktionen sind bei Kindern noch im Aufbau und lassen sich leichter beeinflussen als bei Erwachsenen. Simmen: Ein weiterer Aspekt der pflanzlichen Arzneimittel ist die Tatsache, dass das kranke Kind bei ihrem Einsatz Zuwendung erhält, sei dies beim Auftragen einer Brustsalbe oder beim Anbringen eines Wickels. Das ist für die Eltern-Kind-Beziehung sehr wichtig.
In der Schweiz sind heute über 600 pflanzliche Medikamente zugelassen. Warum werden diese in der kinderärztlichen Praxis immer noch relativ selten eingesetzt? Falch: Für pflanzliche – wie übrigens auch für schulmedizinische – Fertigpräparate gibt es kaum Studien mit Kindern unter 12 Jahren beziehungsweise unter 18 Jahren. Auf dem Beipackzettel zahlreicher Präparate wird daher von der Anwendung bei Kindern unter 12 Jahren abgeraten. Phytotherapie wird in der Pädiatrie daher oft im «off-label use» genutzt. Simmen: Viele Kinderärzte kennen sich mit pflanzlichen Heilmitteln zu wenig aus, weil Phytotherapie kein fester Bestandteil in der medizinischen Ausbildung ist. Einige pflanzliche Mittel werden wohl in Form von Fer-
Dr. Beatrix Falch, Vizepräsidentin SMGP
Dr. med. Lucien Simmen, Brugg
Kasten 1: Wichtige Informationen
Auf der Website der Schweizerischen Medizinischen Gesellschaft für Phytotherapie (www.smgp.ch) finden interessierte Ärztinnen und Ärzte folgende Informationen: • zugelassene Kinderdosierungen der von Swissmedic registrierten Phytotherapeutika • Empfehlungsliste aller ätherischen Öle, die für Babys und Kleinkinder geeignet sind • SL-Liste der Phytotherapeutika • Arzneimittelliste mit Tarif (ALT) • Liste der Phyto-Referenzapotheken.
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Kasten 2: Tipps für die Zubereitung von pflanzlichen Tees Arzneipflanzentees sollte man nur 2 bis 3 Minuten ziehen lassen. In dieser Zeit werden die meisten Wirkstoffe (Flavonoide, Bitterstoffe, ätherische Öle) extrahiert. Lässt man den Tee länger ziehen, werden vor allem die Gerbstoffe freigesetzt. Dadurch wird der Tee bitter, was die Compliance bei Kindern reduziert. Ausserdem können Gerbstoffe mit den anderen pflanzlichen Inhaltsstoffen interagieren. Wenn die Gerbstoffe aber zum Beispiel für Waschungen bei Juckreiz oder zur Behandlung von Durchfall erwünscht sind, lässt man den Tee 5 bis 10 Minuten ziehen.
Tabelle 1: Auswahl an pflanzlichen Heilmitteln bei Erkältungskrankheiten
Infektionen und Fieber
• vorbeugend, unterstützend: Echinacea und/oder Sambucus-Urtinktur oder Echinacin®, Echinaforce® junior, Echinamed®, Esberitop®
• Fiebertees für Säuglinge und Kinder: Holunderblüten, Lindenblüten, Schlüsselblumenblüten, Silbermänteliblätter, Mädesüssblüten
Nasen-Ohren-Erkrankungen • Sinupret® (Tropfen oder Sirup) • ausgewählte ätherische Öle zum Inhalieren oder in Salben zum Einreiben (s. Interview) • Gelodurat® • Thymian und/oder Kamille zum Baden/zur Inhalation • Zwiebeln im Zimmer oder Zwiebelwickel (z.B. Ohr)
Von allen zugelassenen pflanzlichen Fertigpräparaten weisen nur gerade 130 eine Kinderdosierung aus. Was empfehlen Sie, wenn bei Phytotherapeutika Angaben zur Kinderdosierung fehlen? Falch: Vorausgesetzt, dass sich das Phytotherapeutikum für Kinder eignet, setze ich es nach folgender Faustregel ein: In den ersten 2 Lebensjahren maximal ein Viertel, im 3. bis 7. Lebensjahr maximal ein Drittel, im 8. bis 12. Lebensjahr die Hälfte und im 13. bis 16. Lebensjahr drei Viertel der Erwachsenendosis. Ab dem 17. Lebensjahr ist die Erwachsenendosis möglich. Bei Tinkturen und Urtinkturen stützt man sich auf Erfahrungswerte. Man kann dem Kind dreimal pro Tag so viele Tropfen verabreichen, wie es alt ist. Der Hersteller Ceres gibt für seine Urtinkturen generell weniger Tropfen als Dosis an, sodass ich davon nur ein bis zwei Tropfen pro Dosis für Kinder empfehle, unabhängig vom Alter.
