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SCHWERPUNKT
Gutachten zur Erziehungsfähigkeit
Wann werden Gutachter tätig, und was ist dabei zu bedenken?
Gutachten helfen Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) oder Familienrichtern, darüber zu befinden, ob die psychische Erkrankung eines Elternteils das Kindeswohl gefährdet oder nicht. Wir sprachen mit Dr. Revital Ludewig über die Kriterien der Erziehungsfähigkeit und die Rolle der Gutachter. Ludewig ist Leiterin der Fachstelle Begutachtung, Beratung und Familienrecht am sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ), Kantonsspital Winterthur.
Die psychische Erkrankung eines Elternteils bedeutet nicht per se, dass das Kindeswohl gefährdet ist.
Dauer und Schwere psychischer Erkrankungen sind sehr unterschiedlich, ebenso deren Implikationen für die Kinder.
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P ÄDIATRIE: Frau Dr. Ludewig, nach welchen Kriterien wird die Erziehungsfähigkeit psychisch kranker Eltern beurteilt? Dr. phil. Revital Ludewig: Im Grunde sind es die gleichen Kriterien wie bei psychisch gesunden Eltern. Es geht um die Frage, ob die Eltern beziehungsweise ein Elternteil über die nötigen Kompetenzen verfügt, um die Grundbedürfnisse des Kindes abzudecken. Es sind im Wesentlichen fünf Kompetenzen, nämlich die Fähigkeit und Bereitschaft, als Bindungsperson für das Kind zu fungieren, die Bedürfnisse und Signale des Kindes zu erkennen und angemessen auf sie zu reagieren, Werte und Regeln zu vermitteln, dem Kind Wertschätzung entgegenzubringen sowie Kontinuität in Erziehung, Beziehung und Umfeld zu sichern.
Welche psychischen Erkrankungen stellen die Erziehungsfähigkeit infrage? Ludewig: Zunächst einmal bedeutet die psychische Erkrankung eines Elternteils nicht per se, dass das Kindeswohl gefährdet ist. Die Dauer und die Schwere psychischer Erkrankungen sind sehr unterschiedlich, ebenso deren Implikationen für die Kinder. Leichte Depressionen sind zum Beispiel nicht mit einer Gefährdung des Kindeswohls verbunden. Das Gleiche gilt für die posttraumatische Belastungsstörung eines Elternteils. Die Eltern, die ein Trauma erlebt haben, leiden sehr darunter und sind eher und schneller besorgt und ängstlich. Sie äussern ihre Ängste in Gesprächen mit den Kindern und Fachpersonen, was verständlich ist. Dass sie ihr Kind deswegen gefährden, ist nicht zu erwarten. Man darf also nicht generalisieren und allzu schnelle falsche Schlüsse ziehen.
Aber es gibt doch sicher psychische Erkrankungen, bei denen keine Erziehungsfähigkeit mehr besteht, oder? Ludewig: Man kann davon ausgehen, dass die Erziehungsfähigkeit bei Schizophrenie, in der Phase eines
psychotischen Schubes, mit Sicherheit nicht gegeben ist. Der Elternteil leidet zum Beispiel an Verfolgungswahn und lässt das Kind nicht mehr aus dem Haus, versteckt sich mit dem Kind im Keller. Wir hatten einen Fall, bei dem das Kind drei Jahre lang die psychotischen Zustände der alleinerziehenden Mutter verheimlichte, weil es Angst hatte, ins Heim gehen zu müssen. Erst als es in der Schule zu Mobbing gekommen ist, hat das Kind dem Therapeuten über die psychotischen Zustände der Mutter erzählt. Doch auch bei Psychosen muss die Analyse der Erziehungsfähigkeit genauer durchgeführt werden: Es gibt Personen, die in einer sehr schwierigen Phase ihres Lebens einmal einen psychotischen Schub haben, dann aber nie mehr. Bei anderen wiederum kommt es immer wieder zu solchen Schüben. Den genauen Verlauf kennen wir von vornherein nicht: Wird die Mutter nach drei bis vier Monaten wieder stabil und nie wieder psychotisch sein, oder handelt es sich um eine chronische Schizophrenie? Klar ist allerdings, dass eine Mutter mit chronischer Schizophrenie nicht für ihr Kind zuständig sein kann. Eine weitere Gruppe von Personen, bei denen die Erziehungsfähigkeit stark eingeschränkt sein kann, sind Borderline-Patienten. Mütter mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung wollen ihrem Kind viel Liebe geben. Zugleich benötigen sie selber viel Zuwendung, emotionale positive Zuwendung, die sie vom Kind erwarten. Darum kann es zum Beispiel in der Trotzphase, wenn das Kind Grenzen prüft oder sich aggressiv verhält, schwierig für die Mutter werden, ihre eigenen Bedürfnisse zurückzustecken und auf die Bedürfnisse des Kindes adäquat einzugehen. Das gelingt im Übrigen auch psychisch gesunden Müttern verständlicherweise nicht immer lückenlos, aber bei einer Borderline-Störung ist dies häufiger der Fall.
