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SCHWERPUNKT
Glutensensitivität, Weizenallergie oder Zöliakie?
Unterschiede und Gemeinsamkeiten bei Getreideunverträglichkeiten
Glutenfreie Ernährung – einst nur bei Zöliakie ein Muss – gilt vielen heutzutage als Allheilmittel nicht nur gegen gastrointestinale Beschwerden. Doch was bedeutet Glutensensitivität wirklich und worin unterscheidet sie sich von einer Lebensmittelallergie oder der Zöliakie? Die wesentlichen Punkte einer kürzlich in «Gastroenterology» publizierten Übersichtsarbeit werden in diesem Artikel zusammengefasst und kommentiert.
W enn Gluten oder glutenhaltige Getreideprodukte, vor allem aus Weizen, zu gastrointestinalen Beschwerden führen, bei denen es sich weder um eine Lebensmittelallergie noch um eine Zöliakie handelt, wird dies in der Fachliteratur als nicht zöliakiebedingte Glutensensitivität (NCGS: non celiac gluten sensitivity) bezeichnet. Die NCGS ist keine neue «Entdeckung». Bereits 1978 berichteten Ellis und Linaker in «The Lancet» von einer Patientin mit typischen Symptomen, für die keine Ursache gefunden werden konnte, welche jedoch bereits nach wenigen Tagen glutenfreier Diät verschwanden. Danach geriet das Phänomen in Fachkreisen wieder in Vergessenheit. Heutzutage gilt NCGS als eigenes Krankheitsbild unter einer Reihe glutenassoziierter Erkrankungen (Tabelle1), die sich in ihrem Pathomechanismus erheblich voneinander unterscheiden; auch scheint die NCGS nicht auf gastrointestinale Symptome beschränkt zu sein.
Welche Rolle spielt das Immunsystem bei NCGS?
Sowohl die Autoimmunerkrankung Zöliakie als auch die Weizenallergie werden durch das adaptive Immunsystem vermittelt. In beiden Fällen werden durch das Gluten spezifische T-Lymphozyten in der Darmschleimhaut aktiviert; bezüglich Antikörperprofil und weiterer immunologischer Reaktionen gibt es jedoch Unterschiede. Bei einer Zöliakie finden sich die typischen Antikörper gegen körpereigene Strukturen: gegen Gewebstransglutaminase Typ 2 (TG2), gegen Endomysium (EMA) sowie gegen deaminierte Formen von Gliadinpeptiden (DPG). Bei einer Weizenallergie kommt es hingegen zu den für eine Lebensmittelallergie typischen Reaktionen: Immunglobulin E wird durch repetitiven Aminosäuresequenzen des Glutens kreuzvernetzt, was zur Ausschüttung allergietypischer Mediatoren wie Histamin durch basophilen Granulozyten und Mastzellen führt.
Anders bei NCGS: Die Symptome nach dem Genuss glutenhaltiger Lebensmittel ähneln zwar denjenigen einer Zöliakie, es kommt jedoch weder zum Auftreten typischer Autoantikörper noch zu einer Schädigung der Darmschleimhaut. Man nimmt an, dass bei NCGS – anders als bei der Zöliakie oder der Allergie – das «unspezifische», angeborene Immunsystem beteiligt ist, nämlich Granulozyten, Makrophagen und natürliche Killerzellen (NK-Zellen) sowie humorale Faktoren wie das Komplementsystem. Tabelle 2 fasst Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Glutensensitivität, Weizenallergie und Zöliakie zusammen.
