Transkript
SCHWERPUNKT
Stationäre Therapie für psychisch belastete Eltern
Und die betroffenen Kinder?
Das Menschsein wird in den ersten Lebensjahren massgeblich über die Beziehung zu den wichtigsten Bezugspersonen vermittelt. Was geschieht, wenn diese wichtige frühe Beziehung, dieses entwicklungsnotwendige Bindungsmilieu durch schwere psychische Erkrankungen der Eltern beeinträchtigt wird? Was geschieht, wenn die wichtigste Bezugsperson eine stationäre Behandlung in einer psychiatrischen Klinik benötigt?
Von Silvia Reisch
Im Rahmen eines zunehmend familienorientierten und präventiven Denkens hat sich die Psychiatrische Klinik Münsterlingen im Mai 2007 entschlossen, gemeinsame Behandlungsplätze für psychisch kranke Mütter beziehungsweise Väter und ihre Kinder anzubieten. Inzwischen stehen fünf ElternKind-Zimmer zur Verfügung, in denen Mütter/Väter aus dem Kanton Thurgau oder auch aus anderen Kantonen mit ihren Kleinkindern (bis zum 5. Lebensjahr) aufgenommen werden können*. Dem Behandlungsteam ist es ein grosses Anliegen, die fachübergreifenden Angebote so zu verbinden, um sowohl dem psychisch kranken Elternteil als auch den gleichzeitig hospitalisierten Kindern eine adäquate Begleitung und spezifische, individuell angepasste stationäre Therapie auf hohem Qualitätsniveau zu bieten. Nach langem Bemühen wird dieses Angebot seit Januar 2016 über die Krankenkassen finanziert.
Spezifische Indikation und klares Behandlungssetting
Entscheidend für die gemeinsame Hospitalisation ist die Fähigkeit der Eltern, sich ihrem Kind noch ausreichend zuwenden zu können (Abbildung 1). Selbstverständlich stehen die Mitarbeiter des Pflegeteams 24 Stunden für notwendige Unterstützungsangebote zur Verfügung, dennoch sollen die Eltern die zentralen Bezugspersonen bleiben. Wenn dies nicht möglich ist, beispielsweise bei akuter Psychose oder akuter Suizidalität, wird eine gemeinsame Hospitalisation zum Wohl des Kindes in Münsterlingen nicht angeboten. Inhaltlich beruht das stationäre Behandlungsangebot auf einer interdisziplinären Zusammenarbeit von Kin-
* Ähnliche stationäre Mutter-Kind-Angebote gibt es beispielsweise auch an der Klinik Affoltern (Kanton Zürich), Klinik Beverin (Kanton Graubünden) und an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (Kanton Zürich).
der- und Jugendpsychiatrie, Erwachsenenpsychiatrie und Pädiatrie. Aus Forschungen zu Vulnerabilität und Resilienz (1) ist bekannt, dass betroffene Kinder gehäuft auch eigene Verhaltensauffälligkeiten oder psychische Probleme entwickeln können. Vor diesem Hintergrund werden alle Kinder zu Beginn der Behandlung im Rahmen einer differenzierten Diagnostik sowohl pädiatrisch als auch kinderpsychiatrisch untersucht (Abbildung 2). Ein Hauptziel der gemeinsamen Behandlung ist der Erhalt oder der Aufbau einer guten Eltern-Kind-Beziehung, was durch spezifische Eltern-Kind-Therapieangebote (z.B. VIT nach G. Downing [2], PCIT nach W. Briegel [3]) gefördert wird.
