Transkript
SCHWERPUNKT
Essstörung wegen Zähneputzen
Über Risiken und Nebenwirkungen einer gut gemeinten Massnahme
Allenthalben wird empfohlen, mit dem Erscheinen der ersten Zähnchen auch mit dem Zähneputzen bei Kindern anzufangen. Ob das frühe Zähenputzen tatsächlich wichtig ist und was Eltern ihren Kindern mitunter antun, um es zu erzwingen, darüber berichtete KD Dr. med. Sepp Holtz an der SGP-Jahrestagung in Bern.
Das Video ist das Stethoskop des Entwicklungspädiaters», so KD Dr. med. Sepp Holtz, Oberarzt Entwicklungspädiatrie, Universitätskinderspital Zürich. Seit dem Siegeszug der Smartphones ist es an der Tagesordnung, dass Eltern ihm per Video Einblick ins häusliche Familienleben gewähren. Doch was er vor einiger Zeit zu sehen bekam, war selbst für den erfahrenen Pädiater schwere Kost. Als er es den Kolleginnen und Kollegen im Auditorium vorführt, geht ein ungläubiges Raunen durch den Saal: Ein Vater fixiert mit seinen Beinen seinen 14 Monate alten Sohn am Boden liegend, das Kind schreit und windet sich, während der Vater versucht, ihm irgendwie die Zähne zu putzen. «Das war eines der schlimmsten Videos, die ich je in meinem Leben gesehen habe», sagte Holtz. Die Eltern kamen zu Holtz, weil der Knabe nach zunächst ganz normaler Entwicklung des Essverhaltens ab einem Alter von 9 Monaten nur noch nachts seinen Schoppen trinken wollte und den Brei sowie jegliche Fütterungsversuche seitens der Eltern verweigerte. Er ernährte sich schliesslich nur noch von Juniormilch – in diesem Fall ein glücklicher Umstand, der das physische Gedeihen des Kindes sicherstellte. Einiges war bereits abgeklärt worden, bevor Sepp Holtz aufgrund seiner langjährigen Erfahrung die entscheidende Frage stellte: Wie es denn mit dem Zähneputzen sei. Ganz schlecht, berichtete der Vater und schickte ihm kurz darauf das Video. Holtz riet zu drei einfachen Massnahmen: Das Kind bekam einen eigenen Stuhl während des Essens. Es wurde nicht gefüttert, sondern sollte selbstständig nach Nahrung verlangen. Und: Kein Zähneputzen für die nächste Zeit! Bereits nach einem Monat war das Problem gelöst.
Rabiate Ratschläge von Zahnfachleuten
«Das waren keine schlechten Eltern», betonte Holtz. Sie hätten einfach nur das Beste für ihr Kind gewollt und seien dabei weit über das Ziel hinausgeschossen. Kinderzahnärzte und Dentalhygienikerinnen machten Eltern häufig auch geradezu Angst vor zu wenig Zahnhygiene im Kleinkindalter, und ihre Ratschläge, wie
man die Kleinen zur Kooperation bewegen könnte, sind mitunter rabiat. Eltern berichteten Holtz, dass Zahnfachleute ihnen geraten hätten, dem Kind im ersten Jahr einmal, im zweiten zweimal und im dritten Jahr dreimal pro Tag die Zähne zu putzen. Falls das Kind nicht mitmachen wolle, sollte man es «kurz in den Schwitzkasten nehmen» oder gar, «wenn es den Mund nicht öffnet, kurz an den Beinen hochhalten».
Abbildung: Entwicklung von Fähigkeiten im Zusammenhang mit dem Essen (nach Jenni O, Holtz S et al., Eidgenössischer Ernährungsbericht 2015; gem. Daten aus Zürcher Longitudinalstudien)
Übertriebene Sorge ums Zähneputzen
Dabei sei das Zähneputzen in diesem Alter gar nicht das Wesentlichste der Kariesprophylaxe, erläuterte Holtz. Viel entscheidender ist beispielsweise, dass die Zähne nicht ständig mit Zucker in Kontakt sind und keine Fläschchen mit zuckerhaltigen Flüssigkeiten mit ins Bett gegeben werden. Topisches Fluorid (Kinderzahncreme; die früher üblichen Fluoridtabletten gelten nicht mehr als optimal) beziehungsweise die Fluoridierung des Salzes oder des Trinkwassers ist ebenfalls wichtiger als das Zähneputzen im Kleinkindalter. Darüber hinaus ist bekannt, dass Kinder aus Familien mit einem niedrigen sozioökonomischen Status sowie Kinder von Eltern, die selbst kariöse Zähne haben, ein höheres Kariesrisiko haben. Zähne nicht zu putzen, sei hingegen kein hohes Risiko, sagte Holtz. Wie andere Dinge auch, sollte das Kind das Zähneputzen stressfrei durch spielerisches Nachahmen lernen dürfen. Ab wann ein Kind motorisch in der Lage ist, mit einer Zahnbürste umzugehen, kann man anhand bekannter Daten abschätzen (s. Abbildung). Es dürfte sicher nicht vor dem Zeitpunkt sein, ab dem es mit einem Löffel essen kann.
Renate Bonifer
Quelle: Referat von KD Dr. med. Sepp Holtz: «Essverhalten von Kleinkindern aus entwicklungspädiatrischer Sicht» am Satellitensymposium Milupa SA «Von Anfang an richtig ernährt, die Bedeutung der ersten 1000 Tage». Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie in Bern, 9. bis 10. Juni 2016.
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