Sie sprachen gerade nur von Müttern. Gilt das denn nicht gleichermassen für die Väter? Ludewig: Selbstverständlich gilt das gleichermassen
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für die Väter. In der Praxis sehen wir aber im Zusammenhang mit fraglicher Erziehungsfähigkeit sehr viel häufiger psychisch kranke Mütter– einfach aus dem Grund, weil psychisch kranke Mütter häufig alleinerziehend sind. Bei Vätern ist dies selten der Fall.
Was kann der Kinderarzt tun, wenn er den Verdacht einer psychischen Erkrankung der Eltern hat? Ludewig: Wenn der Kinderarzt das Gefühl hat, es könnte etwas nicht stimmen, sollte er dieses Gefühl ernst nehmen. Er steckt allerdings in einem Dilemma: Jemand kommt freiwillig zu ihm, macht sich Sorgen um das Kind, und er nimmt etwas Verdächtiges wahr. Wird ihm etwas verheimlicht oder nicht? Er ist sich nicht sicher. Wenn er sich nun an die KESB wendet, wird ein «Fall» daraus – aber vielleicht war da ja gar nichts. Dann hat er als Arzt Leid über die Familie gebracht. Tut er aber nichts und das Kind ist tatsächlich gefährdet, wird er sich Vorwürfe machen. Insgesamt ist es dem Arzt bewusst: Auch wenn mit der Meldung an die KESB dem Kind geholfen wird, kann diese Meldung bedeutet, dass das Kind eine zentrale Bezugsperson verlieren und schmerzhafte Veränderungen erleben wird.
Was kann ihm bei der Entscheidung helfen? Ludewig: Wir haben Schwierigkeiten bei Entscheidungen, wenn wir nicht genug gesichertes Wissen haben. Das ist nicht nur das Problem des Kinderarztes, sondern zum Teil auch die Schwierigkeit, vor der die KESB und die Gerichte stehen. Um mehr zu erfahren, kann der Kinderarzt mit den Eltern sprechen, indem er ihnen «eine Brücke baut» und Hilfe anbietet, etwa in dem Stil: «Kann es sein, dass es auch einmal mit den Kindern schwierig ist? Ich weiss, Sie lieben Ihr Kind, kann ich Ihnen helfen?» Die Frage ist, ob der Arzt intensiv mit den Eltern arbeiten will und kann und nicht zuletzt, ob er überhaupt die Zeit dafür hat. Er wird sich vermutlich auch vertraulich im Kollegenkreis besprechen beziehungsweise Kontakt mit ärztlichen Kinderschutzgruppen aufnehmen, die es an einigen Spitälern gibt.
Könnte er mit der KESB sprechen, ohne dass gleich ein «Fall» daraus wird? Ludewig: Nein, in der Regel nicht, denn sobald er die KESB informiert, ist diese verpflichtet, der Sache nachzugehen. Mit der Gefährdungsmeldung gibt er die Verantwortung an die KESB ab. Der Arzt könnte aber mit einer Kinderschutzgruppe an einem Spital Kontakt aufnehmen und sich beraten lassen, ohne dass diese Besprechung gleich zu einem offiziellen Fall wird.