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Abbildung 1: Hauptdiagnosegruppen der Mütter bei Eintritt an der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen (2007 bis 2013)
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Abbildung 2: Verteilung der kindlichen Diagnosen nach Alter bei Eintritt an der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen (2007 bis 2013)
Für die stationär behandelten Elternteile steht das psychotherapeutische Behandlungsangebot der Erwachsenenpsychiatrie zur Verfügung (Einzelpsychotherapie, Gruppentherapien, Musik-, Bewegungs-, Gestaltungstherapie, Entspannungsverfahren und TCM), für die Kinder bei Bedarf verschiedene Kindertherapieangebote (Spieltherapie, Musiktherapie, diverse Fördertherapien). Die Pädiatrie ergänzt das Angebot durch regelmässige Visiten und die Behandlung allfälliger somatischer Probleme. Neben den therapeutischen Angeboten ist für die Kinder die tägliche Kinderbetreuung in einer kleinen Kindergruppe mit einer konstanten Bezugsperson (Kleinkinderzieherin) ein zentraler Baustein des stationären Aufenthaltes. Die Kinder widmen sich in dieser Kindergruppe altersadäquaten Beschäftigungen und bauen ihre Sozialkompetenz aus. Die Mütter/Väter können in dieser Zeit im Wissen um eine gute Betreuung ihrer Kinder entspannt die eigenen Therapien wahrnehmen. Neben den spezifischen Therapie- und Betreuungsangeboten arbeitet unser Pflegepersonal und eine Sozialpädagogin im 24-Stunden-Alltag auf Station im Sinne eines «interactional coaching» gezielt mit den Patienten an individuellen Zielen, beispielsweise der adäquaten Begleitung der Einschlaf- oder Essenssituation, dem Erlernen gemeinsamen Spielens oder der Reduktion von Impulsdurchbrüchen im Alltag. Selbstverständlich ist auch der Einbezug der Väter oder anderer wichtiger Bezugspersonen im Umfeld des Kindes. Durch regelmässigen Austausch des gesamten Teams und die Therapieplanung werden die patientenspezifischen Inhalte aus den einzelnen Therapien im Sinne des integrativen psychoanalytischen Behandlungskonzeptes nach Jannssen (4) zusammengetragen und den Patienten rückgemeldet. Interdisziplinär werden therapeutische Schwerpunkte auf den drei Ebenen Psychotherapie der Patientin, indizierte Therapieangebote für das Kleinkind und Therapie der Eltern-Kind-Beziehung festgelegt.
Behandlungsverläufe
Die durchschnittliche Behandlungsdauer liegt bei drei Monaten. Nach unserer bisherigen klinischen Erfahrung zeigt sich eine weitere positive Entwicklung der Kinder oder sogar deren rasche psychische Stabilisierung. Seitens der Eltern beobachten wir häufig eine Beschleunigung der Gesundung. Durch die gemeinsame Behandlung der Mütter/Väter und Kleinkinder haben wir die Möglichkeit, deren Beziehung direkt und im sozialen Kontext der Station zu fördern, wodurch eine positive Eltern-Kind-Bindung erhalten und/oder aufgebaut werden kann. Die einzelnen Behandlungsmodule ergänzen sich thematisch und greifen ineinander über. Im Sinne systemischer Theorien beeinflussen intrapsychische Veränderungen beim Kind/dem Elternteil direkt deren Beziehung, aber auch die intrapsychische Verfassung des Elternteils/des Kindes beziehungseweise das gesamtfamiliäre System. Wenn es den Eltern gelingt, im Umgang mit ihrem Kind wieder positive Gefühle und elterliche Kompetenz zu erfahren, steigt die Bereitschaft, elterliche Projektionen und dysfunktionale Interaktionsmuster zu erkennen und zu verändern, rasant. Letzteres hat wiederum grosse Auswirkungen auf die Beziehungsgestaltung der Eltern im Umgang mit anderen Erwachsenen und verändert nicht zuletzt auch die Beziehungsmuster der Elternpaare nachhaltig.
Fallbeispiel
Im folgenden Fallbeispiel soll das theoretische Stationskonzept anhand von Frau K. (29 Jahre) und ihrer Tochter Anna (7 Monate) veranschaulicht werden. Auf dem Hintergrund einer differenzierten Diagnostik wurde bei der alleinerziehenden Mutter eine schwere depressive Episode festgestellt. Das Kind litt unter einer reaktiven Bindungsstörung (F 94.1) und einer Fütterstörung im frühen Kindesalter (F 98.2). Im Rahmen einer ausgeprägten Mutter-Kind-Interaktionsstörung vor dem Hintergrund eines Status nach Frühgeburt in der 27. Schwangerschaftswoche mit einem Geburtsgewicht von 910 Gramm war Anna bei Eintritt ein sieben Monate altes Kind, das auf Reize, insbesondere akustische Reize, ängstlich