Diagnose NCGS
NCGS ist eine Ausschlussdiagnose, wenn weder eine Zöliakie noch eine Weizenallergie nachgewiesen werden kann und die Symptome bei glutenfreier Ernährung rasch verschwinden. Die Symptome einer NCGS treten typischerweise innert Stunden oder Tagen nach dem Genuss glutenhaltiger Getreideprodukte auf. Die gastrointestinalen
Tabelle 1: Klassifikation glutenassoziierter Erkrankungen
Autoimmun: • Zöliakie (symptomatisch, larviert, potenziell) • Gluten-Ataxie (neurologische Störungen bei Patienten mit Zöliakie-Antikörperprofil) • Dermatitis herpertiformis
Allergisch: • Weizenallergie respiratorische Allergie, Lebensmittelallergie, WDEIA (wheat depen-
dent excercise induced anaphylaxis), Kontakturtikaria
Weder autoimmun noch allergisch: • nicht zöliakiebedingte Glutensensitivität (NCGS)
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SCHWERPUNKT
Tabelle 2: Zöliakie, Weizenallergie und Glutensensitivität im Vergleich
Zöliakie
Dauer zwischen Glutenkonsum und Symptomen Pathogenese
HLA
Tage bis Wochen
autoimmun (adaptives Immunsystem) HLA DQ2/8-abhängig
Autoantikörper Enteropathie Symptome
Komplikationen Komorbidität
fast immer vorhanden fast immer vorhanden intestinal und extraintestinal langfristig ja
Weizenallergie Minuten bis Stunden
Glutensensitivität (NCGS) Stunden bis Tage
allergisch (adaptives Immunsystem) nicht HLA DQ2/8abhängig nein nein1 intestinal und extraintestinal kurzfristig (Anaphylaxie) nein
angeborenes Immunsystem (?) nicht HLA DQ2/8abhängig nein nein2 intestinal und extraintestinal langfristig (?) ja
1 Eosinophile in Lamia propria 2 leichter Anstieg der intraepithelialen Lymphozyten
Symptome sind ähnlich wie beim Reizdarmsyndrom (IBS): Bauchschmerzen, Blähungen, Flatulenz und irreguläre Darmmotilität. Anders als bei IBS schildern manche NCGS-Patienten auch nicht gastrointestinale Symptome wie Kopfschmerzen oder Migräne, Benommenheit, chronische Müdigkeit, Gelenk- und Muskelschmerzen, Kribbeln oder Taubheit in Armen und Beinen, Ekzeme, Anämie oder Depressionen. Es gibt Fallberichte über Patienten mit psychiatrischen, neurologischen oder allergischen Erkrankungen, de-
ren Symptome durch glutenfreie Ernährung gelindert worden sein sollen. Welche physiologischen Mechanismen diesen Phänomenen zugrunde liegen könnte, ist jedoch noch völlig unklar. Ebenfalls fehlen verlässliche Angaben zur Prävalenz der NCGS in der Allgemeinbevölkerung. In einer Kohorte mit 916 Kindern in Neuseeland hatten 1 Prozent der Kinder eine diagnostizierte Zöliakie und bei 5 Prozent der Kinder wurde Gluten in der Ernährung vermieden – ob zu Recht oder nicht, ist allerdings unbekannt. In der US-amerikanischen NHANES-Kohorte (National Health and Nutrition Examination Survey) berichteten nur 0,55 Prozent der Teilnehmer, dass sie sich glutenfrei ernähren würden. Falls man davon ausgeht, dass sich unter den Reizdarmpatienten ein gewisser Anteil mit NCGS befindet, sei jedoch sicher von einer höheren Prävalenz auszugehen, schreiben die Autoren der Übersichtsarbeit, denn in Nordeuropa liegt die IBS-Prävalenz bei 16 bis 25 Prozent.
Ist wirklich das Gluten an allem schuld?
Die lästigen Symptome einer NCGS ähneln denjenigen, die auch nach dem Verzehr sogenannter FODMAP als typische Reizdarmsymptome auftreten. FODMAP sind kurzkettige Kohlenhydrate und Polyole, die bei einem individuell mehr oder weniger stark ausgeprägten Mangel im Enzymprofil der Darmflora von Darmbakterien nicht abgebaut, sondern lediglich «vergoren» werden. Wenn Reizdarmpatienten auf FODMAP-reiche Nahrungsmittel verzichten, gehen die Symptome zurück (FODMAP: fermentable oligo-,
KOMMENTAR Vorgehen in der Praxis
Die Übersichtsarbeit von Fasano et al. gibt uns einen guten Einblick in die nicht zöliakiebedingte Glutensensitivität (NCGS: non celiac gluten sensitivity). 2011 wurde NCGS durch ein Expertenpanel als «a non-allergic and non-autoimmune condition in which the consumption of gluten can lead to symptoms similar to those seen in celiac disease» definiert (1). Die NCGS scheint ein heterogenes Phänomen zu sein, mit verschiedenen und potenziell sich überlappenden Subtypen (2). Mehrere Subtypen implizieren multiple mögliche Mechanismen, und dies gilt wohl auch für die NCGS. Sapone et al. beschrieben NCGS als eine «inflammatory condition mostly supported by innate immune mechanisms», welche sich von der Zöliakie und der Weizenallergie unterscheidet. In-vitro-Evidenz deutet darauf hin, dass schlecht verdaute Weizenproteine, bekannt als Amylase-Trypsin-Inhibitoren, womöglich eine Antwort des angeborenen Immunsystems triggern (3). Veränderungen des intestinalen Mikrobioms spielen wohl auch eine Rolle bei der NCGS und schliesslich auch die sogenannten Fruktane. Was bedeutet nun diese Review für den praktischen Alltag in der Beratung unserer Patienten? Biomarker stehen uns nicht zur Verfügung. Folgendes Vorgehen entspricht der Praxis des Kommentators bei Verdacht auf NCGS. Es handelt sich lediglich um eine Expertenmeinung und das Vorgehen wurde bisher nicht in einer Studie validiert:
1. Ausschluss einer Zöliakie mittels Messung von Endomysium-IgA- und Gewebetransglutaminase-IgA-Antikörpern, allenfalls Dünndarmzottenbiopsie.