Könnte er sich direkt an Sie in Ihrer Eigenschaft als Gutachterin wenden? Ludewig: Nein, wir können gutachterliche Aufträge nur von staatlicher Seite übernehmen, also von einer KESB oder einem Gericht. Kinderärzte können sich an uns wenden, wenn es um Beratung oder Therapien geht, aber nicht mit einem Gutachtenauftrag. Im Rahmen der Begutachtung lesen wir oft Berichte von Kinderärzten. Und hier habe ich eine grosse Bitte an die
Kinderärzte: Wenn man als Arzt einen Bericht über einen Sachverhalt niederschreibt beziehungsweise über einen Verdacht aufgrund der Auskunft von Drittpersonen – wenn zum Beispiel die Kindsmutter berichtet, der Vater habe das Kind verletzt –, sollte der Arzt den Verdacht so nüchtern und genau beschreiben wie irgend möglich und nicht als unumstössliche Tatsache, wenn er nicht absolut sicher wissen kann, ob der geschilderte Sachverhalt tatsächlich stimmt.
Ein Beispiel bitte! Ludewig: Nehmen wir einmal an, eine Mutter sagt dem Kinderarzt, ihr Mann habe sie vor den Augen des Kindes verprügelt und deswegen sei das Kind traumatisiert. Wenn der Kinderarzt nun in seinen Bericht schreibt: «Der Vater hat die Mutter schwer geschlagen, und darum ist das Kind traumatisiert», macht er aus der subjektiven, geschilderten Wahrheit der Mutter sozusagen eine «objektive Wahrheit», obwohl er gar nicht wissen kann, ob es tatsächlich so war. Auch wenn er der Mutter glaubt, sollte er den Sachverhalt möglichst objektiv beschreiben, zum Beispiel so: «Die Mutter berichtet, dass der Vater sie schwer geschlagen habe und darum sei das Kind aus ihrer Sicht traumatisiert.»
Das scheint mir etwas spitzfindig … Ludewig: Nein, das ist es nicht. Der Unterschied zwischen subjektiver und objektiver Wahrheit ist für das Verfahren entscheidend. In der Therapie und in der ärztlichen Behandlung geht es um die subjektive Wahrheit des Klienten: Der junge Patient, das Kind oder der Jugendliche fühlt sich zum Beispiel von den Eltern missverstanden, nicht fair behandelt. Das kann und soll das Kind äussern. Wenn der Patient erlebte Beleidigungen oder erlebte Schmerzen schildert, wird der Arzt diese als Gegebenheiten beziehungsweise als die Wahrheit des Patienten notieren, also als die subjektive Wahrheit des Kindes. Und das ist ja auch richtig so. Bei der KESB oder vor Gericht geht es aber um die objektive Wahrheit, in dem Sinne, dass untersucht werden soll, ob der Vater die Mutter tatsächlich geschlagen hat. Bei der Begutachtung kann das, was der Arzt niedergeschrieben hat, Implikationen für Drittpersonen haben. In unserem Beispiel für den Vater.
Der Arzt müsste also erst die objektive Wahrheit ermitteln? Ludewig: Nein, das ist weder seine Aufgabe, noch hat er dazu Zeit oder Mittel. Er sollte aber die Sicht des Jugendlichen oder das Gespräch mit der Mutter genau beschreiben und notieren, dass er die Sicht der Mutter oder die des Kindes beschreibt und eben nicht die objektive Wahrheit.
Man könnte aber auch argumentieren, dass der Arzt die Gefährdung nicht gar zu nüchtern schildern sollte, denn er hilft dem Kind vielleicht eher, wenn er sich zu dessen Anwalt macht. Was meinen Sie? Ludewig: Es ist leichter, als Fachperson parteiisch zu sein, aber das ist nicht immer das Beste für das Kind. Parteiisch zu sein, bedeutet, dass man annimmt, eine
Wenn der Kinderarzt das Gefühl hat, es könnte etwas nicht stimmen, sollte er dieses Gefühl ernst nehmen.
Sobald die KESB informiert ist, muss diese der Sache nachgehen.
Wenn man als Arzt einen Sachverhalt niederschreibt, sollte man das so objektiv wie irgend möglich tun.
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Es ist leichter, als Fachperson parteiisch zu sein, aber das ist nicht immer das Beste für das Kind.
In der Regel ist es gut, wenn möglichst viele Beteiligte das Gutachten selbst lesen.