Für welche Indikationsgebiete in der Pädiatrie eignen sich pflanzliche Arzneimittel besonders gut? Simmen: Ich setze sie vor allem bei Infektionen der Atemwege, Hauterkrankungen, gastrointestinalen Erkrankungen und psychovegetativen Befindlichkeitsstörungen ein.
Erkrankungen im Mund- und Rachenraum
• Ribes-nigrum-Gemmospray, Pelargonium-sidoides-Halsspray, Kamillosan® Mund- und Rachenspray, A. Vogel/Echinamed Halsschmerzspray
• Malven-, Linden-, Kamillenblüten oder Salbeiblätter als Tee, löffelweise alle 2 bis 3 Stunden geben
• Myrrhentinktur • Isländisch Moos (Isla-Moos®)
Erkrankungen der unteren Atemwege
• Fertigpräparate: Bronchosan® Hustentropfen, DemoPectol®, Kaloba®, Prospanex®, Sanabronch®, Santasapina®, Wala Pulmonium®
Quelle: Workshop Phytotherapie an der SGP-Jahrestagung in Bern 2016
Tabelle 2: Auswahl an pflanzlichen Heilmitteln bei Neurodermitis und bei Milchschorf/Kopfgneis
Waschungen und Bäder
• Stiefmütterchenkraut, Storchenschnabelkraut, Haferstroh, Thymiankraut, Kamillenblüten, Hamamelisblätter/-zweige oder -wasser, Schwarztee, Eichenrinde
Öl zum Einmassieren (Kopfgneis)
• z.B. Weleda Calendula Babyöl
γ-Linolensäure-haltige
• Nachtkerzenöl (z.B. Epogam®), Borretschsamenöl, Ägyptisches Schwarzkümmelöl
Fertigpräparate
• Omida® Cardiospermum Salbe, Hametum® Creme oder Salbe, Parsenn Herpes Creme
Quelle: Workshop Phytotherapie an der SGP-Jahrestagung in Bern 2016
tigpräparaten eingesetzt, aber das Potenzial der Phytotherapie wird noch lange nicht ausgeschöpft, was sehr schade ist. Die Phytotherapie bereichert unser ärztliches Wissen und stärkt die Beziehung zu den Familien, die zu uns in die Sprechstunde kommen. Kinderärzte, die über Wissen in der Phytotherapie verfügen, können Eltern bei der Anwendung ihrer Hausmittel besser beraten.
Phytotherapeutika in Form von Tinkturen oder Sirup enthalten oft Alkohol. Was gilt es bei der Abgabe dieser Arzneimittel an Kinder zu beachten? Falch: Swissmedic empfiehlt, den Wert von 3 g Ethanol pro Dosis für Kinder nicht zu überschreiten. Im 1. Lebensjahr ist die Eliminationsgeschwindigkeit von Alkohol sehr langsam, zwischen dem 2. und dem 7. Lebensjahr vergleichsweise hoch. Um das Verdampfen des Alkohols zu fördern, gibt man alkoholhaltige Phytopharmaka am besten in eine grosse Tasse. Durch Hin- und Herschwenken und dann noch eine Viertelstunde Stehenlassen verdampft der grösste Teil des Alkohols. Der Restalkoholgehalt entspricht dann dem, was der Körper bei der Nahrungsaufnahme produziert. Für Kinder gut geeignet sind auch die Urtinkturen von Ceres, da von diesen nach Angabe des Herstellers nur ein bis zwei Tropfen benötigt werden. Die Pflanzenextrakte von Phytolis auf Glyzerinbasis sind alkoholfrei und für Kinder ebenfalls ideal.