2. Ausschluss anderer Nahrungstrigger, wie FODMAP oder vom Patienten vermutete Nahrungsmittel.
3. Zeitlich begrenzte glutenfreie Ernährung, falls sich Symptome nicht gebessert oder aufgehört haben, nachdem andere Nahrungsmitteltrigger vermieden wurden (Punkt 2).
4. Verblindete Gluten-Reexpositionen, falls Symptome nach glutenfreier Ernährung (Punkt 3) verschwunden sind.
5. Re-Expositionen mit Gluten, um einen allfälligen Schwellenwert zu bestimmen.
PD Dr. med. Raoul I. Furlano, Universitätskinderspital beider Basel
1. Mansueto P et al.: Non-celiac gluten sensitivity: literature review. J Am Coll Nutr 2014; 33 (1): 39–54. 2. Catassi C et al.: Non-celiac gluten sensitivity: the new frontier of gluten related disorders. Nutrients 2013; 5 (10): 3839–3853. 3. Sapone A et al.: Divergence of gut permeability and mucosal immune gene expression in two gluten-associated conditions: celiac disease and gluten sensitivity. BMC Med 2011; 9: 23. 4. Carroccio A et al.: Non-celiac wheat sensitivity as an allergic condition: personal experience and narrative review. Am J Gastroenterol 2013;108 (12): 1845–1852.
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SCHWERPUNKT
di- and monosaccharides and polyols; weitere Informationen und eine Nahrungsmitteltabelle siehe Seite 10 in dieser Ausgabe der PÄDIATRIE). NCGS und IBS seien aber nicht dasselbe, so die Autoren der Übersichtsarbeit, auch wenn es einige Gemeinsamkeiten gebe und IBS-Patienten auch NCGS haben können beziehungweise umgekehrt. Bei den Beschwerden durch FODMAP handelt es sich um eine Intoleranz (weil die Enzyme fehlen, um diese Stoffe abzubauen), während das NCGS eine immunologisch bedingte (Weizen-)Sensitivität darstellt. Möglicherweise spielen andere Getreidebestandteile für das NCGS sogar eine bedeutendere Rolle als das Gluten, nämlich die sogenannten ATI (alpha-AmylaseTrypsin-Inhibitoren). ATI sind natürliche Pflanzeninhaltsstoffe, die die Pflanze vor Frassfeinden schützen. Tabelle 3 fasst die Daten zu Gluten und ATI als Inhaltsstoffe verschiedener Pflanzenklassen zusammen. In Laborexperimenten zeigte sich, dass ATI das unspezifische, angeborene Immunsystem aktivieren. Das Protein moderner Weizensorten besteht zu 2 bis 4 Prozent aus ATI (Gluten 80–90%), bei einem Glutenverzicht wegen NCGS werden gleichzeitig auch die ATI vermieden.
Tabelle 3: Hauptquellen für ATI und Gluten
Lebensmittel Weizen, Roggen, Gerste Sojabohnen, Buchweizen, Erbsen
Amaranth, Reis, Mais, Kartoffeln
ATI-Bioaktivität hoch mittel (2–10% der glutenhaltigen Fasern) niedrig (< 2% der glutenhaltigen Fasern) Glutengehalt hoch niedrig niedrig ATI: alpha-Amylase-Trypsin-Inhibitoren (Pflanzeninhaltsstoffe, welche diese vor Insektenfrass etc. schützen) Welche Getreidebestandteile bei NCGS nun aber tatsächlich die grösste Rolle spielen – ATI oder Gluten oder andere – ist eine noch offene Frage. Renate Bonifer Quelle: Fasano A, Sapone A, Zevallos V, Schuppan D: Nonceliac gluten and wheat sensitivity. Gastroenterology 2015; 148: 1195–1204. 2/16 13