Partei sei die richtige Seite und habe das richtige Anliegen, während die andere Partei die falsche Seite darstellt und im Unrecht ist. Doch bei einem Kind psychisch kranker Eltern sind die Eltern für das Kind nie die falsche Seite, sondern eben aufgrund ihrer Erkrankung für eine Weile oder dauerhaft in ihren elterlichen Kompetenzen beeinträchtigt. Wichtig bleiben sie auch dann für das Kind. Sie sind damit nicht eine feindliche Gegenpartei, sondern eine – hoffentlich nur für eine eher kurze Zeit – beeinträchtigte wichtige Bezugsperson.
Wie läuft die Erstellung eines Gutachtens ab? Ludewig: Vor der Bestellung eines offiziellen Gutachtens gibt es eine niederschwellige Möglichkeit. Wir beraten KESB oder Gerichte auch bei der Entscheidung, ob etwas wirklich ein «Fall» ist oder nicht. Viele vermeintliche Fälle lassen sich so bereits im Vorfeld auflösen. Ein offizielles Gutachten erstellen wir im Auftrag von KESB oder Gerichten. Nach dem Aktenstudium laden wir die Eltern und die Kinder ein, mit denen wir zuerst Einzelgespräche, danach Eltern-Kind-Gespräche sowie Interaktionsbeobachtungen durchführen. Weiterhin führen wir Gespräch mit den beteiligten Fachpersonen. Je nach Fall werden auch Hausbesuche durchgeführt. Wie es im Detail abläuft, ist von Fall zu Fall verschieden. Die Arbeit am Gutachten dauert im Durchschnitt etwa drei bis vier Monate.
Dürfen alle Beteiligten das Gutachten lesen? Ludewig: In der Regel, ja. Manchmal sprechen Datenschutzgründe dagegen, oder man will nicht noch mehr Öl ins Feuer giessen, wenn die beteiligten Parteien ohnehin schon völlig zerstritten sind. Wir sprechen auf Anfrage eine Empfehlung aus, wer das Gutachten lesen darf und wer eher nicht. Entschieden wird das aber durch die Auftraggeber, also KESB oder Gericht. Wir haben die Erfahrung, dass es in der Regel gut ist, wenn möglichst viele Beteiligte das Gutachten selbst lesen, damit alle verstehen, wie wir zu unseren Schlussfolgerungen gekommen sind. Wir empfehlen auch, dass der Richter das Gutachten den Beteiligten erläutert.
Werden Sie als Gutachterin auch mündlich befragt? Ludewig: Das Gutachten wird immer schriftlich abgegeben. Wenn man uns einlädt, erläutern wir das Gutachten gerne mündlich vor Gericht oder bei der KESB. Das ist immer wieder der Fall. Diese Entwicklung begrüsse ich.
Halten sich die Gerichte an die Empfehlungen der Gutachter? Ludewig: Das Gutachten ist nur eine Empfehlung für das Gericht, auch wenn es das Schlagwort vom Gutachter als heimlichem Richter gibt. Das Gericht muss das Gutachten bezüglich der Plausibilität überprüfen. Wenn das Gutachten plausibel ist, wird die Empfehlung meistens von Gericht oder KESB übernommen. Letztlich trägt aber das Gericht die rechtliche Verantwortung für den Fall und die Massnahmen.
Woran sollte man in Bezug auf psychisch kranke Eltern immer denken? Ludewig: Es sollte allen Beteiligten klar sein, dass psychische Erkrankungen sehr komplex sind und sich über die Zeit immer wieder verändern. Auch sollten wir die Ressourcen der Eltern erkennen, mit ihnen zusammenarbeiten und nicht in eine Situation «Eltern gegen Kinder» geraten. Wir haben zwei Verpflichtungen: Wir müssen die Kinder schützen, aber auch den Eltern helfen. Das Wohl des Kindes hat viele Komponenten, und das ist das Schwierige bei der Suche nach der bestmöglichen Lösung für die vielschichtigen Probleme.
Wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Dr. Renate Bonifer.
Literaturtipp: Ludewig R, Baumer S, Salzgeber J, Häfeli C, Albermann K: Richterliche und behördliche Entscheidungsfindung zwischen Kindeswohl und Elternwohl: Erziehungsfähigkeit bei Familien mit einem psychisch kranken Elternteil. FAMPra.ch 2015; 3: 562–622.
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