Gibt es Phytotherapeutika, die nicht für Kinder geeignet sind? Falch: Ja, einige pflanzliche Heilmittel sind bei Kindern nicht indiziert, zum Beispiel die Traubensilberkerze, die bei Wechseljahrbeschwerden eingesetzt wird. Ausserdem rate ich von Pflanzen ab, die erst seit kurzer Zeit bei uns auf dem Markt sind, wie zum Beispiel Rosenwurz. Hier haben wir noch zu wenig Erfahrung bei Kindern.
Manche Phytotherapeutika enthalten ätherische Öle. Diese können Allergien auslösen. Was gilt es zu beachten? Falch: Wichtig ist zu wissen, dass es auf die Pflanzenart und -sorte, also den Chemotyp, ankommt. So gibt es zum Beispiel verschiedene Sorten vom Thymian.
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Bei Kindern unter 3 Jahren sollten grundsätzlich nur phenol- und ketonfreie ätherische Öle eingesetzt werden, die keine Krämpfe und nur selten Allergien auslösen. Simmen: Eltern können die Verträglichkeit von ätherischen Ölen vor der Anwendung testen, indem sie einen Tropfen des verdünnten Öls auf der Innenseite des Ellenbogens ihres Kindes verreiben. Tritt nach mindestens 24 Stunden keine Hautreaktion auf, verträgt das Kind die Salbe, Creme oder Lotion mit den ätherischen Ölen gut.
Kasten 3: Weiterbildung in Phytotherapie
Die Schweizerische Medizinische Gesellschaft für Phytotherapie (SMGP) bietet einen dreijährigen Weiterbildungszyklus für Ärztinnen und Ärzte in Phytotherapie an, der zum Fähigkeitsausweis Phytotherapie (SMGP) führt und von der FMH/SIWF anerkannt ist. Die Ausbildung besteht aus einem zweitägigen Grundkurs, acht indikationsbezogenen Kursen, je einem Kurs zu klinischen Studien und zum Thema «Phytotherapie im komplementärmedizinischen Umfeld» sowie pharmakobotanischen Exkursionen und den jährlich stattfindenden PhytotherapieTagungen. Weitere Informationen: www.smgp.ch
Wie sieht es mit der Kassenpflicht bei pflanzlichen Heilmitteln aus? Falch: Etwa 90 pflanzliche Arzneimittel werden von der Grundversicherung oder der Zusatzversicherung bezahlt. Davon sind aber einige nicht für Kinder zugelassen.
Das sind ja nicht gerade viele. Was bedeutet das für die Praxis? Falch: Viele in der Pädiatrie benötigten Wirkstoffe sind nicht als Fertigarzneimittel in der gewünschten Dosierung oder galenischen Form kommerziell erhältlich. Deshalb empfehle ich Kinderärzten, vermehrt mit Magistralrezepturen zu arbeiten, die Wirkstoffe der «Arzneimittelliste mit Tarif (ALT)» enthalten. Die Kosten dieser Rezepturen werden von der Grundversicherung gedeckt. Simmen: Ich verschreibe meinen kleinen Patienten zunehmend Magistralrezepturen und mache gute Erfahrungen damit. Sie bieten den grossen Vorteil, dass
ich die Arzneiform und die Zusammensetzung auf die individuelle Situation des Kindes anpassen kann. Für manche Magistralrezepturen verwende ich ätherische Öle zusammen mit Basiscremes wie zum Beispiel Remederm® oder Linola®. Auch bei diesen Magistralrezepturen übernimmt die Krankenkasse die Kosten. Bei Magistralrezepturen ist die Zusammenarbeit mit Apotheken, die sich auf die Phytotherapie spezialisiert haben, eine wichtige Voraussetzung – dieses Glück habe ich in Brugg.
Wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Susanna Steimer Miller.
Workshop: Einsatz der Phytotherapie in der Kinderarztpraxis. Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie in Bern, 9. bis 10. Juni 2016.
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