und erschrocken reagierte. Mimisch war sie initial eher zurückhaltend. Sie war motorisch aktiv, mit starkem Tonus. Sie zeigte wenig Lautgebung bis auf Schreien bei Unwohlsein. Sie verfügte über ausgeprägte Fähigkeiten zur Selbstregulation und suchte wenig Kontakt zu Bindungspersonen. In der Mutter-Kind-Interaktion zeigte sich die Mutter dem Kind verbal wie auch nonverbal gegenüber häufig aggressiv und abwertend, dominant, auf die Fütterungsthematik eingeengt, was vor dem Hintergrund der Geschichte als Frühgeborenes und einer eher rigiden Persönlichkeitsstruktur der Mutter zu verstehen war. Die Mutter verfügte in ihrem depressiven Zustand über eine mangelnde affektive Spiegelung der intrapsychischen Verfassung des Kindes und benutzte wenig begleitende Sprache. Die Mutter erhielt rasch eine intensive Psychotherapie und auch Antidepressiva. Die Zeit, in welcher Anna in der Kindergruppe betreut wurde, nutzte die Mutter neben den eigenen
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Therapien für Spaziergänge und Erholung. Anna wurde pädiatrisch untersucht und als der Frühgeburt entsprechend normal entwickelt und nicht mangelernährt beurteilt, was für die Mutter sehr wichtig war. Über eine hochfrequente Mutter-Kind-Therapie und sozialpädagogische Begleitung im Alltag konnten zuerst die Füttersituationen deutlich verbessert werden. Zudem gelang es der Mutter über das Lesenlernen der kindlichen Signale zunehmend feinfühliger mit ihrer Tochter umzugehen. Wechselseitiger interaktiver Austausch nahm während der Behandlung unter engmaschiger Begleitung unseres Fachpersonals stetig zu. Die Mutter begann ihre Tochter auch über das Füttern hinaus wahrzunehmen und das Zusammensein mit ihr zu geniessen. Die Depression bildete sich im Verlauf stark zurück, ihre rigide Persönlichkeitsstruktur bestand weiterhin, aber mit ihrem Kind konnte sie nun deutlich weniger rigide und streng interagieren. Bei Austritt hatte die Mutter die Depression überwunden, die Fütterstörung beim Kind war behoben und die Mutter-Kind-Beziehung war wesentlich stabiler. Anna verhielt sich im Kontakt altersadäquat, war emotional ausgeglichener, der psychomotorische Tonus entspannter; sie suchte nun adäquat Kontakt zu ihren Bezugspersonen, insbesondere auch zu ihrer Mutter. Solche und ähnliche Behandlungsverläufe dürfen wir auf der Eltern-Kind-Station in Münsterlingen täglich begleiten. Daneben sind viele Mütter aber auch einfach dankbar, einen stationären Behandlungsort gefunden zu haben, an welchen sie ihr Kind mitnehmen dürfen.
Eine schwer depressive Mutter eines zweijährigen Mädchens, welche nach der Geburt bis zum Klinikeintritt keine Beziehung zu ihrer Tochter aufbauen konnte, drückte ihre Gefühle am Ende des stationären Aufenthaltes so aus: «Dadurch, dass ich meine Tochter mitnehmen konnte, habe ich hier mein zweites Wochenbett erlebt. Durch diese Behandlung geht es mir viel besser und ich habe endlich meine Tochter lieben gelernt.»
Korrespondenzadresse: Dr. med. Silvia Reisch LÄ Eltern-Kind-Station Psychiatrische Klinik Münsterlingen Seeblickstrasse 3, Postfach 154 8596 Münsterlingen E-Mail: silvia.reisch@stgag.ch
Literatur: 1. Mattejat F, Wüthrich C, Remschmidt H: Kinder psychisch kranker Eltern. Nervenarzt 2000; 71: 164–172. 2. Downing G, Ziegenhain U: Besonderheiten der Beratung und Therapie bei jugendlichen Müttern und ihren Säuglingen – die Bedeutung von Bindungstheorie und videogestützter Intervention. In Suess GJ, Scheuerer-Englisch H, Pfeifer H (Hrsg.): Bindungstheorie und Familiendynamik. Giessen, Psychosozialer Verlag 2001; 271–295. 3. Briegel W: Parent Child Interaction Therapy (PCIT): Eine praktische Einführung in die Grundlagen. 13. Würzburger Fachtagung, Universität Würzburg 2011. 4. Janssen PL: Psychoanalytische Therapie in der Klinik. Klett-Cotta, Stuttgart, 1987; 133–138.
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5. Internationale Konferenz zu Familien und Kindern mit psychisch belasteten Eltern 5ème conférence internationale sur les familles et les enfants dont les parents souffrent de troubles psychiques
17. –19.8.2016
Congress Center Basel
Keynotes
Clemens Hosman Nijmegen Manfred Cierpka Heidelberg Joanne Nicholson Worcester Astrid Stuckelberger Genève Harald Freyberger Greifswald
Guy Bodenmann Zürich Elisabeth Binder München Heleen Riper Amsterdam
Paul Hoff Zürich